Menschen protestieren auf der Straße in Belgrad 1 min
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In ganz Serbien gehen Studenten auf die Straße und demonstrieren für mehr Rechtsstaatlichkeit. Über 40 Fakultäten im ganzen Land schind schon besetzt. Viele Bürger schließen sich den Demonstranten an.

MDR+ Mi 11.12.2024 16:08Uhr 00:30 min

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Serbische Führung unter Druck Serbien: Kräftemessen zwischen Studenten und Staatsführung

14. Dezember 2024, 05:37 Uhr

In Serbien nehmen die Spannungen zwischen Bürgern und Regierung nach dem Bahnhofseinsturz von Novi Sad Anfang November zu. Aktuell sind es vor allem Studenten, die entschlossen sind, etwas im Land zu verändern.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Tijana (23) hat die Nacht auf Samstag an der Fakultät für Politikwissenschaften in Belgrad verbracht. Es ist eine von fast 40 Fakultäten an Unis in vier serbischen Städten, die Studenten besetzt haben und dort den Unterricht blockieren. Und fast täglich "fallen" weitere Fakultäten im ganzen Land. "Der Status der Bürger im serbischen Staatssystem hängt von ihrer politischen Überzeugung ab. Da gibt es keine Gerechtigkeit", erklärt die Studentin ihre Teilnahme.

Auslöser für die derzeitigen Proteste ist der Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad am 1. November. Bei dem Unglück in der Hauptstadt der nordserbischen Provinz Vojvodina starben 15 Menschen. Dem Schock folgte die Trauer, der Trauer die Wut vieler Bürger.

Die ideologisch sehr bunte parlamentarische Opposition war sich einig: Das sei "kein Unglücksfall, sondern Mord" gewesen, weil es eine Folge der "Inkompetenz und endemischer Korruption" gewesen sei. Zwei Minister traten nach dem verhängnisvollen Unglück zurück, dreizehn Menschen wurden im Zusammenhang damit verhaftet. Doch das reichte nicht mehr aus.

Der Slogan "Ihr habt Blut an den Händen" hallt nun wie ein Kampfruf durchs ganze Land, das Symbol der blutigen Hand ist das neue Banner der Opposition, die Proteste gegen das "korrupte Regime" organisiert.

Menschen protestieren mit serbischer Flagge
Demonstration nach dem Bahnhofsunglück von Novi Sad. Bildrechte: picture alliance / Anadolu | Filip Stevanovic

Infiltrierte Schläger auf Demonstrationen

Videoaufnahmen belegen, dass sich Schlägertrupps der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) unter die Demonstranten gemischt haben. Sie sorgten für Krawalle, die wiederum der Opposition angelastet wurden, einige Menschen wurden verhaftet. Dann rief die Opposition die Bürger zu Aktionen unter dem Motto "15 Minuten für 15 Opfer" auf – dabei wird an den jeweiligen Orten der Verkehr kurzfristig blockiert. Auch diese Aktionen störten Provokateure, die aufgrund von Videoaufnahmen und Fotos, die Bürgeraktivisten gemacht haben, schnell als SNS-Mitglieder identifiziert werden konnten. Alles "business as usual" in der serbischen Politik.

Doch dann wurden Ende November bei einer dieser kurzen Protest- und Gedenkaktionen Studenten der Film- und Theaterfakultät in Belgrad verprügelt. Die Studenten hatten daraufhin die Nase voll, blockierten ihre Fakultät und forderten, dass die vom Vučić-System eingesetzten Angreifer verhaftet werden sollen. Ihre Forderungen sandten sie den Medien zu.

Verhaftungen und Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit

Studenten anderer Fakultäten folgten ihrem Beispiel und stellten zwei zusätzliche Bedingungen: Die bei Protesten Verhafteten müssten freigelassen, alle geheim gehaltenen Unterlagen rund um den Bahnhofsumbau in Novi Sad öffentlich gemacht werden. 

Studenten demonstrieren den Eingangsbereich der Universität in Belgrad
Studentinnen und Studenten blockieren in Belgrad die Fakultät für Politikwissenschaften. Bildrechte: Andrej Ivanji/MDR

"Blockaden sind in diesem Moment das einzige Mittel, um die Aufmerksamkeit der Machthaber auf die sehr konkreten und gerechtfertigten Forderungen der Studenten zu lenken", sagt Studentin Tijana. Doch da gehe es um viel mehr. Wenn Studenten, die an Protesten teilnehmen, grundlos verhaftet würden, und dank der zahlreichen Videoaufnahmen längst identifizierte Schläger über dem Gesetz stünden, könne man wirklich nicht mehr vom Rechtsstaat in Serbien reden, sagt Tijana.

