Rumänien: Sehnsucht nach der Ceausescu-Diktatur
Hauptinhalt
22. Dezember 2024, 05:00 Uhr
Am 22. Dezember 1989 flüchtete Diktator Nicolae Ceausescu mit seiner Frau vor den Protesten in Rumänien. Kurze Zeit später wurden beide festgenommen und am ersten Weihnachtsfeiertag zum Tode verurteilt und hingerichtet. Heute gibt in Umfragen fast die Hälfte der Menschen im Land an, vor 1989 besser gelebt zu haben. Woher rührt die Nostalgie?
Eliza Rosescu will in 36 Stunden mehr zur Geschichte des Kommunismus und des Ceausescu-Regimes erfahren. "Ich möchte die Fakten kennen und nicht nur das, was meine Eltern mir erzählen", sagt die Abiturientin am Gymnasium in Topoloveni über ihren fakultativen Workshop. Im Pflichtlehrplan der zwölften Klasse sind für diesen Teil der jüngeren rumänischen Geschichte lediglich drei Stunden vorgesehen. Zu wenig, um bei der Materie wirklich in die Tiefe zu gehen, meint Rosescu. Schließlich kennt die 18-Jährige die Ceausescu-Diktatur nur vom Hörensagen. Eine Menge ihrer Landsleute würde den Diktator bis heute "für einen echten Patrioten halten", erzählt die Schülerin, da wolle sie kontern können.
Geschichtslehrer Daniel Serafimescu kennt das Narrativ von den großen Errungenschaften aus der Ceausescu-Zeit, das gern in Rumänien erzählt wird: Dass damals ein Großteil der Schwerindustrie in Rumänien geschaffen wurde, dass jeder einen Job zugewiesen bekam und in den Großstädten zahlreiche Wohnblocks entstanden. "Der Preis, den das Volk dafür zahlte, wird dabei völlig ausgeblendet", sagt der Lehrer, der im Workshop auch über das andere Gesicht des Ceausescu-Regimes sprechen will. Nachdem das Land 1981 zahlungsunfähig war, hielt der Diktator die energiefressende Schwerindustrie am Laufen, indem er beim Volk sparte: Die festgelegte Temperatur für Wohnungen betrug im Winter zwölf Grad, oft lag sie darunter. Strom gab es nur wenige Stunden pro Tag. Grundnahrungsmittel wurden rationiert.
Lehrer Daniel Serafimescu weiß, dass sich seine Schüler nur noch schwer die Schrecken der Diktatur vorstellen können. Er versucht sie gedanklich abzuholen: "Ich sage immer, würde Euch jemand Eure Handys verbieten, würdet Ihr sofort wissen, was Verzicht bedeutet."
Viele Todesfälle weiter ungeklärt
Rumäniens Revolution, die sich in diesen Tagen zum 35. Mal jährt, war der einzige gewaltsame Umsturz in Osteuropa. Über die Dezembertage von 1989 sagt Historiker Bogdan Murgescu: "Wer damals auf die Straße ging, bewies großen Mut. Man konnte nicht wissen, ob man lebendig oder tot nach Hause zurückkehren würde". Diktator Nicolae Ceausescu ließ die Straßenproteste, die ab Mitte Dezember im westrumänischen Timisoara begannen, mit Waffengewalt niederschlagen. Doch die Wut der Menschen gegen ihren Diktator war stärker: In mehreren Städten - auch in Bukarest - flammten Proteste auf, Ceausescu trat die Flucht an und wurde wenig später verhaftet.
Über 1.100 Menschen starben in chaotischen Straßenkämpfen, angeheizt durch eine Menge Falschnachrichten, die jene streuten, die nach dem Ceausescu-Sturz die Macht übernahmen. In vielen Fällen ist bis heute unklar, wer die Todesschützen waren und wer nach der Flucht des Diktators noch auf dessen Seite kämpfte.
Erst Weihnachten 1989, als die Bilder der Hinrichtung des Diktatoren-Ehepaares um die Welt gingen, ebbten die Kämpfe ab. Viele Rumänen sprechen heute von einer "gestohlenen Revolution" oder einer "Putscholution", weil es keinen Eliten-Wechsel gab, sondern hochrangige Kader der Kommunistischen Partei und Ceausescu-Getreue die Macht übernahmen. Dass heute – 35 Jahre später – in Umfragen fast jeder Zweite findet, im Ceausescu-Regime besser gelebt zu haben, verwundert Historiker Bogdan Murgescu nicht: "Wer mit dem Jetzt und Heute unzufrieden ist, sagt eben, früher war alles besser."
