Hartz IV Überlastete Sozialgerichte: Wenn ein Urteil erst nach Jahren fällt

23. September 2023, 05:00 Uhr

Im Schnitt dauert es bis zu drei Jahre, bevor ein Verfahren am Sozialgericht in Leipzig abgeschlossen ist. An anderen Sozialgerichten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist das ähnlich. Die Gründe liegen in der Vergangenheit, können mit der derzeitigen Menge an Richtern nicht gelöst werden und die Pensionswelle steht unmittelbar bevor.

Von außen dröhnen die Maschinen der Baustelle an der Berliner Straße in das Büro von Katharina Paproth. Die 38-Jährige ist Richterin am Sozialgericht in Leipzig. Sie entscheidet vor allem in Streitigkeiten über Sozialleistungen – also über Hartz IV oder inzwischen Bürgergeld. Oft geht es dabei um kleinere Beträge, doch für die Kläger ist es das Geld für die teils essentiellsten Dinge zum Leben.

"Viele der Kläger müssen schon auch länger warten, als uns das lieb wäre", sagt Paproth, während sie an ihrem Computer sitzt. Neben ihr stapeln sich die zu bearbeitenden Akten. Die Richterin kann ein Urteil im Schnitt erst nach zwei bis drei Jahren fällen. Insgesamt sind alleine bei ihr noch 440 Fälle offen. Mit viel Mühe kann sie etwa 25 Verfahren pro Monat bearbeiten. Sie sieht kaum eine Möglichkeit, das Ganze zu beschleunigen.

"Ich würde sagen, dass alle Kollegen sich verpflichtet fühlen, richtige Urteile zu fällen. Und das bedeutet natürlich auch, dass wir keine Abstriche an der Qualität machen können", erklärt Paproth. Bei über 400 Verfahren könnten nicht alle auf einmal bearbeitet werden. Mit nur 200 Verfahren wäre das anders. "Dann könnte man viel mehr Verfahren zeitnah bearbeiten und die Qualität gleichzeitig hochhalten."

Viele Menschen halten Gerichte für überlastet

Auch Kläger sind mit der langen Wartezeit unzufrieden. Laut einer repräsentativen Befragung eines Rechtsschutzversicherers üben 80 Prozent der Bürger Kritik an der langen Verfahrensdauer an deutschen Gerichten. Drei Viertel halten zudem die Gerichte für überlastet.

An einem normalen Arbeitstag liest Richterin Paproth hunderte Seiten, beauftragt Gutachten und koordiniert Termine – mit Anwälten, Klägern und Behörden. An diesem Tag im September greift sie sich schließlich ihre Robe vom Kleiderständer. Im schwarzen Gewand läuft sie aus dem Büro in den Fahrstuhl und fährt einen Stock tiefer zu den Verhandlungsräumen. An zwei Wochen im Monat führt sie Verhandlungstage durch.

Man bekommt es eventuell nachbezahlt. Aber rückwirkend essen ist immer relativ schwierig.

Jens Müller Rechtsanwalt

Im ersten Fall fordert der Kläger vom Jobcenter Leistungen für seine Ehefrau, die das Amt nicht gewähren will. An die Öffentlichkeit will er nicht gehen. MDR Investigativ erfährt aber, dass er fast drei Jahre auf diesen Termin gewartet hat.

Sein Anwalt Jens Müller ist die langen Wartezeiten am Gericht gewöhnt. Für seine Mandanten, sagt er, seien diese ein Problem, denn oft ginge es für sie um Essentielles: "Gerade in der Grundsicherung, da geht es um Essen und Trinken." Das Geld fehle im normal weiterlaufenden Leben. "Man bekommt es eventuell nachbezahlt. Aber rückwirkend essen ist immer relativ schwierig."

Lange Wartezeiten auch in Dresden und Magdeburg

Eine Ursache für die lange Wartezeit ist die Klagewelle, die etwa die Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 nach sich gezogen hat. Dieser Rückstau konnte bis heute nicht wieder abgebaut werden. Das Anfang 2023 neu eingeführte Bürgergeld spielt am Sozialgericht in Leipzig noch keine Rolle.

Doch nicht nur in Leipzig ist die lange Verfahrensdauer ein Problem. Aus Sachsen und Sachsen-Anhalt konnte MDR Investigativ Zahlen zur durchschnittlichen Verfahrensdauer im Bereich des früheren Hartz IV erhalten. Daraus geht hervor: Auch an anderen Sozialgerichten müssen Kläger zuweilen länger warten.

In Dresden und Halle fällt ein Urteil durchschnittlich nach über zwei Jahren. Am längsten ist die Wartedauer in Magdeburg. Dort dauert es im Schnitt über drei Jahre. Am kürzesten warten Kläger in Chemnitz. Hier beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer etwas über ein Jahr. 

Doch das ist kein reines Problem der Sozialgerichte: Im Jahr 2022 lagen die Hälfte der Verfahren in Sachsen-Anhalt mindestens zwei Jahre an den Gerichten. In Sachsen waren es rund 35 Prozent und in Thüringen rund 24 Prozent.

