Mann mit Messer angriffsbereit
Die meisten Messerangriffe gehen laut Kriminologen Dirk Baier von Männern aus. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO/Panthermedia

Kriminologe im Interview Messerangriffe in Deutschland: "Gesetze werden das Problem nicht lösen"

26. August 2024, 09:35 Uhr

Die Zahl der Messerangriffe in Deutschland steigt – das zeigen die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik. Doch Kriminologe Dirk Baier erklärt, die Zahlen seien wenig belastbar. Im Interview mit MDR AKTUELL hat Baier schon im Juli – nach den Messerangriffen in Mannheim und Wolmirstedt – erklärt, warum er wenig von Waffenverbotszonen und schärferen Gesetzen hält, welche Bedeutung etwaige Migrationshintergründe der Tatverdächtigen haben und wie er die Rolle von Politik und Medien einschätzt.

Elisabeth Winkler
Bildrechte: MDR/Elisabeth Winkler

MDR AKTUELL: Mannheim, Wolmirstedt, Frankfurt – seit diesen Gewalttaten geht in den letzten Wochen das Thema Messerangriffe wieder durch die Medien. Haben wir ein Problem mit zunehmender Messergewalt?

Dirk Baier: Die Frage ist, was man als Problem definiert. Schon eine schwere Tat gibt natürlich Anlass, darüber nachzudenken, wie so etwas passieren konnte. Statistisch ist es aber sehr schwierig zu sagen, es gebe einen signifikanten Trend.

Zur Person: Dirk Baier Kriminologe Prof. Dr. Dirk Baier leitet seit 2015 das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover. Er ist in Sachsen geboren und aufgewachsen und hat in Chemnitz Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaften studiert.

Aber die Zahlen in den Polizeilichen Kriminalstatistiken zeigen ja schon einen Anstieg – bundesweit und auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Die Zahlen zu Messerangriffen werden erst seit 2021 systematisch erhoben. Die Zahlen der Jahre 2020 und 2021 sind daher aus meiner Sicht mit Unsicherheiten behaftet, weil sich überall erst eine einheitliche Routine bei der Erfassung dieser Delikte etablieren musste.

Die aktuellen Zahlen könnten zudem auch deshalb höher ausfallen, weil wir seit einiger Zeit intensiver über den Messereinsatz reden und daher auch möglicherweise mehr solche Delikte zur Anzeige kommen. Ich wäre daher noch vorsichtig, von einem Trend zu sprechen. Nicht vorsichtig muss man aber bezüglich der Einschätzung sein, dass Messergewalt ein relevantes Problem ist und niedrigere Zahlen eindeutig wünschenswert wären.

Wie aussagekräftig ist denn die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) im Allgemeinen in Bezug auf das Kriminalitätsgeschehen in Deutschland?

Das ist unterschiedlich, weil die Anzeigebereitschaft je nach Delikt stark variiert. Sexuelle Gewaltdelikte etwa werden zu maximal fünfzehn Prozent angezeigt, 85 Prozent der Fälle bleiben im Dunkelfeld. Das heißt, wenn die Anzeigebereitschaft um einen Prozentpunkt steigt, steigen die Fälle in der Kriminalstatistik um einen Prozentpunkt. Aber eigentlich sind gar nicht mehr Delikte passiert: Die Anzeigebereitschaft hat sich verändert, nicht das Gewaltverhalten. Also bei solchen Delikten ist die PKS nur bedingt aussagekräftig.

Auch im Bereich Drogenkriminalität muss man große Vorsicht walten lassen, weil das im Prinzip Kontrolldelikte sind. Das heißt, wenn die Polizei am Wochenende Schwerpunktkontrollen an Bahnhöfen macht, dann haben die ruckzuck hunderte Drogendelikte festgestellt.

Bei manchen Delikten ist das Dunkelfeld aber sehr klein, da sind die Zahlen ganz gut zu gebrauchen: schwere Körperverletzungen oder Raubdelikte zum Beispiel. Ich bin tatsächlich kein Fan davon, die Kriminalstatistik pauschal zu kritisieren. Es ist die einzige Statistik, die wir über Jahrzehnte haben. Aber man muss bewusst damit umgehen und wissen, dass die Polizei da eben auch mittut.

Dass die Polizei da mittut?

Sie kontrolliert Personen und deckt dadurch Straftaten auf. Ihr Kontrollverhalten hat also direkte Auswirkungen auf die Zahlen der PKS. Und dann ist die Frage, welche Delikte genau innerhalb der einzelnen Dienststellen registriert werden, das ist eine Blackbox. Die Polizei ist diejenige Institution, die diese Statistik führt. Und damit kann sie die auch manipulieren. Aber dazu gibt es keine empirische Forschung, nur Vermutungen, deswegen bin ich da zurückhaltend mit Vorwürfen.

Kritik an der Polizeilichen Kriminalstatistik Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird von Kriminologen immer wieder als "problematische Datengrundlage" für das Kriminalitätsgeschehen in Deutschland bezeichnet.

So etwa von Kriminologe Martin Thüne, der im Interview mit der "Frankfurter Rundschau" erklärte: "Die PKS ist unvollständig, verzerrt, potenziell manipulierbar und ungewichtet. Ich würde stark dafür plädieren, dieses PKS-System radikal infrage zu stellen, sich zusammenzusetzen und etwas Neues zu entwickeln".

