Bundeswehr Verteidigungsminister Pistorius plant Wehrerfassung und Musterung
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13. Juni 2024, 10:15 Uhr
Um die Truppenstärke der Bundeswehr zu erhöhen, plant Verteidigungsminister Boris Pistorius ein neues Wehrdienstmodell. Es sieht die systematische Erfassung von Wehrfähigen sowie eine Musterung vor. Der Dienst an der Waffe soll freiwillig bleiben.
Inhalt des Artikels:
- Fehlende Infrastruktur für mehr Rekruten
- Russland als potenzielle Bedrohung
- Geplant sind 40.000 Musterungen jährlich
- Wehrdienstleistende sollen zu Reservisten werden
- SPD-Spitze pocht auf Freiwilligkeit
- Kritik von der Union
- Friedensgesellschaft kündigt rechtlichen Widerstand an
- Ausgesetzte Wehrpflicht
- Die Bundeswehr wurde zuletzt immer kleiner
- Gerechtigkeit beim Wehrdienst bleibt Problem
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius will einen sogenannten Auswahlwehrdienst mit verpflichtenden Elementen einführen. Entsprechende Pläne stellte der SPD-Politiker am Nachmittag in Berlin vor. Demnach sollen Männer und Frauen ab 18 Jahren einen Fragebogen über ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Wehrdienst erhalten. Während Männer das Dokument ausfüllen und zurücksenden müssen, sollen Frauen das auf freiwilliger Basis tun können. Pistorius betonte, das Grundgesetz sehe keine Wehrpflicht für Frauen vor.
Die Bundeswehr wird auf Basis der ausgefüllten Fragebögen Einladungen zur Musterung aussprechen. "Wir wollen diejenigen auswählen, die am motiviertesten, am fittesten und am geeignetsten sind", sagte Pistorius. Die Auserwählten sollen einen Grundwehrdienst von sechs Monaten leisten oder sich für bis zu 23 Monate verpflichten können. Es stehe Ausgewählten aber auch frei, den Dienst zu verweigern.
Fehlende Infrastruktur für mehr Rekruten
Der Minister geht davon aus, dass mit seinem Konzept eines neuen Wehrdienstes jedes Jahr 5.000 zusätzliche Soldaten für die Bundeswehr zur Verfügung stehen werden. Ziel sei, diese Zahl jedes Jahr noch zu steigern.
Das Bundesverteidigungsministerium räumte in diesem Zusammenhang ein, nach der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 nur eingeschränkte Ausbildungskapazitäten für jährlich zusätzlich 5.000 Rekrutinnen und Rekruten bereitstellen zu können.
"Ich mache keine Hehl daraus: Ich würde gerne 20.000 Wehrdienstleistende jedes Jahr ausbilden", sagte Pistorius. "Dafür reichen aber die Kapazitäten nicht."
Russland als potenzielle Bedrohung
Pistorius erklärte, die Wehrpflicht oder ein Pflichtdienst sollten zunächst nicht wieder eingeführt werden. Der Wehrdienst werde aber wieder in Kraft gesetzt. Dazu solle eine Arbeitsgruppe bis zum Herbst einen Gesetzentwurf erarbeiten.
Als Hintergrund der Pläne nannte Pistorius eine veränderte Bedrohungslage durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Experten gingen davon aus, dass Russland ab 2029 in der Lage sein werde, einen Nato-Staat anzugreifen. Den Verteidigungsausschuss des Bundestags hatte Pistorius bereits am Mittwochvormittag über die Pläne informiert.
Geplant sind 40.000 Musterungen jährlich
Militärplaner gehen davon aus, dass dann pro Jahr 400.000 Menschen den Fragebogen zum Wehrdienst ausfüllen müssen und etwa ein Viertel davon Interesse bekunden könnte. Vorgesehen ist es demnach, 40.000 Kandidaten zur Musterung zu bestellen.
Wehrdienstleistende sollen zu Reservisten werden
Pistorius´ Modell sieht zudem vor, Wehrdienstleistende nach dem aktiven Dienst in die Reserve zu beordern. Nach Ministeriumsangaben sollen sie jährlich mit aktiven Truppen und anderen Reservisten trainieren. In einem "Spannungs- und Verteidigungsfall können sie dann für die Landes- und Bündnisverteidigung herangezogen werden", hieß es.
Im Rahmen des neuen Wehrdienstes soll auch die Wehrerfassung schrittweise aufgebaut werden. Im Spannungs und Verteidigungsfall müsse das Ministeriumw wissen, wer für den Bundeswehrdienst geeignet sei, sagte Pistorius. Das betreffe nicht nur neue Wehrdienstleistende, sondern auch Personen, die bereits gedient haben. Langfristig sollten rund 200.000 Reservisten hinzugewonnen werden.
Der Minister zeigte sich überzeugt davon, dass die Bundeswehr durch sein auf Freiwilligkeit basierendes Modell die gewünschte Personalstärke erreichen könne. Sollte dies nicht eintreten, "dann müssen wir über eine verpflichtende Option nachdenken".
