Unter der Lupe – die politische Kolumne Grüne ziehen mit Habeck in den Winterwahlkampf
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17. November 2024, 17:17 Uhr
Nach dem Bruch der Ampelkoalition in Berlin versuchen die Grünen, sich als erste Partei für den Winterwahlkampf neu aufzustellen. Die FDP ist noch damit beschäftigt, den Bruch erklären zu müssen. Der SPD droht eine Personaldebatte, ob Scholz oder doch lieber Pistorius der bessere Kanzlerkandidat ist. Die Grünen haben Robert Habeck zur Nummer eins ernannt und signalisieren damit einen Neustart.
Er will ins Kanzleramt. Daran lässt Robert Habeck keinen Zweifel. Und die Grünen wollen es offenbar auch. In Wiesbaden versammeln sich die Delegierten hinter ihrem Kandidaten, geschlossen wie selten. So klar auf Regierungskurs – kaum Streit, kaum Kontroversen – hat man grüne Parteitage nicht oft erlebt. Für grüne Verhältnisse wirkt das fast zahm. Einer spricht das offen auf der Bühne aus. Er fürchte gar, dass die Grünen jetzt in der Hinterzimmerpolitik der Volksparteien angekommen sind.
In der Tat wurden einige Maximalforderungen hinter den Kulissen abgeräumt oder geglättet. Die Forderung nach einer Vermögensteuer bleibt vage. Die Forderung der Grünen Jugend, die Schuldenbremse ganz abzuschaffen, fand keine Mehrheit. Stattdessen setzen die Grünen auf eine Reform der Schuldenbremse. Damit könnte inzwischen auch die Union leben. Die Lockerungsübungen von CDU-Chef Friedrich Merz bei einem Wirtschaftsforum der "Süddeutschen Zeitung" zu dem Thema stoßen bei den Grünen in Wiesbaden auf offene Ohren.
Die Grünen gehen auf mögliche Koalitionspartner zu
Habeck gelingt es irgendwie noch, das Wort Vermögensteuer für Superreiche in den Kontext der Sozialen Marktwirtschaft zu bringen. Auch die neu gewählte Parteispitze, Felix Banaszak und Franziska Brantner, versuchen, die Hürden für mögliche Koalitionspartner nicht zu hoch zu hängen. Mit Habeck im Kanzleramt oder eben an der Seite von Merz. Ja, tatsächlich auch an der Seite des von vielen Grünen wenig geliebten Kanzlerkandidaten der Union.
Vergessen sind die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen mit dem Union-Fraktionschef im Deutschen Bundestag. Denn eines ist nicht zu überhören: Die Grünen wollen regieren. "Bloß keine Stillstands-Groko" ruft Brantner den Delegierten zu. Ein Seitenhieb in Richtung SPD. Die Grünen setzen auf Sieg oder Platz zwei. Aus ihrer Sicht auch okay. Hauptsache gestalten.
Wer regieren will, muss anschlussfähig sein
Doch dafür müssen sich die Grünen bewegen, auch bei den unangenehmen Themen. Dass ein Kanzler Merz eine härtere Gangart bei der Migration einfordern wird, ist fast schon selbstredend. Es gehört zur DNA der Union und es ist das noch nicht überwundene Trauma von 2015. Noch einen Kontrollverlust in dieser Frage wird die Union mit aller Macht versuchen zu verhindern. Eine stärkere Steuerung der Migration, Abschiebungen von Straftätern auch nach Syrien und Afghanistan dürfte vielen Grünen nicht gefallen. Konflikte vor allem mit der CSU wären praktisch vorprogrammiert.
In Wiesbaden versucht man das vorerst zu ignorieren. Die inhaltliche Ausrichtung für die Bundestagswahl soll in Kürze folgen. An diesem Wochenende geht es vielmehr darum, zu zeigen, dass die Grünen anschlussfähig sind. Manches Thema, etwa wie man die Wirtschaft wieder aus der Rezession holt, wird nur umrissen. Eine Fehleranalyse der vergangenen drei Regierungsjahre: Fehlanzeige. In Wiesbaden bleibt das vorerst aus.
Habeck auf Absprung als Wirtschaftsminister
Stattdessen wird der Wirtschaftsminister, dem man viele Frage zur schlechten Wirtschaftslage im Land stellen könnte und wohl auch müsste, auf der Bühne ins rechte Licht gesetzt. Lounge-Atmosphäre in der Parteitagshalle. Das Licht wird gedämmt. Habeck sitzt im Spot. Talk über Klimaschutz und grüne Wohlfühlthemen.
Auch in seiner Rede zuvor verzichtet Habeck auf die ganz harten Seitenhiebe gegen die Union, die FDP oder die SPD. Der Kanzlerkandidat Habeck sucht die größtmögliche Entfernung zum Wirtschaftsminister Habeck. Und hier in Wiesbaden scheint ihm das auch zu gelingen. Eine Botschaft nach innen, die offenbar funktioniert: 96 Prozent Zustimmung. Selbst die Harmonie zwischen Annalena Baerbock und Habeck wirkt plötzlich, als wäre es nie anders gewesen. Die Grünen setzen alles auf neu. Eine Politik des Machbaren. Eine, die die Menschen mitnimmt.
Keine Angebote für den Osten
Das wird vor allem in Ostdeutschland schwer. Die Landtagswahlen im Sommer haben das den Grünen schmerzlich vor Augen geführt. Ihre Politik verfängt hier nicht. Der Wendebonus der Bündnisgrünen ist längst aufgebraucht. Die Grünen stehen für viele Ostdeutsche für eine Politik der Bevormundung. Das Heizungsgesetz von Robert Habeck ist fast schon zu einem traurigen Sinnbild für eine verfehlte Politik geworden.
Das müssen sie korrigieren, wenn sie in Ostdeutschland jetzt und in Zukunft wieder sichtbar werden wollen. Die Erkenntnis ist immerhin schon da. Klimaschutz müsse nicht nur sozial gedacht werden. Er muss auch bezahlbar sein. So die Botschaft in Wiesbaden. Heißt: das Elektroauto muss finanzierbar sein. Politik für den kleinen Geldbeutel.
Wer, wie die Grünen Veränderungen will, sollte nicht vergessen, dass vor allem die Menschen in Ostdeutschland Veränderungen oftmals mit Angst verbinden. Manche haben die Veränderungen der Wendezeit bis heute nicht verkraftet. Andere wissen, wie groß die Anstrengung war, Fuß zu fassen in der neuen Arbeitswelt. All das wird jetzt Aufgabe der Wahlkämpfer sein.
Immerhin haben sich die Grünen nach dem Ampel-Aus erstaunlich schnell sortiert. Und vor allem SPD und FDP den Spiegel vorgehalten, wie schnell man sich von den Engen der Ampelprobleme befreien kann. Die wichtigste Aufgabe aber steht der Partei noch bevor: Jetzt müssen sie die inhaltlichen Brücken hin zu einem möglichen Koalitionspartner bauen. Im Winterwahlkampf wird sich zeigen, ob die Grünen tatsächlich ohne Schrammen aus dem Ampel-Krach rauskommen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 17. November 2024 | 19:30 Uhr