Interview Gysi: Wagenknecht ist und bleibt wichtig für die Linke
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23. November 2022, 18:45 Uhr
Gregor Gysi glaubt: Bei einer Spaltung hätten beide Seiten schlechte Karten: Die Linkspartei ohne Wagenknecht ebenso wie Wagenknecht, wenn sie eine eigene Partei gründen würde. Er sieht die polarisierende Ikone der Linken – wie auch sich selbst – in einer historischen Verantwortung, sich um die Rettung der Partei zu bemühen.
Frage: Herr Gysi, trägt Frau Wagenknecht eine Hauptverantwortung für die Krise der Linkspartei?
Antwort: "Nein, die existenzielle Krise der Linken hat viele Gründe. Eine Person verantwortlich zu machen, wäre geradezu absurd. Das kann auch nicht die Lösung sein."
Im Raum steht die Möglichkeit einer Spaltung der Partei. Wie sehen Sie das?
"Ich halte von der Idee einer Spaltung der Partei gar nichts. Und es gibt verschiedene Personen in der Partei, die eine bestimmte historische Verantwortung haben, der man auch gerecht werden muss."
Wen sehen Sie da in historischer Verantwortung?
"Also Frau Wagenknecht hat – wie ich – eine historische Verantwortung. Wir müssen ihr beide gerecht werden. Das sagt sich leichter, als es sich organisieren lässt."
Also Frau Wagenknecht hat – wie ich – eine historische Verantwortung. Wir müssen ihr beide gerecht werden.
Was ist mit "historische Verantwortung" gemeint?
"Gerade in dieser Zeit, in der wir jetzt leben: Wenn ich an den Krieg denke, wenn ich an die Pandemie denke, wenn ich an die Klimakrise denke, wenn ich an die Energiepreiskrise denke, wenn ich an die Inflation denke, wenn ich an die immer tiefer werdende soziale Spaltung in unserer Gesellschaft denke; wenn ich daran denke, dass das Vertrauen eines wachsenden Teils der Bevölkerung sowohl zur etablierten Politik als auch zu den öffentlich-rechtlichen Medien deutlich abnimmt – dann braucht es eine linke Partei! Und denn hat niemand das Recht, sie in Frage zu stellen – also aus den Reihen der Linken – oder sie gar kaputtzumachen! Das ist das Problem. Und da müssen alle versuchen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden."
Wie sehen Sie dabei Ihre Rolle?
"Ich bin nicht mehr in der ersten Reihe. Ich bin 74. Aber ich habe daran mitgewirkt, aus der SED die PDS zu machen, aus der PDS die Linke zu machen. Jetzt will ich noch einmal möglichst wirksam helfen, aus dieser existenziellen Krise herauszuführen. Ob wir das schaffen oder nicht, entscheidet sich spätestens bei der nächsten Bundestagswahl."
Ist Wagenknechts Verhalten im Augenblick – ihre vielfältigen Provokationen, wie jüngst in der Bundestagsrede zu Wirtschaftskrieg et cetera – da nicht ein Problem?
"Das hat verschiedene Seiten, die man alle sehen und zum Teil auch würdigen muss. Erstens: Sie spitzt ganz anders zu als ich. Das lieben aber die Medien. Wenn ich zum Beispiel davon spreche, dass ich die Wirtschaftssanktionen falsch finde, ist das keine Überschrift. Aber wenn man von "Wirtschaftskrieg" spricht, dann ist das eine Überschrift. Übrigens hat auch Wolfgang Schäuble von Wirtschaftskrieg gesprochen, und auch der französische Wirtschaftsminister."
Das hat aber auch viele Menschen aus der eigenen Partei getrieben?
"Ja. Viele nicht, aber einige. Der Hauptwiderspruch in meiner Partei ist, dass es welche gibt, die bereit sind, in der Bundesregierung mitzuwirken. Natürlich müssen bestimmte rote Linien eingehalten werden: Wir können nicht ernsthaft an einem neuen Krieg mitwirken et cetera, das scheidet alles aus. Aber sie wollen eben wirklich, dass Ost und West endlich gleichgestellt sind, dass die Gleichstellung der Frauen im Vergleich zu den Männern weiter vorangeht; sie wollen wirklich mehr soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung, und eben eine reale Friedenspolitik – um mal diese Themen zu nennen.
Aber andere wollen eine solche Beteiligung an Regierungsverantwortung eher nicht.
"Die anderen wiederum haben davor Angst und sagen: Da macht man Kompromisse, da wird man verwässert, dann ist man nicht mehr erkennbar. Das stimmt ja auch, das ist ja nicht falsch. Und dieser Widerspruch, wissen Sie, spielte in meiner Partei lange nicht die große Rolle, weil es sowieso niemanden auf Bundesebene gab, der bereit war, mit uns zu koalieren."
Ist das jetzt anders?
"Es gibt einen Teil der SPD, die finden es fantastisch, wie das mit FDP und Grünen läuft. Es gibt aber auch einen Teil, der findet das gar nicht fantastisch. Und die denken jetzt viel ernsthafter als früher darüber nach, eventuell doch mit uns auch einen Weg zu gehen in der Bundespolitik. Und ich glaube, deshalb spitzt sich das jetzt so zu."
Glauben Sie, es gibt einen Weg, zusammen zu finden?
