Eine biologisch-technische Assistentin bereitet 2022 die Sequenzierung von positiven PCR-Tests im Labor vor.
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Digitalisierung der Gesundheitsämter Millioneninvestitionen in Software, parallele Ansätze und verpasste Chancen

23. Dezember 2024, 05:00 Uhr

Corona hat die digitale Rückständigkeit der Gesundheitsämter offengelegt. Mit dem Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) stellte die Bundesregierung 800 Mio. Euro für die Digitalisierung bereit. Einige Länder planen damit eigene Fachanwendungen für die Ämter. Übertragbar auch auf andere - bei entsprechenden Anpassungen. Eine Doppelförderung schließen aber alle Beteiligten aus. Experten kritisieren die Fördermittelverwendung als verpasste Chance für einheitliche Lösungen.

Gesundheitsämter sollten eigentlich die Grundlage für ein funktionierendes Gesundheitswesen schaffen. Corona hat gezeigt: Für die Bewältigung pandemischer Lagen waren sie 2019 nicht gut gerüstet – mit allen damit verbundenen Folgen für die Betroffenen. Noch im Herbst 2020 wollte die damalige Bundesregierung mit einem milliardenschweren Förderprogramm Abhilfe schaffen: mit dem "Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)".

Das vier Milliarden schwere Paket enthält 800 Millionen für eine bessere Digitalisierung unter anderem der Gesundheitsämter. Diese arbeiten bis heute im Wesentlichen mit wenigen Fachsoftware-Programmen, die Kritikern zufolge nicht auf der Höhe der Zeit sind. Es geht mit Fördermittelzusagen für Modellprojekte, für Ein-Land-für-alle-Maßnahmen und für Ländermaßnahmen einher.

800 Millionen für die Digitalisierung im Öffentlichen Gesundheitsdienst

Mit dem frischen Geld lassen zum Beispiel Rheinland-Pfalz und Sachsen die in ihren Bundesländern inzwischen seit Jahren genutzten Fachsoftware-Anwendungen auf ein neues Niveau heben. Drei Bundesländer wollen jeweils eine komplett neue Anwendung: In Hessen und Baden-Württemberg sind diese fast fertig. Beide unterscheiden sich grundsätzlich von der Entwicklungsphilosophie: Während in Hessen eine Open-Source-Anwendung entsteht, deren Programmierung einmal allen zur Verfügung stehen wird, entwickelt das Unternehmen HBSN in Baden-Württemberg eine sogenannte proprietäre Software, d.h. hier geht es ähnlich wie bei den vorhandenen Anwendungen um künftig zu erwerbende Lizenzen. Die Anwendungen sollen 2025 den Gesundheitsämtern beider Länder bereitgestellt werden. 

Projektvergabe in Thüringen Sache für Vergabesenat am Oberlandesgericht

Auch Thüringen möchte eine eigene Software entwickeln lassen und hat dafür ein in Branchenkreisen als ambitioniert beschriebenes Projekt aufgesetzt. Der Vergabeprozess stockt aber seit Monaten. Derzeit wird er nach Angaben des Thüringer Gesundheitsministeriums auf Betreiben einer Bietergemeinschaft gerichtlich geprüft. Misslich für Thüringen, denn zwar hinken alle bislang beschriebenen Projekte im Zeitplan hinterher, im Freistaat aber wurde bereits viel Geld in die Planung der Prozesse gesteckt, aber noch keine Zeile der neuen Software geschrieben.

Länder schließen Doppelförderung und Ein-Land-für-Alle aus

Alle genannten Länder sind der Auffassung, dass ihre Anwendung, einmal fertig, auch in anderen Bundesländern eingesetzt werden kann. Dennoch haben sie in den Vorgesprächen offenbar keine Parallelen bei ihren Plänen feststellen können. Daher haben sie dem Thüringer Gesundheitsamt zufolge auch keine Maßnahme für alle Länder verabredet: "Zwischen der Veröffentlichung der Förderrichtlinie zum Bundesförderprogramm ÖGD-Digitalisierung am 22.04.2022 und der Antragsfrist 01.07.2022 haben sich alle Länder mit geplanten Landesmaßnahmen entsprechend der Förderauflagen miteinander über ihre Projekte ausgetauscht. Dabei ergab sich, dass sich aus den oben genannten Gründen keine Ein-Land-für-alle-Maßnahme ergeben kann".  

