Unter der Lupe
Die Führungsriege der Grünen demonstriert Einigkeit (Bundesvorsitzende Omid Noutipour und Ricarda Lang sowie Annalena Baerbock) Bildrechte: ARD-Hauptstadtstudio/Reiner Freese, dpa

Unter der Lupe – die politische Kolumne Grüne Parteispitze unter Druck, aber die große Revolte bleibt aus

26. November 2023, 11:13 Uhr

Die Grünen unter Druck: Als Teil der Ampel-Koalition musste die Parteispitze zuletzt viel Kritik einstecken und viele Kompromisse machen. Das schmeckt der eigenen Basis nicht. Zu wenig Klimaschutz, zu wenige Sozialprojekte. In einem Brandbrief an die Parteiführung hatten einige Mitglieder ihrem Ärger Luft gemacht. MDR-AKTUELL-Hauptstadtkorrespondentin Kristin Schwietzer hat den Parteitag beobachet.

Kristin-Marie Schwietzer
Bildrechte: ARD-Hauptstadtstudio/Reiner Freese

Mehr Geld für den öffentlichen Nahverkehr, mehr Geld für die Kindergrundsicherung, mehr Umverteilung und Nein zu Verschärfungen beim Asylrecht. Das sind die Wünsche der Basis. In Karlsruhe werden sie immer wieder von der Bühne gerufen. In der ersten Reihe hören sie auch die Spitzen-Grünen Habeck, Baerbock, Nouripour, Lang, Lemke, Göring-Eckardt. Forderungen, die sie gut verstehen können. Und doch scheint vieles davon wie die berühmte Taube auf dem Dach: weit weg.

Grüne Jugend lehnt Kompromisse in Asylpolitik ab

Die Realität heißt Ampel. Und so müssen die grünen Spitzenpolitiker Spatzen für Tauben verkaufen und verteidigen, was sie in Berlin mitbeschlossen haben. Regierungsarbeit heißt eben auch: Machen, was möglich ist. Für manch einen an der Basis scheint das nur schwer erträglich. Und die Delegierten in Karlsruhe sagen es auch. Dass die Selbstvergewisserung an der eigenen Basis schwierig werden dürfte, wusste die Parteispitze nur zu gut.

Kein Wunder also, dass die heftigste Debatte auf eine Nachtsitzung verschoben wurde. Ein Antrag der grünen Jugend, der eine rote Haltelinie in der Asylpolitik forderte und keine weiteren Kompromisse, hatte es in sich. Das war auch Sprengkraft für die Bundespolitik. Mit dieser Botschaft wollten Habeck und Baerbock nicht in ihre Ministerien zurückreisen. Auch wenn der Antrag von Anfang an wenig Chancen auf Mehrheiten hatte, so zeigt er doch den Unmut an der eigenen Basis.

Klimaprojekte könnten auf der Strecke bleiben

Und es könnte noch härter werden. Nach dem Urteil von Karlsruhe ist jetzt auch noch der Kit weg, der die Ampel zusammenhält. 60 Milliarden Euro fehlen, womöglich auch für grüne Wunschprojekte. Die Weiterfinanzierung des Deutschlandtickets etwa könnte jetzt noch unwahrscheinlicher werden. Und einige Klimaprojekte könnten ebenfalls auf der Strecke bleiben.

Das Zwischenfunken von Christian Lindner aus der Ferne sorgte bei den Delegierten nur kurz für so etwas wie Aufbruchstimmung: Dass der Finanzminister für 2023 einen Nachtragshaushalt ankündigt und praktisch die Schuldenbremse aussetzt, weckt bei den Grünen in Karlsruhe Begehrlichkeiten. Weitere Ausnahmen für 2024 ebenfalls zuzulassen, das wünschen sich die grünen Delegierten. Und schon wachsen wieder die Hoffnungen. Plötzlich sitzen wieder ganz viele Tauben auf dem Dach.

