Ungarn "Dreckskerl" und "Mundgeruch" - Beleidigungen als Orbáns neue Strategie?
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19. Dezember 2024, 16:46 Uhr
Eine Begegnung zwischen dem Fidesz-Pressesprecher Tamás Menczer und dem Oppositionspolitiker Péter Magyar, die in persönlichen Beleidigungen mündete, sorgt in Ungarn für Aufsehen. Sie zeigt den eklatanten Verfall der politischen Kultur im Land – und lässt für die Zeit bis zu den Parlamentswahlen 2026 nichts Gutes ahnen. Da Magyar die Macht des rechtspopulistischen Premiers Viktor Orbán tatsächlich gefährden könnte, wird der Wahlkampf wohl schmutzig.
Es waren wirklich erstaunliche Szenen, die sich am 3. Dezember in Pécs abspielten: Péter Magyar, Vorsitzender der oppositionellen Tisza-Partei, war zu einem von der Presse begleiteten Besuch in einem Kinderheim angekommen, als er vom Kommunikationsleiter der Fidesz-KNDP-Fraktion, Tamás Menczer, vor dem Eingang abgefangen wurde. Der darauf folgende Wortwechsel zwischen den beiden Spitzenpolitikern ist seit Tagen das Thema im politischen Ungarn.
"Kleiner", "lügender Dreckskerl", "Mundgeruch"
Menczer, der auch für Fidesz im Parlament sitzt, ging sofort auf Magyar los: Er duzte seinen Kontrahenten, rückte ihm auch körperlich sehr dicht auf den Leib und griff ihn auf persönlicher Ebene an: "Wir sind hier zu zweit, nur du und ich, jetzt kann dir keiner helfen", "Ich bin hier, damit Du endlich mal mit einem Mann sprichst", und "Du hast deine Familie verraten!", und immer wieder "Kleiner!", sagte Menczer in Bezug auf Magyars Körpergröße und seine öffentlich ausgetragene Scheidung von der ehemaligen Justizministerin Judit Varga (Fidesz). Diese hatte Magyar beschuldigt, sie während der Ehe körperlich angegriffen zu haben.
Auf Menczers ausfälliges Verhalten hin versuchte Magyar zunächst, höflich zu bleiben und mit seinem von der Presse begleiteten Besuch fortzufahren. Als Magyar darauf hinwies, dass hier dreijährige Kinder leben würden, um die es eigentlich gehe, konterte Menczer "Man muss Kinder vor Dir schützen!". Da riss auch Magyar der Geduldsfaden, und er sagte zu Menczer, der ihn immer noch bedrängte: "Putzen Sie sich die Zähne, Sie stinken aus dem Mund!".
Vollkommen absurd wurde die Situation, als die Umstehenden ein bekanntes Liebeslied anstimmten und auch Magyar mit einfiel, während der Fidesz-Politiker ihn weiterhin beschimpfte: "Du bist ein lügender Dreckskerl!". Magyar hatte bereits früher auf Veranstaltungen oder in Interviews dieses Lied zum Besten gegeben. Es handelt von einem Strafgefangenen, der seine Liebe hinter Gefängnismauern besingt, und soll vermutlich suggerieren, dass man trotz der schwierigen Umstände einen Weg der Liebe beschreiten werde.
Die ganze unappetitliche Begegnung zwischen Menczer und Magyar dauerte rund eine halbe Stunde, in deren Verlauf Letzterer seinen Kontrahenten einfach aus dem Bild schob, um mit seinem Termin fortfahren zu können. Das Ganze wurde live gestreamt und kann heute noch nachgesehen werden.
Provokation auf "Kneipenniveau"
Seither wird der Zwischenfall im Land breit diskutiert. Eine Frage, die viele stellen, ist: Warum fährt der Fidesz-Pressesprecher zu einem Pressetermin eines Oppositionspolitikers nach Südungarn, um ihn vor laufenden Kameras derart übel zu beschimpfen? Ist er gar auf Viktor Orbáns Geheiß dort hingefahren, weil Magyars Tisza-Partei in den Umfragen deutlich vor der im letzten Jahrzehnt alles dominierenden Fidesz liegt?
Der Politikwissenschaftler Gábor Törok versuchte auf Facebook folgende Deutung: "Ich glaube, ich weiß, was das Ziel der Fidesz hier gewesen sein könnte: Péter Magyar zu provozieren, ihn zu einem Fehler zu zwingen, ihn auf jeden Fall in den Dreck zu ziehen. Daraus ist ein politik-historischer Moment geworden, denn ein solcher 'Lass uns vor die Tür gehen'-Auftritt auf Kneipenniveau wurde noch nie von einem ungarischen Politiker absichtlich inszeniert."
Auch Zoltán Lakner glaubt, dass Menczer versucht hat, den als hitzköpfig bekannten Magyar zu einer unüberlegten Reaktion zu provozieren. Auf 444.hu sagte der Politologe: "Die Aufgabe, für die er (Menczer) hingegangen ist, hat er nicht erfüllt. Es ist nichts passiert, das Magyar in einem Licht erscheinen ließe, dass er seine Gefühle nicht beherrschen kann. Er hat nicht die Fassung verloren, hat nicht geflucht, wir haben nichts dergleichen auf den Aufnahmen gehört. Stattdessen hat et nur Dinge gesagt, die Menczer lächerlich machen." Lakner glaubt, dass dieses Manöver entlarvt habe, wie verzweifelt die Partei von Viktor Orbán versucht, dem in der Bevölkerung beliebten Magyar zu schaden.