Baden-Württemberg: 54,4 Mio. Euro Fördermittelzusage für neue Software

  • In Baden-Württemberg hat die Firma HBSN den Zuschlag für eine Fachanwendung bekommen, die dem Landesgesundheitsministerium zufolge auch in anderen Bundesländern eingesetzt werden kann. 54,4 Millionen Euro beträgt hier die Fördermittelzusage des Bundes.
  • Die HBSN-Softwarelösung soll laut Ministerium 2025 in Wellen ausgerollt werden und den Ämtern kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Bestehende Anwendungen liefen zunächst im Parallelbetrieb weiter und verursachten auch weiter Kosten wie für den Betrieb, Support sowie regelmäßige technische und fachliche Weiterentwicklungen.
  • Die Frage nach Einsetzbarkeit in anderen Bundesländern beantwortet ein Sprecher mit: "Ja, das ist prinzipiell möglich", es seien aber unter Umständen bundeslandspezifische Anpassungen erforderlich.  
  • Auch mit Einführung der neuen Software wird es auch in Baden-Württemberg weiter Schnittstellenprobleme geben: Aufgrund der sehr heterogenen Softwarelandschaft sei es nicht möglich, "sämtliche Barrieren oder Medienbrüche unmittelbar mit der Einführung der Fachanwendungslandschaft zu beseitigen, sie trägt jedoch wesentlich dazu bei, diese zu reduzieren".

Hessen: 24 Mio. Euro Fördermittelzusage für neue Software

  • In Hessen wird eine Open-Source-Lösung entwcikelt mit ähnlichen Leistungskriterien; auch sie soll laut Gesundheitsministeriums des Landes 2025 ausgerollt werden. Die Fördermittelzusage des Bundes beträgt demnach 24 Millionen Euro. Die Gesundheitsämter können die Software dem Ministerium zufolge im Rahmen der Projektförderung zunächst ohne eigene Kosten erproben. Ab 2026 müssten die Kommunen Betriebs- und Servicekosten bezahlen.
  • Der Source Code der Open-Source-Lösung soll später frei zur Verfügung gestellt werden. Damit sei eine Nachnutzung des Codes, nicht aber des Betriebs- und Servicekonzeptes durch andere Bundesländer oder einzelne Gesundheitsämter möglich. Die Bundesländer stehen laut Gesundheitsministerium zu Nachnutzungsmöglichkeiten der derzeit über das Förderprogramm entwickelten Lösungen jedoch im Austausch.

Thüringen: 16,8 Mio. Euro Fördermittelzusage für neue Software

  • In Thüringen stockt die Auftragsvergabe für eine moderne und komplexe Fachanwendung für die Gesundheitsämter, die ebenfalls in anderen Bundesländern eingesetzt werden soll.
  • Derzeit befasst sich das Oberlandesgericht Jena mit dem Fall.
  • Die Fördermittelzusage des Bundes: 16,8 Millionen Euro. Verausgabt wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums 2,5 Millionen Euro - ohne dass das Projekt bislang vergeben wurde.

Sachsen: 16,9 Mio. Euro Fördermittelzusage für bestehende Software


  • In Sachsen wird die anliegende Software Octoware weiterentwickelt. Diese ist bereits in verschiedenen Varianten bundesweit im Einsatz. Auch die neue Software soll sich für andere Bundesländer eignen; Sachsen kauft nach Entwicklungsabschluss seine Lizenzen. "Die speziellen Programmierleistungen für die Anpassungen an sächsische Bedürfnisse könnten von anderen Ländern kostenfrei genutzt werden."
  • Das Projekt in Sachsen wurde erst im November 2024 vergeben. Das Land hat mit den Gesundheitsämtern eine Nutzung der Software vereinbart.

