Sozialreportage Arme Menschen im reichen Dresden: "Das ist kein guter Platz zum Sein"
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04. April 2024, 18:00 Uhr
Der Soziologe Marcel Helbig hat in seiner Studie "Hinter den Fassaden" herausgefunden, dass sich Armut immer stärker ballt – besonders in ostdeutschen Städten. Während im Dresdner Stadtteil Loschwitz/Wachwitz nur 40 Erwachsene Sozialleistungen erhielten, sind allein in Gorbitz-Süd und Prohlis-Süd jeweils mehr als 2.000 Erwachsene davon abhängig. Das ist jeder Dritte in diesen Vierteln. Was das für die Menschen bedeutet und wie sich soziale Gräben durch eine Stadt ziehen, zeigt Katrin Tominski.
- Eine Studie analysiert: In den Plattenbauvierteln, besonders in Ostdeutschland, ballt sich Armut. In Dresden hat diese sogenannte soziale Segregation stark zugenommen.
- Ein Ortsbesuch im Stadtteil Gorbitz zeigt: Das Viertel ist sehr grün, Bäume blühen. Doch die Menschen kritisieren Kriminalität und Drogenhandel, fühlen sich oft von der Stadt und der Polizei allein gelassen.
- Wer kann, zieht weg, nur wenige sind in Neubausiedlungen zufrieden.
Meine Recherche beginnt mit Falco. Auf dem Weg mit dem Fahrrad nach Gorbitz steht er in der Hauptstraße, 100 Meter vom Goldenen-Reiter-Standbild, einem barocken Touristenwahrzeichen der Stadt. Falco verkauft das Obdachlosenmagazin "Drobs". "Ja, klar, bin ich arm", sagt er. "Ich bekomme im Monat 94 Euro EU-Rente. Damit können Sie nicht so viel anfangen. Das Essen friere ich ein, ich kann es mir nicht leisten, irgendetwas wegzuwerfen. Erst recht nicht jetzt, wenn es so teuer ist."
Armut in der Hauptstraße – mitten im Zentrum
Falco freut sich über den Plausch, setzt sich und erzählt. Mit 18 sei er zuhause rausgeflogen, dann bei den Punks und schließlich auf der Straße gelandet. Zwischenstopp in Rostock, Straße und Obdachlosenheim und schließlich die Rückkehr nach Görlitz. "Ich bin in Zittau geboren. In Löbau leben viele meiner Geschwister und in Görlitz gab es günstige Wohnungen", erzählt er.
Falco hat 13 Geschwister und feiert im Mai 36. Geburtstag. Die Miete für seine Wohnung zahle das Amt. "Noch", sagt er. Es werde überlegt, ob die Bedürftigen diese Kosten nicht selbst übernehmen könnten. "Wenn das passiert, landen Tausende auf der Straße. Darauf habe ich keinen Bock mehr, ich habe Jahre auf der Straße gelebt." Zehn Minuten nach meinem Start das erste Armutsschicksal, mitten im Zentrum.
Die Neubaublöcke in Gorbitz
Doch ich will nach Gorbitz, genauer gesagt nach Gorbitz-Süd. Das Plattenbauviertel im Dresdner Südwesten gehört laut Dresdner Statistikstelle aus dem Jahr 2022 zu den Vierteln mit den meisten Menschen, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Allein in Gorbitz-Süd sind es mehr als 2.000 Erwachsene, im gesamten Stadtteil etwa 4.300 Bedürftige, Kinder nicht mit eingerechnet. Ähnliche Dimensionen finden sich in Prohlis, in der Südvorstadt, doch auch in Leuben sind die Zahlen hoch. Zugespitzt formuliert, überall dort, wo es Plattenbausiedlungen gibt.
In den Plattenbauten herrscht die Armut einer Stadt
"Wenn ich weiß, wo in den ostdeutschen Städten die Großwohnsiedlungen, die sogenannten 'Plattenbauten', stehen, dann weiß ich auch, wo die Armen wohnen und wo es wenige AkademikerInnen und BezieherInnen mit hohen Einkommen gibt", erklärt Soziologe Marcel Helbig. "Die soziale Spaltung zwischen Stadtteilen mit Plattenbauten und anderen Quartieren ist immer größer geworden." Auch kleinere Städte seien betroffen, das Phänomen sei nicht auf Großstädte beschränkt.
Wenn ich weiß, wo in den ostdeutschen Städten die Großwohnsiedlungen, die sogenannten 'Plattenbauten', stehen, dann weiß ich auch, wo die Armen wohnen.
Helbig hat an der Uni Erfurt und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung die Professur "Bildung und soziale Ungleichheit" inne. Jetzt hat er eine neue Studie vorgelegt und 153 Städte in Deutschland untersucht. Das Ergebnis: Armut insgesamt ging in den vergangenen Jahren deutlich zurück. Doch dort, wo es sie gibt, ballt sie sich immer stärker. Dresden gehört neben Halle, Schwerin und Magdeburg zu den Städten, in denen die soziale Segregation (soziale Spaltung) besonders stark zugenommen hat. Aber auch Salzgitter und Gelsenkirchen in Westdeutschland gehören dazu.