"Ich glaube, beide müssen Erfahrungen machen: Die einen, die in die Regierung wollen, müssen die Erfahrung machen, dass man nicht zu viele Kompromisse machen darf. Und die anderen müssen mitbekommen, dass man aber doch dann real Dinge verändern kann, für die man eigentlich mal in die Politik gegangen ist."
Welche Rolle spielt dabei Sahra Wagenknecht?
"Gerade jetzt, in dieser Zeit, brauchen wir eine Linke! Und dann müssen die mal ihre Widersprüche beiseite lassen und sagen: Aber was wollen wir denn eigentlich gemeinsam? Und das herausarbeiten, und dann auch bereit sein, dafür zu stehen! Sahra Wagenknecht das muss ich Ihnen sagen, ist und bleibt für die Partei wichtig! Warum jeder, der denkt, man käme so besonders gut ohne sie hin, macht sich Illusionen!"
Sahra Wagenknecht ist und bleibt für die Partei wichtig.
Warum?
"Weil es viele Anhängerinnen und Anhänger von ihr in der Partei gibt und vor allen Dingen in der Wählerschaft – das darf man nicht unterschätzen. Und zum anderen, weil sie eben Positionen bezieht, die auch viel breiter in den Medien diskutiert werden. Es ist ja kein Zufall, dass sie häufig eingeladen wird in die Medien und andere werden eben weniger eingeladen. Aber das entscheidet ja nicht die Person selbst."
Aber sind es nicht gerade auch die Konflikte mit der eigenen Partei, die Sahra Wagenknecht so interessant für viele Medien machen?
"Die Medien lieben solche Widersprüche und die pflegt man dann natürlich auch ein bisschen. Trotzdem: In dem Moment, wo ein solches Spiel letztlich durch alle Seiten dazu führt, dass man in einer existenziellen Krise ist, muss man die Notbremse ziehen, ein Haltezeichen setzen, und wieder fair und kooperativ zusammenwirken! Es waren auch nicht immer alle fair zu Sahra! Und natürlich hat Sahra auch Kritik geübt, die wiederum nicht gefallen hat. Aber genau das ist ja mein Ansatz zu sagen: Schluss, wir müssen jetzt einen anderen Weg finden! Ob es mir gelingt, kann ich Ihnen noch nicht sagen. Aber ich finde, dass ich historisch dazu verpflichtet bin, es zu versuchen."
Es gibt Parteimitglieder, die der Ansicht sind, Wagenknecht wolle die Linke geradezu kaputt machen, zerstören. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
"Ich arbeite gerade an dem Gegenteil, deshalb werde ich mich dazu nicht äußern. Aber wir werden feststellen: Wenn es wirklich zu einer Spaltung der Partei käme, durch wen und wie auch immer, dann glaube ich, dass beide schlechte Karten haben – beide Parteien. Wenn es mir aber gelingt, das zu verhindern, und anderen natürlich auch, und dass man sich wieder zusammenrauft und sich nicht denunziert und nicht gegeneinander Stellung nimmt und nicht dem einen unterstellt, er will die Partei kaputtmachen, und den anderen unterstellt, sie wollen die Partei völlig verwässern und bloß so zu komischer Sozialdemokratie werden et cetera – wenn das aufhört, dann könnten wir einen Weg aus der Existenzkrise herausfinden!"
Wagenknecht?
"Ich glaube eben nicht, oder ich hoffe es – nein und glaube auch nicht – dass Sahra die Partei kaputtmachen will. Und deshalb arbeite ich daran, dass die Widersprüche, die jetzt aufgekommen sind und die Sie alle benennen, dass wir die so weit überwinden, dass wir unserer eigentlichen Aufgabe wieder gerecht werden können – der wir im Augenblick nicht gerecht werden!"
Ihr Verhältnis zu Sahra Wagenknecht war ja über lange Strecken auch gespannt.
"Natürlich war unser Verhältnis am Anfang nie besonders gut. Da war sie ja in der Kommunistischen Plattform und stellte laut Anträge, die ich alle ziemlich absurd fand. Und ich weiß noch, dass sie eine Rede gehalten hat, also gegen die Vereinigung von PDS und WASG, mit Leidenschaft! Und es hätten gar nicht viele Stimmen gefehlt, dann hätte das Ganze nicht geklappt. Aber jetzt ist sie zu einer historisch wichtigen Person unserer Partei geworden! Sie hat ja auch Erkenntnisgewinn. Also zum Beispiel ist sie ja inzwischen für die soziale Marktwirtschaft et cetera. Ich glaube, dass sie in der Kommunistischen Plattform gar keinen Platz mehr hätte. Sie hat ja ihre Meinungen geändert und wurde so, Schritt für Schritt – sie war ja damals auch sehr jung, sie hat nun eine Entwicklung durchgemacht – immer wichtiger für unsere Partei!
Glauben Sie, dass Sahra Wagenknecht ernsthaft erwägt eine eigene Partei zu gründen?
"Also ich glaube schon, dass es solche Planungen gibt, aber vielleicht weniger von ihr als von anderen. Und ich versuche es auch zu verhindern.
*Hinweis der Redaktion: Das original aufgenommene Interview ist hier gekürzt dargestellt.
Quelle: MDR exakt/ mpö
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt – die Story | 23. November 2022 | 20:45 Uhr