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Sozialleistungen Bürgergeld: Wie eine alleinerziehende Mutter kämpfen muss

16. Februar 2025, 05:00 Uhr

Das Bürgergeld sollte mehr Anreiz zum Arbeiten bei weniger Sanktionen geben. Dafür hatte die Ampel-Regierung Hartz IV abgeschafft. Die Sozialleistungen sind umstritten geblieben – und gerade jetzt, kurz vor der Bundestagswahl, rückt das Thema wieder in den Fokus. Doch wie geht es den Menschen, die Bürgergeld bekommen?

Die junge Mutter aus Leipzig hatte sich einiges vom Bürgergeld versprochen. Melanie ist alleinerziehend mit einem kranken Kind. Seit 2010 ist sie deshalb auf Sozialleistungen angewiesen. Später schloss die 34-Jährige eine Ausbildung ab – doch wegen der Folgen eines schweren Unfalls musste sie den Beruf aufgeben.  Dass im öffentlichen Diskurs Bürgergeldempfänger wie sie pauschal als faul abgestempelt werden, macht sie sauer.

Bürgergeldempfängerin
Melanie ist alleinerziehend mit einem kranken Kind und hat einen schweren Unfall erlebt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ein Weg aus dem Bürgergeldbezug heraus scheint für Melanie kaum möglich. Obwohl sie jung ist und eine Ausbildung zur Medienkauffrau abgeschlossen hat. Der Grund sei ein schwerer Busunfall im Jahr 2016: "Vier Rippenbrüche und der linke Lungenflügel war zusammengefallen", sagt Melanie. "Und nach 15 Stunden hatte man erst gemerkt, dass ich innere Blutungen hatte."

Bis heute kämpft Melanie täglich mit Schmerzen und psychischen Problemen, sagt sie. Ohne eine Pause im Liegen komme sie nicht durch den Tag. Dennoch fehle ihr das Arbeiten, weil es ihr Freude bereitet habe – etwa durch positives Feedback von Kunden.

Der Vorwurf: Bürgergeld-Empfänger sind faul

Den Vorwurf, dass Bürgergeld Faulsein fördere, kann Steffen Strykowski nicht bestätigen. Er ist seit 14 Jahren Fallmanager beim Jobcenter Halle und kümmert sich vor allem um schwer vermittelbare Menschen unter 25. Doch Einzelfälle gebe es immer, die vor ihm säßen und behaupteten, dass ihnen das Geld zustehen würde. Egal ob zu Zeiten von Hartz IV oder jetzt mit Bürgergeld.

Das sei falsch, so der Fallmanager, und entgegnet ein Beispiel: "Was soll ich einer jungen Mutti mit zwei Kindern sagen, die in Teilzeit arbeiten geht? Wie soll ich der erklären, dass Sie keine Lust haben." Darauf wüssten seine Kunden dann keine Antwort mehr.

Veränderungen durch den Wechsel von Hartz IV auf Bürgergeld

Im Laufe der Jahre habe sich einiges verändert, erklärt Fallmanager Strykoski: "Früher waren Alkohol- und Drogenprobleme – insbesondere bei den U25 – größer. Heute sind die psychischen Probleme deutlich angestiegen. Das bestätigen alle Kollegen im Haus."

Die Menschen ändern sich nicht, die Probleme ändern sich nicht.

Steffen Strykowski Fallmanager im Jobcenter
Mann mit Brille.
Fallmanager Steffen Strykowski blickt pragmatisch auf den Wechsel zum Bürgergeld. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Auf den Wechsel zum Bürgergeld vor zwei Jahren blickt Strykowski dagegen pragmatisch: "Die Menschen ändern sich nicht, die Probleme ändern sich nicht." Hinzu komme, dass es auch auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt ankomme, wie viele Menschen sich vermitteln lassen. "Das ist nun mal so. Ansonsten glaube ich nicht, dass sich da viel ändert."

Finanzielle Planung mit Bürgergeld und Kindergeld

Melanie lebt mit ihrem Kind und ihrem Freund, der ebenfalls Bürgergeld bezieht, zusammen. Die Warmmiete zahlt das Jobcenter. Als Bedarfsgemeinschaft stehen ihnen 1.012 Euro vom Regelsatz zu. Für ihren 14-jährigen Sohn erhält Melanie Kindergeld und Unterhaltsvorschuss. Das gilt als Einkommen und wurde vom Jobcenter auf den Regelsatz angerechnet. Für zwei Erwachsene und einen Teenager haben sie am Ende 1.657 Euro zum Leben zur Verfügung.

Melanie muss mit dem wenigen Geld ganz genau planen. Das Kindergeld, welches auf das Bürgergeld angerechnet wird, kommt nicht Anfang des Monats. "Wir bekommen Mitte des Monats die 250 Euro. Das heißt, irgendwann ist das Geld aufgebraucht und dann, wenn das Kindergeld kommt, ist wieder Geld zur Verfügung", so die Alleinerziehende. "Bis dahin müssen wir immer eine gewisse Zeit überbrücken."