Mit der Tram an den Amalie-Dietrich-Platz
Weil ich mich mit dem Fahrrad nicht den Berg hochquälen will, steige ich in die Straßenbahn. Eine junge, perfekt geschminkte Muslima in weißem Pullover, langem Rock und weißem Hidschab plaudert mit ihrer Mutter und blickt abwechselnd in die Bahn und den Gorbitzer Frühling hinaus. Eine Familie mit drei Kindern erörtert das bevorstehende Abendbrot, eine ältere Dame ruckelt ihre Einkaufstüten zurecht. Am Zentrum des Gorbitzer Süden, dem Amalie-Dietrich-Platz steige ich aus.
Vor mir erblicke ich einen neugebauten Netto-Markt mit moderner Pflanzenarchitektur. So etwas kenne ich nur aus Amsterdam, in Deutschland hatte ich das bislang nie gesehen. Der Platz zeigt sich friedlich, eine Migranten-Gruppe bespricht sich fröhlich. Obstbäume am Fußweg neben der Bahn tauchen das Viertel in weiße und rosafarbene Blütenpracht. Von der Anmutung her könnte sich hier auch ein teures Viertel mit Eigentumswohnungen befinden. Auf einer Bank treffe ich zwei Damen mit Hund. Und schon bekommt der Blütentraum erste Risse.
Lärm, Drogen, Raub – und blühende Obstbäume
"Die Wohnung ist toll, doch das Umfeld ist katastrophal", schimpft Rita* gleich los, als freue sie sich, endlich alles loszuwerden. "Viele benehmen sich hier überhaupt nicht." Es werde in der Nacht geschrien, Blumen herausgerissen, mit Drogen gedealt. "Ständig knallt es. Hinten auf dem Fitnessplatz liegen ganz viele Hülsen. Drüben auf der anderen Seite ist es noch schlimmer." Rita will wie viele andere Protagonisten nicht mit ihrem richtigen Namen erscheinen. "Sind Sie wahnsinnig? Ich werde hier erkannt!". Kein Bild, kein Ton. Rita will auf Nummer sicher gehen.
Die Wohnung ist toll, das Umfeld ist katastrophal.
Im Jahr 2020 ist sie in eine kleine Wohnung am Leutewitzer Ring gezogen, doch schon vorher wohnte sie in Gorbitz. "In den letzten 30 Jahren hat sich hier alles zum Negativen entwickelt." Erst neulich sei eine Seniorin überfallen und ihr die Schulter gebrochen worden. "Die bieten an, die Taschen zu tragen und begleiten alte Menschen im Fahrstuhl und ehe Sie sich versehen, sind die ausgeraubt."
Wo sind die Polizisten hin?
Ihre Begleiterin Christine*, die ihren Namen auch nicht nennen will, bestätigt ihre Nachbarin. "Als Frau ist es nicht einfach. Ich traue mich nicht mehr, im Dunkeln rauszugehen." Christine lebt eher unfreiwillig in Gorbitz. Nach einem Wasserschaden in ihrer alten Wohnung in Cotta sollte Gorbitz eine Übergangslösung sein. Jetzt lebt sie neun Jahre hier. "Man findet nichts Bezahlbares mehr", sagt sie. Jetzt kommt Rita richtig in Fahrt. "Drehen Sie sich nur um: Dort die Kneipe ist eine einzige Spelunke. Hier wird mit Drogen gedealt. Sonntagfrüh um 7 Uhr rücken hier viele Jugendliche ein."
Schon oft habe sie die Polizei und das Ordnungsamt gerufen, auch die Denkmalschutzbehörde. Das Gebäude wird als Architektur der Ostmoderne geschützt. Doch immer hieß es, man habe zu wenig Personal, man könne nichts machen. "Das verstehe ich nicht", sagt Rita. "Wir fühlen uns allein gelassen. Es ist so schade, es gibt ja hier auch so viele Menschen, die sich Mühe geben."
Stippvisite im Gorbitzer Krug
Ich will im Lokal namens Gorbitzer Krug zur Drogenkriminalität nachfragen. "Gehen Sie dort nicht rein", ruft Rita entsetzt. Doch da öffne ich schon die Tür. Im Grunde mag ich Kneipen. Gleich hinter dem Eingang zockt ein Jugendlicher an zwei Spielautomaten aus denen schrecklich dumpfe, desillusionierende elektronische Blubbergeräusche kommen. Herzlich willkommen in den 1990er-Jahren.
Wie alt sind Sie, frage ich den Mann. "19 Jahre", antwortet er schnell. Ein bisschen zu schnell. Ich hätte ihn auf 16 geschätzt. In der Kneipe sitzen drei Männer an verschiedenen Tischen. Alle haben ein Bier vor sich stehen, einer liest Zeitung. Inhaber Nguyen Ban Tuan spielt mit seinem Kumpanen Billard, auch er trinkt Bier. Als ich eintrete, sehen mich die sechs Männer an, als käme ich aus einer anderen Welt.
