Verfassungsschutz Nach welchen Kriterien gelten Parteien als verfassungsfeindlich?
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23. Oktober 2024, 07:03 Uhr
Der Verfassungsschutz beobachtet die AfD als rechtsextremen Verdachtsfall. MDR AKTUELL-Hörerin Frau Blunck fragt sich, nach welchen Kriterien das Bundesamt für Verfassungsschutz Parteien als verfassungsfeindlich oder verfassungswidrig einstuft. Sie fragt sich, wer diese Kriterien definiert und überprüft.
- In einem dreistufigen System untersuchen die Verfassungsschutzbehörden, ob eine Partei verfassungsfeindlich ist.
- Linken-Abgeordnete André Hahn beklagt, dass die Parteien Wege gefunden haben, um sich der Kontrolle zu entziehen.
- Experten schlagen vor, den Verfassungsschutz unabhängiger von der Regierung zu gestalten, um politische Einflussnahme zu vermeiden.
Eine Partei als verfassungsfeindlich oder verfassungswidrig einzustufen, sei nicht die Aufgabe des Verfassungsschutzes, erklärt Tristan Barczak, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Passau: "Das sind Kriterien, die ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten sind nach Artikel 21 des Grundgesetzes."
Klage nur bei Verdachtsfällen möglich
Laut Barczak haben die Verfassungsschutzbehörden ein eigenes dreistufiges System an Kategorien entwickelt, nach denen sie vorgehen. Diese drei Stufen lauten Prüffall, Verdachtsfall und gesichert extremistische Bestrebung.
Ob ein Prüffall vorliegt, dürfen die Ämter selbst entscheiden – anhand öffentlich zugänglicher Informationen, also etwa Äußerungen von Parteimitgliedern oder Medienberichten: "Innerhalb der Verfassungsschutzbehörden wird dann geprüft, gegebenenfalls auch ein Gutachten in Auftrag gegeben: Gibt es hier Kriterien oder Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass sich dieser Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebung erhärtet?" Sei das der Fall, sagt Barczak, werde auf die nächsthöhere Stufe gegangen. Erst dann, also wenn eine Partei als Verdachtsfall gilt, kann sie dagegen klagen.
Bereits vorher kann das Parlamentarische Kontrollgremium im Bundestag aktiv werden. Seine Mitglieder dürfen zum Beispiel in streng geheime Akten schauen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes befragen. Im Vergleich zu unseren Nachbarstaaten sei das relativ viel rechtsstaatliche Aufsicht, sagt Barczak.
Probleme bei Anforderungen von Akten
Relativ viel heiße noch lange nicht genug, sagt hingegen der Linken-Abgeordnete André Hahn, der fast 10 Jahre in dem Kontrollgremium saß.
Hahn beklagt, Verfassungsschützer zu überprüfen sei oft nur im Nachhinein möglich oder wenn Aktivitäten zufällig bekannt würden: "Um eine Akte anzufordern, muss ich erst mal wissen, dass es sie gibt. Die haben alle Decknamen. Das ist ein bisschen wie früher." Die Akten hießen dann beispielsweise Vorgang "Orion" oder "Eichhörnchen".
Erst wenn man wisse, dass es eine Akte Eichhörnchen gebe, könne man einen entsprechenden Antrag stellen, sagt Hahn: "Aber wenn ich gar nicht weiß, dass es so einen Vorgang gibt? Denn die Deck- und Kennwörter, die kennen wir in der Regel nicht. Wir wissen auch nicht, was sich dahinter verbirgt."
Komme dann eine überzogene Maßnahme ans Licht, verhinderten außerdem die Gremiumsmitglieder aus den Regierungsparteien oft eine notwendige Rüge durch den Kontrollausschuss.
Kritik am Einfluss herrschender Parteien
Den politischen Einfluss der jeweils herrschenden Parteien sieht auch der Autor und Journalist Ronen Steinke kritisch: "Ich habe ein Störgefühl als einfach liberaler Mensch, als Demokrat, wenn bei uns ein Geheimdienst, der von der Regierung gesteuert wird, selber entscheiden darf – unabhängig davon, ob Leute Gesetze brechen oder sich an die Gesetze halten – dass er die als Extremisten tituliert und dann geheimdienstlich ins Visier nimmt."
Steinke widerspricht deshalb Verfassungsrechtler Barzcak und hält den Spielraum des Verfassungsschutzes für zu groß, wenn es um die Beobachtung von Parteien geht. Selbst wenn ein Geheimdienst möglicherweise richtig einschätze, wie gefährlich die AfD sei, müsse diese Frage unabhängig geklärt werden.
Linken-Politiker Hahn schlägt deshalb vor, den Verfassungsschutz unabhängiger von Parteipolitik und Innenministerium zu organisieren, um den Vorwurf des politischen Einflusses – von welcher Seite auch immer – zu entkräften.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 23. Oktober 2024 | 06:21 Uhr