Zu wenig Geld für ein menschenwürdiges Leben
Den Wirtschaftsdaten zufolge ist Rumänien seit langem auf Erfolgskurs. Das osteuropäische Land zählt derzeit zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in Europa. Das Pro-Kopf-Einkommen ist nach Angaben des Internationalen Währungsfonds seit 1989 auf fast das Neunfache gestiegen.
Doch der neue Wohlstand ist längst nicht bei allen angekommen. Der Mindestlohn liegt derzeit bei 4,50 Euro die Stunde, im Monat ergibt das in etwa 480 Euro netto. Gut ein Viertel aller Beschäftigten muss damit über die Runden kommen. Für ein menschenwürdiges Leben bräuchte man aber doppelt so viel Geld, besagen Berechnungen der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bukarest. Die niedrigen Einkommen haben seit Jahren zu einer starken Abwanderung geführt, schätzungsweise bis zu fünf Millionen Rumänen leben im Ausland, ein Viertel der Gesamtbevölkerung.
Geschrumpfte Stadt soll sich neu erfinden
Viele Orte, vor allem im ländlichen Raum in Rumänien, sind stark geschrumpft, wie das westrumänische Anina. Die frühere Bergarbeiterstadt hat seit der 1989er-Revolution fast 75 Prozent ihrer Einwohner verloren. 2006 schloss hier die letzte Grube. Cristian Gropsian wird nostalgisch, wenn er zur geschlossenen Zeche geht. Er betreut ihren Umbau zum Museum. Die EU schießt Mittel dazu, damit sich die Stadt neu erfindet. Gropsian war bis 2006 Elektriker im Bergwerk, schon sein Vater hat unter Tage gearbeitet. Früher seien sie alle in Anina "absolut unpolitisch" gewesen, erzählt Gropsian, weil es "den Bergarbeitern an nichts gefehlt hat".
In der Ceausescu-Zeit stellte Anina die Energieversorgung des Landes sicher. Die Bergarbeiter wurden – anders als der Rest des Landes – ausreichend mit Lebensmitteln versorgt. Selbst Jeans und Farbfernseher gab es, sagt Gropsian. Er trauere der Ceausescu-Zeit nicht nach, doch habe es damals mehr Zusammenhalt gegeben: "Heute schaut man neidisch auf den Nachbarn, weil der eine mehr als der andere hat. Früher waren dagegen alle gleich."
Rechtspopulistische Parteien im Aufwind
Vom Wirtschaftsboom der rumänischen Großstädte ist in Anina nichts zu spüren. Die Stadt hängt am Tropf der Zentralregierung, weil ihr mit dem Verlust von Jobs die Steuereinnahmen fehlen. Der öffentliche Nahverkehr wurde zurückgefahren, die Post und das Krankenhaus geschlossen. Vielen anderen Kommunen im ländlichen Raum geht es ähnlich.
"Ein Teil der Wähler fühlt sich von den herkömmlichen Parteien seit langem dort mit ihren Problemen im Stich gelassen", sagt der Bukarester Politikwissenschaftler Andrei Taranu. Die Politikverdrossenheit ist entsprechend hoch, seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung. Doch bei der Parlamentswahl Anfang Dezember beteiligten sich wieder besonders viele Wähler: Gut ein Drittel stimmte für rechtspopulistische Parteien, die ihnen Würde, Anerkennung und soziale Gerechtigkeit versprechen. Die Antwort, wie genau sie dieses Verspechen einlösen wollen, bleiben sie indes schuldig.
Ein Land im Krisenmodus
Die Präsidentschaftswahl wurde Anfang Dezember vom Verfassungsgericht annulliert, nachdem die rumänischen Geheimdienste Beweise für eine orchestrierte Cyberkampagne auf TikTok fanden, mit der der extrem rechte Präsidentschaftskandidat Calin Georgescu unerwartet viele Wähler für sich mobilisieren konnte. Nun steckt das Land im Krisenmodus und streitet darüber, ob die Annullierung richtig war. Noch gibt es keinen Wahltermin, auch wirken die etablierten Parteien als hätten sie keinen Plan, wie sie das Vertrauen der Wähler bis dahin wieder zurückgewinnen wollen.
Eliza Rosescu dagegen wird in wenigen Monaten ihr Abitur ablegen. Danach will sie studieren. Wo? Die Welt steht ihr offen. Sie sagt, das sei für sie eine der schönsten Freiheiten, die mit dem Umsturz von 1989 erreicht wurden.
MDR (tvm)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 21. Dezember 2024 | 07:19 Uhr