Bier statt Essen
Ban Tuan erzählt, er ist 1987 als Gastarbeiter in die DDR gekommen und hatte im Sachsenwerk gearbeitet. Weil er zwischendurch seine Familie gegründet hatte, wollte er nach der Wiedervereinigung nicht nach Vietnam zurück. Er hat vier Kinder und drei Enkel. Und warum verkauft er in der Kneipe nur Bier und kein Essen, frage ich. Das scheint ihn etwas nervös zu machen. Er ruft seinen Sohn an. Mein Blick fällt auf ein Schild hinter dem Tresen. Geöffnet bis 23 Uhr. Am Telefon erklärt mir der Sohn in akzentfreiem Deutsch, für die Gastronomie würden die Voraussetzungen fehlen.
"Mischen Sie sich nicht ein!"
Wie sieht es aus mit Drogen? Werden hier Drogen verkauft? "Darüber kann ich nichts erzählen. Darüber weiß ich nichts", erklärt der Sohn. Er lebe mit seiner Mutter und Schwester nicht mehr beim Vater. Was meint Ihr Vater, wollen Sie noch einmal übersetzen? Ich reiche das Telefon wieder Ban Tuan und bekomme es nach einer halben Minute zurück. "Mein Vater will ungern etwas dazu sagen", erklärt der Sohn. Wir legen auf. Plötzlich steht einer der Männer auf und schreit und lallt mich an: "Mischen Sie sich hier nicht ein!"
Mo: "Ich will hier weg"
Draußen läuft Mo* durch den Frühling. Er ist gerade 18 Jahre alt geworden, macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Seit neun Jahren lebt er hier, bald zieht er nach Gruna. "Ich will hier weg, mir gefällt es hier nicht. Ständig wird geklaut", sagt er. Sein Fahrrad hätte er auch schon verloren. "Das ist kein guter Platz zum Sein." Ein 18-Jähriger Deutsch-Vietnamese, der anonym bleiben will, meint: "Wenn ich könnte, würde ich woanders leben." Leider sei es schwierig, woanders eine Wohnung zu finden. "Die Konflikte zwischen den Gruppen junger Menschen nehmen immer mehr zu.
Von "Endlich-Warmwasser" zum Problemviertel
Soziologe Helbig kennt dieses Phänomen: "Je nach Stadt leben im Osten zwischen 25 und 50 Prozent der Gesamtbevölkerung in Großwohnsiedlungen. Diese wurden oft für die Arbeitenden der großen Kombinate gebaut. Nach deren Zerschlagung kam es zu einer starken Abwanderung und einer Ballung von Arbeitslosigkeit", erklärt er. In die seitdem sowieso sozial benachteiligten Quartiere würden seit 2014 wegen des günstigen Wohnraums viele Migranten ziehen oder auch direkt zugewiesen.
Afrikanische Kinder zwischen Neonazis
Auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum Sachsen-Forum treffe ich eine Gruppe junger Mütter. Wie fühlen Sie sich in Gorbitz? "Über mir wohnen Neonazis und ich habe zwei afrikanische Kinder. Können Sie sich vorstellen, wie es mir geht", fragt die 28-jährige Emilie*, die wie die anderen auch, ihren richtigen Namen nicht nennen will. "Ich weiß nicht, was die machen, wenn die mich erkennen." Emilie konnte sich ihre Wohnung im Stadtteil Friedrichstadt nicht mehr leisten. Deswegen ist sie nach Gorbitz gezogen.
Sie spricht drei Sprachen und engagiert sich in einem afrikanischen Verein. "Ich habe ein Scheiß-Haus erwischt", erklärt sie pragmatisch. Erst neulich hätten sechs maskierte Polizisten bei ihrer Nachbarin vor der Tür gestanden. Vorwurf: Drogenhandel. Ein Umzug? "Kommt erst einmal nicht in Frage, erst kümmere ich mich um einen Job." Das sei allerdings nicht so leicht als Alleinerziehende. Die erste Frage der Chefs sei immer: "Was machen Sie mit den Kindern, wenn Sie krank sind?"
Das gibt es auch: "Wir fühlen uns hier wohl"
Emilies Bekannte Katrin ist eine der wenigen, die mir ihren richtigen Namen nennt. Sie arbeitet als Gemeindepädagogin in Dippoldiswalde, ihr Mann ist Industriemechaniker. Auch Katrin hat eine binationale Familie. Ihr Mann stammt aus einem afrikanischen Land, sie haben drei Kinder und leben in einer großen Wohnung in Gorbitz. "Wir fühlen uns wohl", erklärt sie. "Wir bleiben hier, gerade weil hier viele Migranten leben." Hoffnung am Horizont. Als ich gegen 18 Uhr wieder fahre, taucht die Frühlingssonne nach dem Schauer am Mittag das Viertel in wundervolles Licht. Da beugt sich ein Flaschensammler Mitte 40 über den nächsten Papierkorb. Seine Plastiktasche ist noch leer.
* Namen von der Redaktion auf Wunsch geändert. Die Protagonistinnen und Protagonisten befürchten Stigmatisierung und Gewalt.
Die Studie zum Nachlesen finden Sie hier.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nachrichten | 04. April 2024 | 21:45 Uhr