Poträtfoto des Militärexperten Ralph Thiele
Oberst a.D. Ralph Thiele ist ein erfahrener Verteidigungs- und Sicherheitsexperte. In seiner früheren militärischen Laufbahn war er unter anderem im Planungsstab des deutschen Verteidigungsministers tätig. Bildrechte: privat

Bundeswehr Militärexperte: "Ohne Wehrpflicht hat Deutschland im Verteidigungsfall ein Mengenproblem"

12. Juni 2024, 10:00 Uhr

In Deutschland denken viele, dass es keine Wehrpflicht mehr gibt. Dabei ist sie seit 2011 nur ausgesetzt. Lange Zeit fanden das auch die meisten in Ordnung. Doch seit Russland die Ukraine überfallen hat, scheint sich der Wind zu drehen. Fragen wie "Wer verteidigt uns im Ernstfall?" und "Sollte die Wehrpflicht reaktiviert werden?" stehen im Raum. MDR SACHSEN hat darüber mit dem Oberst a.D. und Verteidigungsexperten Ralph Thiele gesprochen.

Herr Thiele, wenn Deutschland angegriffen würde, wäre die Wehrpflicht sofort wieder in Kraft. Allerdings gibt es keine Kreiswehrersatzämter mehr. Bricht dann das Chaos aus?

So etwas lässt sich organisieren, wenn es notwendig ist. Das Problem ist nicht, den Kontakt zu potenziellen Soldaten herzustellen, sondern es besteht eher darin, die Ausbildung kurzfristig auf die Beine zu stellen. Wir sehen ja in der Ukraine, dass nicht jeder Schneider oder Zahnarzt ein guter Soldat ist, nur weil sie ihm eine Waffe geben. Das wäre in Deutschland nicht anders. Die Ausbildung müsste somit gestemmt werden. Aber die wenigen aktiven Soldaten, die kriegstüchtig sind, werden wir dafür schlecht einsetzen können.

Warum sollte man überhaupt zur regulären Wehrpflicht zurückkehren? Reicht die Berufsarmee nicht aus?

Sie haben im Krieg ein Mengenproblem. Das ist derzeit ebenfalls in der Ukraine zu beobachten, wo dem Land die Soldaten an der Front ausgehen. Die ziehen mittlerweile Menschen in ihren Mittvierzigern ein. Auch unsere Brigade in Litauen mit reichlich 5.000 Mann müsste im Verteidigungsfall schnell verstärkt werden. Wenn sie sich überlegen, dass Napoleon auf dem Weg nach Moskau 300.000 Soldaten verloren hat, dann wird deutlich, dass 5.000 nicht viel ist.

Bei Kriegsbeginn würden zunächst Berufssoldaten nachrücken, aber dann muss schnell der Aufwuchs da sein wie in Finnland oder Israel, wo die Menschen innerhalb kurzer Zeit raus aus den Geschäften und rein in die Panzer kommen, um in die Schlacht zu ziehen. Finnland kann durch die Wehrpflicht als kleines Land locker 900.000 Soldaten mobilisieren.

Reporterin Claudia Drexel 12 min
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ARD Mittagsmagazin Mi 20.03.2024 12:10Uhr 11:41 min

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Viele haben ja gehofft, dass Soldaten bei den Kriegen der Zukunft nur noch vor dem Computer sitzen. In Russlands Krieg gegen die Ukraine ist das brutale mittelalterliche Element allerdings noch sehr präsent. Wäre das bei uns auch so?

Die Technik wird sicherlich immer wichtiger. In der Ukraine verbrauchen die Ukrainer und Russen jeweils 10.000 Kleindrohnen im Monat. Von daher brauchen wir in Zukunft vielleicht etwas weniger Masse beim Menschen, aber immer noch Masse. Doch der Bundeswehr fehlt sowohl die Masse bei den Menschen als auch die Masse bei der Technik. Das Thema KI (Künstliche Intelligenz, Anm.d.Red.) war im deutschen Heer bisher für 2030 geplant.

Ein Argument gegen die Wehrpflicht war immer, dass die jungen Leute schneller in den Beruf sollen. Viele sagten auch: Meine Freundin lässt es schon an der Uni krachen und ich muss meine Abende in der Kaserne mit sieben Männern in einer kleinen Stube verbringen…

Der Eingriff in den Beruf wiegt schwer. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht so. Doch eine große äußere Bedrohung könnte es rechtfertigen, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Den Unterschied zwischen Männlein und Weiblein würde man tatsächlich heute nicht mehr machen.

Das geht aber mit der ausgesetzten Wehrpflicht nicht. Daher müsste sie neu gestaltet werden - mit einer entsprechenden Zweidrittelmehrheit im Bundestag - für die zwingend erforderliche Grundgesetzänderung. Das wäre auch deshalb notwendig, weil die Wehrpflicht ja idealerweise mit einem staatsbürgerlichen Dienst kombiniert werden sollte, sodass Leute, die sich eher für den Katastrophenschutz oder die Pflege im Krankenhaus berufen fühlen, diesen Weg gehen könnten.

Wie lange müsste der Dienst sein?

Ideal wäre es, wenn man die jungen Leute zwei Jahre haben könnte. Das ist aber nicht realistisch. Von daher wird es wohl nur eine Dienstzeit von einem Jahr oder weniger werden. Das gilt jedoch lediglich für die Friedenszeit. Sollte sich die russische Bedrohung materialisieren, müssten die Zeiten entsprechend verlängert werden.

Manche scheinen zu denken, im Kriegsfall fliegen wir alle nach Mallorca und die Amerikaner kämpfen hier für uns. Ist das Gefühl abhandengekommen, dass man selbst für etwas einstehen muss?

Ja, das ist so ein Zeitgeist. In den baltischen Staaten sitzen die Leute auch auf gepackten Koffern. Wenn der Russe käme, wären sie weg. Diese Haltung ist nicht gut für unsere Gesellschaften. Wenn sie sich schon aufgeben, bevor es angefangen hat, dann hat es ein Gegner, der uns untergraben will, leichter.

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Hat dieser Zeitgeist in Deutschland mit dem Aussetzen der Wehrpflicht zu tun?

Der frühere Inspekteur des Heeres, Helge Hansen, hat einmal gesagt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Das war seine Sorge, wenn die Wehrpflicht aufgegeben wird. Und so ist es ja auch gekommen. Wehrpflichtige haben früher nicht nur selbst gute und schlechte Erfahrungen gemacht, sondern die auch mit ihren Familien geteilt. Von daher gab es aus der Mitte der Gesellschaft eine direkte Verbindung in die Truppe. Die ist verlorengegangen - gerade in einer Zeit, wo das Klima in der Welt wieder rauer wird.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Nachrichten | 12. Juni 2024 | 09:00 Uhr

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