Rheinland-Pfalz: 16,8 Mio. Euro Fördermittelzusage für bestehende Software

  • In Rheinland-Pfalz wurde "mikropro" konsolidiert. Seit November 2024 können die Gesundheitsämter dort laut Fachministerium erstmals "eine alle Module umfassende, konsolidierte Version der landeseinheitlichen Konfiguration der Fachanwendung mikropro nutzen. Diese wird nun in weiteren Iterationsstufen sukzessive in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern weiterentwickelt".
  • Mikropro ist bundesweit im Einsatz, in Rheinland-Pfalz verwenden sie trotz Wahlfreiheit seit den 2000er-Jahren alle Gesundheitsämter. Der weiterentwickelte Softwareaufbau der Fachanwendung wird nach Ansicht des Gesundheitsministeriums künftig auch anderen Nutzern von mikropro zugutekommen.
  • Auch mit der landeseinheitlichen Konfiguration gibt es offenbar weiterhin Schnittstellenprobleme. Der Softwareaufbau der Fachanwendung befinde sich in Weiterentwicklung, schreibt ein Sprecher des Ministeriums. "Dies betrifft auch die Implementation von zusätzlichen Schnittstellen innerhalb des ÖGD". Zudem müssten bezüglich der Schnittstellen-Einführung zwischen Bundesländern und -behörden im ÖGD noch die Ergebnisse einer "Ein-Land-für-Alle-Maßnahme" abgewartet werden.

Eine Doppelförderung schließen die Länder unter anderem mit Verweis auf die unterschiedlichen technischen und juristischen Voraussetzungen in ihren Ländern ebenso aus, wie der Projektträger. Die Gesamtsumme der der Fördermittelzusagen in den fünf Bundesländern für die Entwicklung allein der Fachsoftware mindestens rund 130 Millionen Euro.  

Praktiker in Gesundheitsämtern: Anwendungen leicht anpassbar

Der GA-Lotse aus Hessen und die Lösung von HBSN in Baden-Württemberg wurden inzwischen mehrfach unter Gesundheitsämtern vorgestellt, darunter Mitarbeitern der Gesundheitsämter im Kyffhäuserkreis und im Weimarer Land. Die Einschätzung: Die Anwendungen ähneln sich. Die Unterschiede bestünden primär in länderspezifischen Anforderungen, "die jedoch in der Regel mit überschaubarem Aufwand in jedem Verfahren implementiert werden können", sagt ein Sprecher des Landratsamtes Kyffhäuserkreis MDR INVESTIGATIV.

Grundsätzlich lassen sich die Fachverfahren als vergleichbar einstufen, da die darauf abzielen, ähnliche Zwecke zu erfüllen.

Gesundheitsamt Kyffhäuserkreis

Auch im Gesundheitsamt Weimarer Land stellt man fest: Die Funktionen innerhalb der Anwendungen ähneln einander, wenngleich sich die Entwicklungsansätze durchaus unterscheiden.

Brancheninsider: Warum keine komplett neue Fachsoftware für alle?

Obwohl die Länder also laut Thüringen den "Ein-Land-für-Alle"-Ansatz verworfen hatten, führt die Parallel-Entwicklung ähnlicher Anwendungen zur Frage, ob hier Steuergelder tatsächlich effizient eingesetzt werden. Der weitaus überwiegende Teil der Tätigkeiten in den Ämtern ist bundesweit vergleichbar, sagt ein Brancheninsider MDR INVESTIGATIV.  Wäre es nicht sinnvoller und effizienter, wenn ein Bundesland ein neues Fachverfahren entwickelt, das anschließend allen anderen Bundesländern, die ebenfalls ein solches Verfahren benötigen, zur Verfügung gestellt wird? Diese Frage wirft eine mit den Prozessen bundesweit vertraute Person auf, die anonym bleiben will. Hätte es nicht ein einheitliches System geben können, das von Anfang an für alle Bundesländer entwickelt worden wäre?

Digitalisierungsexperte: Chance vergeben, das einmal vernünftig zu machen

Möglicherweise hätte ein solches Vorgehen weniger gekostet und wäre möglicherweise schon fertig – und besser, als alles, was bisher auf dem Markt ist - hätte man die Prinzipien bei der Entwicklung digitaler Anwendungen befolgt, die inzwischen seit Jahrzehnten bekannt sind, sagt der Wirtschaftsinformatiker Key Pousttchi. "Im Prinzip haben wir jetzt die Chance, das einmal vernünftig zu machen und einheitlich. Und wir vergeben genau diese Chance," sagt er MDR INVESTIGATIV. Die Chance, alle Prozesse in den Gesundheitsämtern zu vereinheitlichen und sich von alten Anforderungen zu lösen. "Mir ist nicht erklärlich, warum ein Gesundheitsamt in Hamburg anders funktionieren muss als eins in Bayern auf dem Land," sagt er. Beide hätten das gleiche Ziel. Er plädiert für eine einheitliche Architektur, die für Ämter von Flensburg bis Oberammergau funktioniere.

