Weniger Abgeordnete Bundestag beschließt die umstrittene Wahlrechtsreform

17. März 2023, 21:25 Uhr

Ausgleichs- und Überhangmandate haben den Bundestag immer größer werden lassen. Eine von SPD, Grünen und FDP entworfene Wahlrechtsreform soll das ändern und eine Größe von 630 Abgeordneten festschreiben. Union und Linke kritisieren, wie dieses Ziel erreicht werden soll, und wollen den Bundestagsbeschluss in Karlsruhe prüfen lassen.

Der Bundestag hat die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition mit deren Mehrheit beschlossen – mit 400 gegen 261 Stimmen bei 23 Enthaltungen. Der Gesetzentwurf von SPD, Grünen und FDP sieht vor, dass der zuletzt schon auf 736 Abgeordnete angewachsene Bundestag ab der nächsten Wahl dauerhaft auf eine Gesamtzahl von 630 Mandaten verkleinert wird.

Das wären immer noch mehr als die im Bundeswahlgesetz bisher genannte Sollgröße von 598 Abgeordneten. Nach der Ablehnung eines ersten Ampel-Vorschlags durch die Union, in dem die Streichung der Grundmandatsklausel nicht enthalten war, legte die Regierungskoalition einen neuen Entwurf vor.

Ende von Ausgleichs- und Überhangmandaten

Unter anderem soll nun auf Überhang- und Ausgleichmandate verzichtet werden, die bislang für das Anwachsen des Bundestags gesorgt hatten. Die Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über Direktmandate mehr Sitze im Bundestag bekommt, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis an sich zustünden. Bisher dürfen alle direkt gewählten Abgeordnete diese Sitze behalten und andere Parteien bekommen dafür Ausgleichsmandate.

Die Koalition will das Verhältnis allerdings nicht dadurch wahren, dass künftig die Kandidaten und Kandidatinnen von den mit der Zweitstimme gewählten Parteien-Listen auf Sitze verzichten. Sie will vielmehr Wahlkreis-Mandate streichen und auch ein Ende der Grundmandatsklausel.

Damit könnte es künftig vorkommen, dass einzelne Wahlkreise nicht mehr direkt im Bundestag vertreten sein werden, weil der Gewinn eines Direktmandats den Einzug des Kandidaten oder der Kandidatin in den Bundestag nicht mehr in jedem Fall garantiert.

Kontroverse um die Wahlkreis-Stimme

Genau das kritisierten vor allem CDU und CSU sowie die Linke. Die Union hatte mit vielen Direktmandaten häufig auch viele Überhangmandate. Und die Linke ist aktuell nur wegen der Grundmandatsklausel im Bundestag.

So warf CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt der Koalition einen "Akt der Respektlosigkeit" gegenüber den Wählern und der Demokratie vor: "Sie machen eine Reform für sich selbst", sagte er.

Die Ampel-Koalition stelle das "Existenzrecht der CSU in Frage" und wolle die Linke "aus dem Parlament drängen", sagte Dobrindt. Und für die Linke sprach deren Parlaments-Geschäftsführer Jan Korte vom "größten Anschlag auf das Wahlrecht seit Jahrzehnten", von dem die Regierungsparteien profitierten. Er und die Union kündigten den Gang vor das Bundesverfassungsgericht an: "Wir werden uns in Karlsruhe sehen", schloss Korte seine Rede.

"Systementscheidung" pro Verhältniswahl

Dagegen verweisen Befürworter der Reformpläne unter anderem auf eine veränderte Parteienlandschaft. Gewinnerinnen und Gewinner der Wahlkreise hatten bei der vergangenen Bundestagswahl tatsächlich häufig weniger als 40 Prozent der Stimmen in ihrem Wahlkreis, einige weniger als 30 Prozent.

So sprach denn der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Sebastian Hartmann, Obmann seiner Partei in der Wahlrechtskommission, vor der Abstimmung von einer "klaren Systementscheidung", die den Gedanken des Verhältniswahlrechts stärke. Auch der FDP-Politiker Konstantin Kuhle betonte, dass nur noch so viele Abgeordnete in den Bundestag kommen, wie ihre Parteien an Zweitstimmen gewinnen. Und die Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann sagte, der Vorschlag sei "fair und verfassungsgemäß".

Der AfD-Abgeordnete Albrecht Glaser sprach in der Debatte am Freitag von einem Werk der SPD, die sich davon einen Vorteil erhoffe – nach dem Motto "erst die Partei, dann das öffentliche Wohl".

Sitzverteilung nach Reformplänen

SPD, Grüne und FDP verteidigen ihre Reformpläne auch damit, dass die Verkleinerung alle Parteien gleich treffe. Wie sich die Sitzverteilung geändert hätte, wäre das bereits bei der Wahl 2021 so gewesen, hat Wahlforscher Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung ausgerechnet.

Demnach wäre die SPD auf 188 der Mandate gekommen, die CDU auf 138 und die CSU auf 38, die Grünen auf 107, die FDP auf 83, auf 75 die AfD und auch der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein auf ein Mandat. Durch diese Reform müssten also alle Fraktionen gleichermaßen Sitze abgeben, sagte Vehrkamp.

Auch Grundmandatsklausel soll entfallen

Am meisten davon getroffen wäre also tatsächlich die Linke, die bei der Bundestagswahl 2021 von der sogenannten Grundmandatsklausel, von einer Ausnahme bei der Frünf-Prozent-Hürde profitierte: Durch ihre drei Direktmandate konnte sie als Fraktion mit 39 Abgeordneten in den Bundestag einziehen, obwohl sie mit 4,9 Prozent eigentlich draußen geblieben wäre.

Nach dem Ampel-Entwurf soll die Fünf-Prozent-Klausel nun aber strikt gelten und die Grundmandatsklausel entfallen – möglicherweise aber erst, nachdem das Bundesverfassungsgericht sich das alles noch einmal angesehen hat.

dpa, AFP, MDR (rnm, ksc)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 17. März 2023 | 07:30 Uhr

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