Richterin muss oft Bescheide des Jobcenters erklären

Richterin Paproth sitzt wieder am Pult im Verhandlungsraum und spricht ins Mikro: "Es kommt zum Aufruf: Der Rechtsstreit gegen das Jobcenter Leipzig." Der Kläger in der zweiten Verhandlung an diesem Tag möchte anonym bleiben. Doch er erklärt, warum er vor das Sozialgericht gezogen ist.

Der Selbstständige hatte im Corona-Lockdown Arbeitslosengeld Zwei bekommen. Später forderte das Jobcenter einen Teil des Geldes zurück. Er ging in Widerspruch: "Im Prinzip habe ich keinen Durchblick gehabt, was die ganze Berechnung angeht, was mit berechnet werden darf, was nicht berechnet wird." Er habe nie ein richtiges Beratungsgespräch erhalten, kritisiert er das Jobcenter. "Im Prinzip geht es mir nur um ein aufklärendes Gespräch."

In diesem Fall zeigt sich, was Paproth oft begegnet: Sie muss in vielen Verhandlungen die Bescheide der Jobcenter erklären. Es ist Arbeit, die Zeit frisst. Dennoch ist der Richterin auch das wichtig: "Bei all den Möglichkeiten, die man in der Justiz hat, finde ich, sind wir beim Sozialgericht in einem Bereich, wo wir besonders schutzbedürftigen Menschen helfen können." Manchmal sei es auch einfach eine Unterstützung, die etwa durch Beratung geleistet werden kann. Manchmal könne sie den Menschen auch durch die Urteile weiterhelfen.

In diesem Fall ergibt die Verhandlung, dass der Unternehmer das Geld wahrscheinlich zurückzahlen muss. Im ersten Fall hatte der Kläger offenbar keine Aussicht auf Erfolg und zog deswegen seine Klage zurück.

Alte Verfahren spielen bei Personalbedarf keine Rolle

Am Sozialgericht kommt im Gegensatz zu anderen Gerichten noch eine Besonderheit hinzu, die Verfahren in die Länge zieht: Die Richter müssen Fakten und Beweise selbst ermitteln. Dabei ist Paproth etwa auf die Zuarbeit der Behörden und insbesondere des Jobcenters angewiesen. Manchmal dauere allein das Anfordern der Unterlagen bereits ein paar Monate – ähnlich kann es mit Gutachten gehen. Bei besonders komplexen Verfahren kann das zu langen Verzögerungen führen. Paproth schleppt noch Fälle aus dem Jahr 2016 mit.

Lange Verfahrensdauer, aufwendige Ermittlungsarbeit und viele Verfahren: Würde mehr Personal das Problem lösen? Laut Landesjustizministerium sind am Sozialgericht ausreichend Richter tätig. Doch der Präsident des Leipziger Gerichts, Michael Pies, sieht ein grundlegendes Problem: "Die Personalbedarfsberechnung, die ja bundesweit vereinheitlicht ist, greift auf die Verfahrenseingänge des letzten Jahres zurück." Das bedeute, die Verfahren, die bereits seit ein paar Jahren liegen, zählen dabei nicht.

Wenn morgen die Fee käme und würde mich fragen, ob ich mehr Personal gerne hätte, würde ich mir das natürlich wünschen.

Michael Pies Präsident Sozialgericht Leipzig

"Tatsächlich spielen sie aber im Arbeitsalltag des betroffenen Richters eine große Rolle. Sie fressen einfach Zeit", so Pies. "Also, wenn morgen die Fee käme und würde mich fragen, ob ich mehr Personal gerne hätte, würde ich mir das natürlich wünschen." Doch die Vorgaben seien andere und diese seien auch davon geprägt, dass dem Staat nur begrenzte, finanzielle Mittel zur Verfügung stünden.

Pensionswelle rollt auch auf Gerichte zu

In Zukunft könnte noch ein weiteres Problem die Aktenberge wachsen lassen. Am Sozialgericht in Leipzig sind die insgesamt 29 Richter im Schnitt über 50 Jahre alt. "Wir werden in den kommenden drei Jahren ungefähr ein Viertel unserer Kollegen in den Ruhestand entlassen", beschreibt Paproth das Problem. Das bedeute zum einen einen großen Verlust an Erfahrung.

Zum anderen: "Wir wissen nicht, ob jeder Kollege dann auch tatsächlich zeitnah ersetzt wird", so die junge Richterin, während sie bereits wieder vor ihrem PC sitzt. "Das ist aber unsere große Hoffnung und unser großer Wunsch, dass das passiert."

An diesem Tag konnte Paproth insgesamt vier Verfahren abschließen. Über 400 Verfahren liegen nach wie vor auf ihrem Tisch. Trotz viel Einsatz wird sich daran kaum etwas ändern. Denn es kommen fast so viele Verfahren jeden Monat rein wie abgearbeitet werden können. Für viele Kläger bedeutet das vor allem eines: warten.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 13. September 2023 | 20:15 Uhr

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