Studenten vs. Staatsführung

"Die Studenten kämpfen für politische Freiheit, sie widersetzen sich den Lügen des maroden Regimes", sagt der Philosoph und Journalist Ivan Milenković im Gespräch mit dem MDR. Er glaube nicht, dass sich der "serbische Autokrat", Staatspräsident Aleksandar Vučić, vor dem Studentenprotest, der sich wie ein Lauffeuer verbreitet, zurückziehen werde und fürchtet, der Staat könne sogar mit Gewalt gegen die jungen Menschen vorgehen.

Denn, "die von außen so stabil erscheinende Autokratie, die so tief in ihren eigenen Untaten versunken ist, so unfähig zu allem, außer zu Destruktivität, kann schneller auseinanderfallen, als man glaubt", sagt Milenković. Die Blockaden der Fakultäten sieht er als "eine Medizin, die die schwer erkrankte serbische Gesellschaft heilen könnte". Denn die Studenten verlangen Rechtsstaatlichkeit in einem Staat, in dem nur noch der Wille des Staatspräsidenten zähle.

Aleksandar Vučić, Präsident Serbien
Nach den letzten Wahlen 2023 kritisierte auch das Europaparlament, dass die Grenzen zwischen Aleksandar Vučićs SNS-Partei und dem serbischen Staat verschwimmen würden. Bildrechte: IMAGO / Le Pictorium

Vučić: Studenten wollen ihrem Land schaden

Serbiens Präsident Vučić findet keine andere Antwort auf die Proteste als die protestierenden jungen Menschen als "ausländische Söldner" zu bezeichnen, die für eine Handvoll Dollar über ihren Staat herfallen würden. Die Rufmordmaschinerie der regierungsnahen – einige sagen gleichgeschalteten – Medien wie des TV-Senders Pink und den Boulevardzeitungen Informer und Kurir läuft auf Hochtouren. Die jüngste Behauptung der Regimepropagandisten lautet, der kroatische Geheimdienst stehe hinter dem Aufruhr der serbischen Studenten.

Tijana lächelt nur über die absurden Beschuldigungen der regierungsnahen Presse und zuckt mit den Achseln. "Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob unsere Blockaden das System verändern können, aber sie haben das Potential dazu. Vorausgesetzt wir behalten den Druck bei, und der Trend geht weiterhin in Richtung einer steigenden Zahl von blockierten Fakultäten und die Verwaltungen der Fakultäten stellen sich am Ende hinter ihre Studenten", sagt die Studentin.

Machtfülle Aleksandar Vučićs mit den Jahren gewachsen

Im Laufe von zwölf Jahren wurde Aleksandar Vučić erst als Regierungschef und dann als Staatspräsident immer mächtiger. "Er zertrampelte Schritt für Schritt Verfassung und Gesetze, stellte staatliche Institutionen und Medien unter seine Kontrolle", sagt der Chefredakteur des serbischen Wochenmagazins "Vreme" Filip Svarm.

In seinen Kolumnen geht es oft darum, wie Vučić die stets zerstrittene Opposition über ein Jahrzehnt lang in der Bedeutungslosigkeit verschwinden ließ, wie er sporadische, zum Teil massive Bürgerproteste, zu neutralisieren wusste.

Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000 nach Studentenprotesten

Allerdings erinnert die Situation jetzt an die Studentenproteste in Serbien 1996/1997, die später zum Sturz des damaligen Staatspräsidenten Slobodan Milošević geführt haben.

Mehr als zweitausend Professoren und Wissenschaftler haben mittlerweile eine Petition zur Unterstützung der Studenten unterschrieben. Auch das Rektorat der Universität Belgrad stellte sich offen hinter die Studenten. Schauspieler des serbischen Nationaltheaters unterstützten ihre jungen Kollegen an der Schauspielakademie.

Zum ersten Mal seit er an der Macht ist, scheint Aleksandar Vučić ratlos zu sein. Nach seinen derben Beleidigungen, die offenbar nur noch mehr Studenten motivierten sich dem Protest anzuschließen, änderte das System Vučić die Taktik: Am Montag wurden die Blockaden der Fakultäten in den Abendnachrichten im Staatsfernsehen mit keinem Wort erwähnt. Man versucht es jetzt mit Totschweigen, in der Hoffnung, dass der Protest während der Winterferien Anfang Januar abflaut.

MDR (usc)

Mitarbeiter von Rettungsdiensten inspizieren das eingestürzte Dach eines Bahnhofs. 5 min
Mitarbeiter von Rettungsdiensten inspizieren das eingestürzte Dach eines Bahnhofs. Bildrechte: picture alliance/dpa/Interior Ministry of Serbia/AP | -

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