Ob Ministerpräsident Viktor Orbán diese Aktion direkt beauftragt hat, ist nicht bekannt. Sicher ist aber, dass er sie gutgeheißen hat. In einem Interview auf Kossuth Radio versuchte er, Magyars Tisza-Partei als den wahren Aggressor darzustellen, der von der EU – Orbáns derzeitigem Lieblingsfeind – "geschickt" worden sei. Tisza habe einen aggressiven Stil, der nicht auf Dialog gerichtet sei, sondern andere "abbürsten" würde. Er, Orbán, finde das "abstoßend". "Unser Pressesprecher Tamás Menczer hat diese schrecklich unangenehme aggressive Politik und ihren Repräsentanten gestellt und ihnen Einhalt geboten. Gut so!", so Orbán.
Vergiftetes politisches Klima
Allerdings war das politische Klima in Ungarn schon lange vergiftet, bevor Péter Magyar und seine Tisza-Partei auf der Bildfläche erschienen. Bereits 2015 verursachte der damalige Leiter der Staatskanzlei, János Lazár, einen Skandal, als er eine Anfrage einer Abgeordneten der Opposition im Parlament mit einer offen sexistischen Bemerkung abbürstete und bei seiner "Entschuldigung" noch einmal nachlegte – unter dem Hohngelächter der (männlichen) Fidesz-Abgeordneten. Politische Konsequenzen: Keine.
Und als die Schülerin Blanca Nagy 2018 auf einer Kundgebung gegen ein von der Fidesz eingebrachtes Überstundengesetz, das damals Massenproteste auslöste, eine vielbeachtete, weil mit Schimpfworten gespickte Rede hielt, schoss sich die regierungsfreundliche Presse auf die damals 18-Jährige ein: Es folgten sexistische Kommentare, Beschimpfungen und Falschmeldungen zu ihrem angeblichen schulischen Versagen. Ein regierungsfreundlicher Blog verbreitete sogar Bilder, bei denen man der jungen Frau unter den Rock fotografiert hatte. Unter diesen Umständen überlegen es sich viele Menschen zweimal, ob sie die Regierung kritisieren und sich einer solchen Kampagne aussetzen wollen.
Eine besonders unrühmliche Rolle im politischen Diskurs spielt der Publizist Zsolt Bayer, ein Gründungs-Mitglied des regierenden Fidesz und ein Freund von Viktor Orbán. Bayer ist berüchtigt für seine verbalen Ausfälle, seien sie rassistisch, homophob, antisemitisch oder sexistisch. Politische Gegner werden regelmäßig unflätig beschimpft. So nannte er Roma "Tiere", eine EU-Abgeordnete eine "Idiotin mit Krätze", Blanka Nagy eine "dreckige Proletin" und den Papst einen "dementen Greis". Dieses Verhalten hielt die Regierung Orbán nicht davon ab, ihn mit dem Ritterkreuz des ungarischen Verdienstordens auszuzeichnen – woraufhin zahlreiche andere Ordensträger ihre Auszeichnung aus Protest zurückgaben.
Auch sonst wird im politischen Betrieb in Ungarn recht offen gehetzt: gegen Geflüchtete, gegen queere Menschen, gegen NGOs und engagierte Bürgerinnen – und immer wieder gegen Oppositionspolitiker. Auch die Plakatkampagnen der Regierung standen deshalb immer wieder in der Kritik – unter anderem wegen Antisemitismus. So hatten die Plakate Politiker der Opposition als Marionetten des ungarisch-stämmigen jüdischen Investors George Soros gezeigt.
Neue Kommunikationsstrategie der Regierungspartei?
Inzwischen haben sich auch Menczer und Magyar noch einmal geäußert. Menczer legte nach und betonte, er sei "stärker" als Magyar und werde es immer sein. Magyar dagegen rief Orbán dazu auf, seinen "Schläger" zurückzupfeifen, und bedankte sich für die Spenden und die Unterstützung, die seine Partei seit dem Zwischenfall erfahren hatte.
"Zweifellos ist hier eine neue Ebene der politischen Kommunikation erreicht", schreibt der freie Journalist Szabolcs Dull mit Blick auf den Vorfall auf seinem Blog. Zwar hätte die Fidesz schon früher Kampagnen gegen Oppositionspolitiker gefahren, aber dabei habe sie immer darauf geachtet, diese über die regierungsfreundlichen Medien zu führen, um die Partei selbst sauber zu halten. Dass nun der Pressesprecher der Partei persönlich solche Angriffe führt, sei neu. Dull zitiert eine Quelle innerhalb der Partei: "Das war nur das Vorspiel, das Beste kommt noch." Die Ungarn können also wohl noch mit weiteren Entgleisungen ihrer Spitzenpolitiker rechnen. Denn bis zu den Parlamentswahlen 2026 ist es noch ein weiter Weg.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 16. November 2024 | 07:17 Uhr