Ostdeutsche Landesverbände erhoffen sich Rückenwind

Die Antwort aus dem Bundesfinanzministerium lässt nicht lange auf sich warten. Lindner verkündet an Tag zwei des Bundesparteitags der Grünen in Karlsruhe das Aus für die Energie- und Gaspreisbremse. Wieder eine Taube weg. Das wollen hier aber noch längst nicht alle akzeptieren. Einer der Bundesvorsitzenden, Omid Nouripour, holt die Delegierten ebenfalls in die Realität zurück. Es seien zwei aufreibende Jahre gewesen, aber "die beiden härteren kommen jetzt noch. Das wissen wir."

Die grüne Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta aus Sachsen will erstmal abwarten, wie die SPD auf die Herausforderungen beim Haushalt reagiert. Jetzt nur keinen neuen Streit vom Zaun brechen, finden vor allem viele Grüne aus dem Osten. "Regieren ist kein Wunschkonzert" sagt Piechotta. Auch die Grünen sollten jetzt offen bleiben für Vorschläge.

Die Landesverbände in Ostdeutschland erhoffen sich Rückenwind vom Bundesparteitag und der Europawahl. In Thüringen und Sachsen stehen schwierige Landtagswahlen vor der Tür. Da sind die Grünen in Regierungsverantwortung. Streit in Berlin ist da wenig hilfreich, Realpolitik schon eher. "Anschlussfähig bleiben", nennt das Cem Özdemir. Man müsse bei jeder Entscheidung auch immer an die denken, die demnächst in den Wahlkampf ziehen müssen.

Adenauer-Satz im Grünen-Programm

Also doch: Lieber gestalten, als auf der Oppositionsbank zu sitzen. Auch das schwebt über dem Parteitag. Das Wort "GroKo" macht die Runde. Davor wird an allen Stellen gewarnt. Die möglichen Pläne des Kanzlers, intern schon an einer Großen Koalition zu arbeiten, wirken wie eine stille Drohung. Das lässt die Grünen offenbar nicht kalt. Wohl auch deshalb arbeiten sich die Delegierten und die Parteispitze in Karlsruhe an der Union und ihrem Vorsitzenden ab. Robert Habeck sieht die CDU als "eine Partei von gestern, mit einem Vorsitzenden von vorgestern".

Eine Delegierte nimmt das ganz genau und will einen Satz aus dem Programm schmeißen. Im Antragstext des Bundesvorstandes wird ein CDU-Vorsitzender von vorvorgestern zitiert, Konrad Adenauer. Da heißt es mit Blick auf die europäische Idee: "'Diese Einheit war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.' Was Konrad Adenauer vor rund 70 Jahren sagte, könnte aktueller kaum sein."

Ganz große Revolte bleibt aus

Ungeheuerlich findet das Lucie Schröder aus Berlin. Der Satz soll raus, weil Adenauer nicht für grüne Ideen stehe. Adenauer war mit Sicherheit kein Feminist räumt Kulturstaatsministerin Claudia Roth ein. Sie muss für die Parteispitze die Gegenrede halten. Adenauer habe aber als erster deutscher Kanzler nach dem Zweiten Weltkrieg die Hände ausgestreckt, zur Versöhnung beigetragen. Ihre Rede bleibt ohne Erfolg. Der Satz kommt weg. Der Gründungsvater der CDU fliegt aus dem Europawahlprogramm der Grünen.

Auch eine Botschaft aus Karlsruhe. Manches wirkt trotzig. Die ganz große Revolte aber bleibt aus. Kritik an SPD und FDP hört man hier kaum. Da sind alle sehr diszipliniert. "Machen, was zählt."  ist das Motto beim Bundesparteitag der Grünen. Am Ende überwiegen die Bewerbungsreden fürs Weiterregieren. Und das geht eben nur mit Kompromissen. Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach, die kann eben auch mal schnell wegfliegen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 26. November 2023 | 10:05 Uhr

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