Der frisch gewählte Chef des Verteidigungsausschusses, Marcus Faber, erklärte, dass das geplante Modell in einem ersten Schritt wenig Pflicht und viel Freiwilligkeit enthalte. Es sei wichtig, wirklich motivierte Rekruten zu haben und "nicht irgendwen". "Und wenn das nicht ganz bis an die Ziellinie reicht, müssen wir nochmal neu reden", fügte er hinzu.
SPD-Spitze pocht auf Freiwilligkeit
Gegen die Wiedereinführung einer Wehrpflicht gab es zuletzt vor allem in der SPD Widerspruch. Parteichef Lars Klingbeil hatte sich für Freiwilligkeit ausgesprochen. Auch die Grünen bezweifeln die Notwendigkeit einer allgemeinen Wehrpflicht. Die FDP war ebenfalls zurückhaltend, doch eine Kursänderung scheint möglich. Dirk Vöpel, Vizesprecher der SPD zu dem Thema sagte am Mittwoch: "Wir unterstützen die Pläne, die Zahl unserer Streitkräfte zu erhöhen. Im Verteidigungsfall brauchen wir eine stärkere Reserve."
Kritik von der Union
Dagegen kritisierte der Unions-Wehrexperte Florian Hahn (CSU), er habe weitergehende Reformen erwartet: Pistorius habe "ein Konzept für einen Pflichtdienst angekündigt und neun Monate später ist ein verbesserter Freiwilligendienst übrig geblieben". Offensichtlich haben der "Bundeskanzler und die Ampel Luft rausgelassen".
Friedensgesellschaft kündigt rechtlichen Widerstand an
Die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) spricht von einer "Reaktivierung der Wehrpflicht durch die Hintertür". Der Vorsitzende der DFG-VK, Ralf Buchterkirchen, kritisierte, dass die die Bundeswehr auf Basis von Daten der Meldebehörden jungen Menschen bereits Fragebögen zuschicke. "Dieser Datenweitergabe kann man aktuell widersprechen – nach den Plänen von Pistorius dann bald aber wohl nicht mehr", sagte Buchterkirchen. Auf Grundlage der Fragebögen wolle die Armee dann einige junge Menschen zur Musterung zwingen. Am Ende stünde ein Dienst in der Armee.
Die DFG-VK kündigte an, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Pläne von Pistorius zu verhindern.
Ausgesetzte Wehrpflicht
Die Wehrpflicht war 2011 in Deutschland nach 55 Jahren ausgesetzt worden. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) vollzog den Schritt vom Wehr- und Zivildienst hin zur Berufsarmee. Zugleich wurden alle Strukturen für eine Wehrpflicht aufgelöst. Das reformierte Wehrpflichtgesetz sieht aber vor, im Spannungs- und Verteidigungsfall die Regelung zu prüfen. Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist dazu eine neue Debatte entbrannt.
Die Bundeswehr wurde zuletzt immer kleiner
Trotz einer Personaloffensive war die Bundeswehr im vergangenen Jahr auf 181.500 Soldatinnen und Soldaten geschrumpft. Pistorius ließ unter dem Einduck des Ukraine-Kriegs Modelle einer Dienstpflicht prüfen. Wiederholt betonte er, Deutschland müsse "kriegstüchtig" werden, um zusammen mit den Nato-Verbündeten glaubhaft abschrecken zu können.
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, hatte vor Bekanntwerden der Pistorius-Pläne entschlossene Schritte für einen neuen Wehrdienst gefordert. Die Personalzahlen in der Bundeswehr seien in diesem Monat auf den tiefsten Stand seit 2018 gefallen, sagte Wüstner. Jetzt müsse die Ausrufung der "Zeitenwende" verteidigungspolitisch auch praktisch umgesetzt werden. Mit Freiwilligkeit allein werde das nicht funktionieren.
Gerechtigkeit beim Wehrdienst bleibt Problem
In der Debatte um den Wehrdienst geht es auch um die verfassungsrechtlich gebotene Wehrgerechtigkeit. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt, es habe seit Gründung der Bundeswehr immer mehr wehrfähige Männer gegeben, als für die Armee benötigt wurden. Das sei von vielen als ungerecht empfunden worden.
Öffentlich diskutiert wurde zuletzt auch eine weiter gefasste neue Dienstpflicht, die auch Rettungsdienste und den Katastrophenschutz umfassen könnte. Für eine Dienstpflicht junger Frauen müsste das Grundgesetz geändert werden.
Bundesverteidigungsminister Pistorius erklärte am Mittwochabend im ZDF, dass eine Dienstverpflichtung nur für Männer nicht mehr zeitgemäß sei. Eine solche Debatte sei im Jahr vor der Bundestagswahl aber nur schwer sachlich zu führen. Ein Ergebnis in der laufenden Wahlperiode halte er für unwahrscheinlich.
dpa, afp, kna, (ans, lik)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 12. Juni 2024 | 16:07 Uhr