Im Prinzip haben wir jetzt die Chance, das einmal vernünftig zu machen und einheitlich. Und wir vergeben genau diese Chance.

Key Pousttchi, Wirtschaftsinformatiker

Pousttchi befasst sich seit Jahrzehnten in aller Tiefe mit Digitalisierungsprozessen in Deutschland. Er hat unter anderem zusammen mit dem Hasso-Plattner-Institut den ersten deutschen Master-Studiengang für Wirtschaftsinformatik und Digitale Transformation aufgebaut. Jetzt leitet er das private wi-mobile Institut für Digitale Transformation in Naumburg. Er stellt fest: "Wir buttern immer mehr Geld in die IT. Und im Gesundheitsbereich fließen ja abenteuerliche Summen durch die Gegend. Aber wir sehen keinen Produktivitätsfortschritt."  Das liegt Pousttchi zufolge am Produktivitätsparadoxon der Informationstechnologie. Seit vielen Jahren bekannt, und es gibt eine Lösung: "Wenn ich so eine Technologie einführen will, dann darf ich nicht die alten Prozesse nehmen, die dort schon seit Jahrzehnten laufen und dann Technologie darüber auskippen. Dann gewinne ich gar nichts. Sondern ich muss ganz neue Prozesse aufbauen. Ich muss von Null mir die Frage stellen: Was ist das Ziel des Prozesses?"

Zudem plädiert Pousttchi für neue Wege bei der Fördermittelvergabe: Nicht den Bundesländern das Geld geben, wo dann Beratungsfirmen und Vergabekanzleien partizipierten, sondern die Entwicklung einer Anwendung, die die Bundesländer kostenfrei nutzen und für eigenes Geld an ihre Bedürfnisse anpassen könnten.

Externe Berater und Juristen bei Projektentwicklung eingesetzt

Tatsächlich fließen beträchtliche Mittel an externe Berater und Juristen. Vier der fünf oben erwähnten Länder haben auf Anfrage des MDR mitgeteilt, dass externe Juristen und Beraterfirmen unter anderem an der Ausschreibungsentwicklung mitgearbeitet haben. Die Kosten dafür haben lediglich Sachsen, Thüringen und der Bund transparent gemacht: Beide Länder gaben demnach zusammen rund 700.000 Euro für Beratung und juristischen Beistand aus und der Bund beziffert die Kosten für die Projektbegleitung bis November 2024 mit rund 3,1 Millionen Euro.

Und obschon der Bund der Steuerzahler den Einsatz von externen Beratern und Kanzleien regelmäßig kritisiert, hält er sie bei großen Digitalisierungvorhaben für sinnvoll: Diese seien oft sehr komplex, sodass externe Unterstützung herangezogen werden müsse, wenn man alle Effizienzpotenziale heben wolle, sagte eine Sprecherin. Auch die Entwicklung verschiedener Systeme kritisiert der Steuerzahlerbund nicht: Entscheidend sei am Ende ein funktionierendes, störungsarmes und flächendeckendes Digitalisierungsnetz des Öffentlichen Gesundheitsdienstes.

Zwar hat sich den ersten Corona-Fällen Ende 2019 einiges getan bei der Digitalisierung der Gesundheitsämter. Dennoch sind die großen Software-Projekte der Länder trotz enormer Geldsummen und zahlreicher externer Berater nicht wie vorgesehen seit Ende September im Einsatz.

Und egal wie viele Fachanwendungen zu den Bestehenden entwickelt werden: Zwar gibt es in Sachsen eine Vereinbarung, dass die Gesundheitsämter die neue Software OctowareNet auch nutzen, anderswo aber nicht. Wegen des Föderalismus sind die Ämter vielerorts nicht verpflichtet, neuen landeseinheitlichen Lösungen zu übernehmen.

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 19. Dezember 2024 | 14:00 Uhr

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