Wo kann beim Bürgergeld gespart werden?

Wenn es um das Bürgergeld geht, gebe es aber einen klaren Wahrnehmungsfehler von dem, was diese Grundsicherung eigentlich ist, findet Dr. Jan Gellermann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört.

"Das Bürgergeld bricht eben nicht mit der Vergangenheit, sondern bündelt eine Vielzahl an Reformelementen, die in den Jahren zuvor entwickelt und erprobt wurden", sagt Gellermann. "Der Punkt ist eigentlich, dass diese Gegensätzlichkeit von Hartz IV und Bürgergeld zu sehr konstruiert ist."

Als gescheitert sieht er das Bürgergeld nicht. Obwohl diese Auffassung während der Recherche von MDR Investigativ häufiger geäußert wurde. 2023 hatte das Bürgergeld gut neun Prozent des Bundeshaushaltes ausgemacht. Jetzt – im Bundestagswahlkampf – wird viel über mögliche Sparpotenziale bei der Grundsicherung diskutiert.

Gellermann hält dies nur eingeschränkt für umsetzbar: "Die allermeisten Leistungen zur Existenzsicherung sind ja gesetzlich festgelegt." Bei den Kosten für Unterkunft und Lebensunterhalt gelten fixe Regelsätze. Gespart werden könne dagegen bei Integrationsmaßnahmen oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit. "Und wenn das Geld weniger wird, aber ein Großteil festgelegt ist, dann bleibt nur, bei dem Eingliederungstitel zu sparen."

Wie viele Menschen beziehen Regelleistungen

Im Januar 2025 erhielten gut 5,4 Millionen Menschen Regelleistungen nach SGB II. Knapp 1,5 Millionen gelten als nicht erwerbsfähig. Zum Beispiel Kinder unter 15 Jahren. Von den übrigen 3,9 Millionen, die erwerbsfähig sind, stehen nicht alle problemlos dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, weil sie zum Beispiel Kinder erziehen oder eine Aus- oder Weiterbildung machen.

Von den theoretisch erwerbsfähigen bleiben somit am Ende circa 1,9 Millionen Menschen, die tatsächlich gar keiner Arbeit nachgehen und als "arbeitslos" gelten.

Für Melanie ist das Bürgergeld enttäuschend

Melanie gilt trotz ihrer Krankheit aktuell noch als arbeitsfähig – allerdings mit Einschränkungen. Dass manche ihr ihre Krankheit als Faulheit vorwerfen, macht sie traurig. "Da sagen wir vorurteilsmäßig: Die Person bekommt Bürgergeld. Die sieht doch normal aus. Die könnte doch arbeiten gehen. Das habe ich selber auch durch." Dass dahinter eine Krankheit oder andere Gründe stecken könnten, werde kaum gesehen.

Ende vergangenen Jahres hatte ihre Jobcenterberaterin ein medizinisches Gutachten angefordert. Daraus soll hervorgehen, unter welchen Bedingungen Melanie theoretisch arbeiten könnte.

Demnach könnte sie leichte Tätigkeiten im Stehen oder Gehen und über sechs Stunden täglich ausführen. Sitzen wäre nur zeitweise möglich. Damit ist ihre Arbeit als Medienkauffrau, die überwiegend im Büro stattfand, nicht mehr möglich. Außerdem sollte es keinen übermäßigen Zeitdruck und Stress geben.

Welche Arbeit bleibt dann noch?

Doch welche Arbeit bleibt dann? Ihre Beraterin habe zu Melanie gesagt: Wir kümmern uns um das Problem und dann ergänzt, dass, wenn keine Arbeit in Frage komme, es die Möglichkeit einer Erwerbsminderungsrente gebe.

Da ist viel versprochen worden, aber wenig bis gar nichts geleistet worden.

Melanie Ist auf Bürgergeld angewiesen

Rente mit 34 – damit wäre Melanie ein Leben an der Armutsgrenze sicher. Dabei hatte sie sich mit der Einführung des Bürgergeldes noch einmal Hoffnungen gemacht, dass Menschen in Krankheit dann leichter wieder Arbeit finden könnten. "Dass es nicht so viel Bürokratie gibt. Dass man mehr Unterstützung bekommt, zum Beispiel bei der Arbeitgebersuche auch. Und da ist viel versprochen worden, aber wenig bis gar nichts geleistet worden."

Melanie befürchtet, dass sich an ihrer Situation nicht viel ändern wird. Ein Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung könnte sie sich vorstellen, wenn es mit einer Arbeit nicht klappt. Allerdings nur, wenn es für ihre besondere Situation passt.

 

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