Nach Landtagswahlen Habeck lobt Rücktritte von Grünen-Chefs Lang und Nouripour und sucht Neuanfang
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16. Oktober 2024, 12:06 Uhr
Die Grünen-Spitze zieht nach den Misserfolgen der Partei bei mehreren Landtagswahlen nun Konsequenzen. Der Parteivorstand tritt geschlossen zurück. Zur Begründung hieß es, die Partei brauche einen Neuanfang. Der Vorstand der Grünen Jugend trat gleich ganz aus der Partei aus.
- Habeck lobt "großen Dienst an der Partei"
- Reaktionen der Grünen und in anderen Parteien
- Personelle Konsequenz aus Wahlniederlagen
Die Grünen-Bundesvorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour treten zurück. Das kündigten sie auf einer Pressekonferenz in Berlin an. Nouripour sagte, die Partei sei in einer tiefen Krise und brauche einen Neustart. Auf dem Parteitag Mitte November im hessischen Wiesbaden solle ein neuer Vorstand gewählt werden. Lang ergänzte, es brauche neue Gesichter, um die Partei aus der Krise zu führen. Jetzt sei nicht die Zeit, am eigenen Stuhl zu kleben.
Es braucht neue Gesichter, um die Partei aus dieser Krise zu führen. Jetzt ist nicht die Zeit, am eigenen Stuhl zu kleben.
Lang und Nouripour waren seit Ende Januar 2022 die Vorsitzenden der Grünen. Wer auf sie folgen soll, ist offen. Im Gespräch war unter underem die Staaatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium, Franziska Brantner.
Vorstand der Grünen Jugend tritt aus
Der Vorstand der Grünen Jugend kündigte an, geschlossen aus der Partei auszutreten und eine eigene linke Bewegung gründen zu wollen. Die Vorsitzenden der Nachwuchsorganisation, Svenja Appuhn und Katharina Stolla, erklärten in einem Schreiben an die Grüne Führung, dass sie nicht davon ausgehen, dass eine personelle Neuaufstellung zu den gewünschten inhaltlichen Veränderungen führen werde. Der gesamte Bundesvorstand werde nicht erneut kandidieren und am Donnerstag aus der Partei austreten. Die Entscheidung sei bereits vor der Bekanntgabe des Rücktritts des Grünen-Parteivorstands gefallen.
Habeck lobt "großen Dienst an der Partei"
Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck hat die angekündigten Rücktritte des Parteivorstands der Grünen als "großen Dienst an der Partei" bezeichnet. Das zeuge von großer Stärke und Verantwortung, da so der Weg frei werde "für einen kraftvollen Neuanfang". Zugleich sagte Habeck: "Wir tragen hier alle Verantwortung, auch ich. Und auch ich will mich ihr stellen." Er wolle auf dem Parteitag "eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl".
Die Grünen-Co-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann sieht den Rücktritt der Parteivorsitzenden ebenfalls als Ausgangspunkt für eine Neuaufstellung der Grünen. "Wichtig ist für uns, Vertrauen, das verloren gegangen ist, zurückzugewinnen, indem wir uns strategisch darauf ausrichten, was jetzt nötig ist", sagte sie im ARD-Morgenmagazin. Natürlich befinde sich die Partei in einer ernstzunehmenden Lage, räumte Haßelmann ein. Nötig sei nun Klarheit, Ruhe und Stabilität.
Die Grünen wollten bei ihrem Parteitag im November in Wiesbaden auch entscheiden, ob sie bei einer Bundestagswahl im Jahr 2025 einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken oder nur mit einem Spitzenkandidaten antreten. Da Außenministerin Annalena Baerbock erklärt hatte, dieses Mal nicht an der Spitze stehen zu wollen, könnte es auf Habeck hinauslaufen.
Reaktionen aus den Ländern
Die Bundestags-Fraktionschefinnen der Grünen, Katharina Dröge und Britta Haßelmann, dankten Lang und Nouripour für ihre Arbeit. Der frühere Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter forderte eine Debatte auch über die Strategie.
Die Chefin der Landtagsfraktion der Grünen in Sachsen-Anhalt, Cornelia Lüddemann, sagte dem MDR, sie sei zwar überrascht, könne die Entscheidung aber nachvollziehen: "Einen deutlichen Neustart zu ermöglichen, da habe ich Hochachtung davor." Neben neuen Gesichtern brauche die Partei auch eine neue Taktik. Es sei wichtig, "dicht an den Menschen zu arbeiten".
Ähnlich äußerte sich Sachsen-Anhalts Landeschefin Madeleine Linke: Die Grünen müssten "wieder mehr Politik an der Lebensrealität der Menschen machen", brauchten einen Neustart, "personell und dazu eine tiefergehende Analyse zu dem Vertrauensverlust, den wir gerade erleben".
Die Grünen in Thüringen bezeichneten die Entscheidung als respektabel. Es sei ein großer und richtiger Schritt nach den herben Niederlagen bei den Landtagswahlen, sagte Landessprecherin Ann-Sophie Bohm. Madeleine Henfling, Spitzenkandidatin zur Thüringer Landtagswahl, wertete den gemeinsamen Rücktritt als konsequentes Vorgehen, das Respekt verdiene. Für die strategische Ausrichtung müsse jetzt aber alles auf den Prüfstand.
Reaktionen bei den Koalitionspartnern
Die SPD-Spitze dankte Lang und Nouripour für die Zusammenarbeit der vergangenen Jahre. Die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil sagten der "Rheinischen Post": Trotz inhaltlicher Unterschiede "war diese Partnerschaft sehr angenehm". Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth äußerte, Lang und Nouripour hätten mit ihrem Schritt "Mut und Haltung" bewiesen.
FDP-Chef Christian Lindner sprach Lang und Nouripour seinen Respekt aus. Die Zusammenarbeit mit beiden sei "menschlich immer fair" gewesen, schrieb der Bundesfinanzminister auf X, erklärte aber auch: "Wir sind gespannt, ob unter neuer Führung ein neuer Kurs entsteht." Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD erwartet nach Angaben eines Sprechers indes keine Auswirkungen der Rücktritte bei den Grünen auf die Arbeit der Ampel-Koalition.
Union und AfD fordern Neuwahlen
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sah in dem Rücktritt erneut einen Anlass, die Ampel-Regierung zu vorgezogenen Neuwahlen aufzufordern. "An Neuwahlen führt kein Weg vorbei", sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck schade "unserem Land." CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, das Problem seien nicht die Grünen an der Parteispitze, sondern die in der Regierung.
AfD-Chefin Alice Weidel wertete den Rücktritt als "Anfang vom Ende der Ampel". Bundeskanzler Olaf Scholz müsse jetzt "die Vertrauensfrage stellen". Deutschland brauche Neuwahlen.
Herbe Verluste bei vier Wahlen
Die Grünen hatten bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg herbe Verluste eingefahren. In Thüringen und Brandenburg scheiterte die Partei jeweils an der Fünf-Prozent-Hürde und ist nicht mehr in den neuen Parlamenten vertreten. In Sachsen gelang der Wiedereinzug in den Landtag knapp. Auch bei der Europawahl im Juni hatten die Grünen deutlich verloren und waren nur noch auf 11,9 Prozent gekommen, nach ihren 20,5 Prozent 2019 als zweitstärkste Kraft in Deutschland hinter der Union.
dpa/AFP, MDR (aju, ksc)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 25. September 2024 | 11:00 Uhr