Gründe für Kritik an der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS):

  • Die PKS ist zunächst ein Tätigkeitsbericht der Polizei. Das heißt, in ihr sind Straftaten erfasst, die von der Polizei bearbeitet wurden. Sie gibt aber keinen Aufschluss darüber, ob es in diesen Fällen auch zu Verurteilungen kam.
  • Außerdem zeigt sie nur das Hellfeld, also die Taten, die der Polizei bekannt sind. In vielen Deliktbereichen ist das nur für einen Bruchteil der begangenen Straftaten der Fall. Delikte, die nicht zum Aufgabenbereich der Polizei gehören (z.B. Finanz- und Steuerdelikte), sind ebenfalls nicht in der PKS enthalten.
  • Bestimmte Kategorien der PKS sind irreführend. Die Unterscheidung "deutsch" bzw. "nicht-deutsch" gibt zum Beispiel nur an, welche Tatverdächtigen die deutsche Staatsbürgerschaft haben und welche nicht. Das heißt "nicht-deutsche" Tatverdächtige können Geflüchtete sein, die seit kurzer Zeit im Land sind, aber eben auch Touristen, ausländische Studierende oder Menschen, die schon seit Jahren mit einer Duldung hier leben. Dazu kommt, dass Menschen, die als "nicht-deutsch" wahrgenommen werden, Studien zufolge häufiger kontrolliert und angezeigt werden – sie sind also in der Statistik überrepräsentiert.
  • Die PKS wird darüber hinaus leicht durch Veränderungen der Datenerfassung verzerrt. Gibt es zum Beispiel mehr Polizeikontrollen, dann werden auch mehr Straftaten registriert, die Zahlen der PKS steigen. Das heißt aber nicht, dass es plötzlich mehr Straftaten gab, nur dass Straftaten die sonst im Dunkelfeld geblieben wären, erfasst wurden. In der Kriminologie heißt das "Lüchow-Dannenberg-Syndrom".

Zurück zu den Messerangriffen: In welchen Situationen kommt es denn am ehesten zu einem solchen Angriff?

Die erste Situation, die immer ganz gern vergessen wird, ist der häusliche Bereich – also Gewalt zwischen Paaren. Das sind 25 bis 50 Prozent dieser Messerangriffe. Wir denken am ehesten an Messerangriffe im öffentlichen Raum und das sind dann oft Fälle, bei denen junge Männer in Gruppen aufeinandertreffen. Gruppenkontexte sind wirklich gefährlich, weil man da durch die Dynamik eher Dinge tut, die man sonst nicht machen würde.

Wir wissen aus Befragungen, dass Jugendliche das Messer nicht mitnehmen, um jemanden abzustechen. Es geht eher ums Dazugehören, cool sein, stark sein. Und sie unterschätzen, wie schnell sie jemanden – auch durch ungezieltes Rumgefuchtel – verletzen können.

Der Messerangriff in Mannheim war wiederum eine andere Situation: der Täter ein scheinbar gut integrierter Afghane, seit zehn Jahren in Deutschland. Das hat die Debatten um die Herkunft der Tatverdächtigen bei Messerangriffen wieder angeheizt. Und in der PKS scheint es, als wären "nicht-deutsche" Tatverdächtige in diesem Deliktbereich überproportional vertreten. Welche Rolle spielt die Herkunft bei Messergewalt?

Die PKS gibt erstmal nur Aufschluss über die Staatsangehörigkeit, nicht über den Migrationshintergrund der Tatverdächtigen. Das heißt in die Kategorie "nicht-deutsch" der PKS zählen Asylbewerber, Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten, aber auch Touristen und ausländische Studenten mit rein.

Der Schluss, dass "nicht-deutsche" Tatverdächtige überproportional repräsentiert sind, weil ihr Anteil an der Wohnbevölkerung im Vergleich deutlich niedriger ist, ist problematisch. In der "nicht-deutschen" Wohnbevölkerung werden viele Gruppen nämlich gar nicht erfasst, Asylbewerber zum Beispiel.

Generell gilt: Was die Staatsangehörigkeiten mit einem Messer-Einsatz zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Es hat eher was mit den Lebenslagen der Menschen zu tun.

Welchen Einfluss hat die Lebenslage?

Schauen wir doch mal auf Geflüchtete, die in diesem Bereich auffällig werden, wie diese Menschen in Deutschland untergebracht sind: ohne Bleibeperspektive, meist in größeren Asylunterkünften, meist ohne Tagesstruktur. Es ist nicht so überraschend, dass man sich in diesen Umwelten mit Messern ausstattet, weil es auch eine ein Stück weit gefährliche Umwelt ist. Es ist nicht gut, wenn so viele Männer miteinander untergebracht sind.

Dann dauern die Asylverfahren ewig und diese Menschen leben am Rand der Gesellschaft, den deutschen Wohlstand vor Augen, an dem sie nicht teilnehmen können. Das macht etwas mit Menschen, keine Perspektive zu haben, keine Ausbildung, keine Arbeit, keine Struktur.

Es gibt auch deutsche Messerstecher.

Dirk Baier, Kriminologe

Und diese Menschen haben oft auch traumatische Fluchterfahrungen hinter sich, mussten um ihr Leben fürchten. Das kann auch dazu führen, dass sie das Erlebte an anderen auslassen, weil gerade Männer – Täter in diesem Bereich sind fast alle Männer – oft nicht gelernt haben, ihre Traumas anders zu verarbeiten.

Das heißt auch im Bereich der Messerangriffe, ist weniger die Herkunft ausschlaggebend und eher welche Erfahrungen, die Menschen gemacht haben? Ob sie arm sind, aktiv an der Gesellschaft teilhaben können? Das kann ja auch auf Menschen ohne Fluchterfahrungen zutreffen.

Ja, es gibt auch deutsche Messerstecher. Und auch die haben wahrscheinlich schwierige Bedingungen beim Aufwachsen gehabt, armutsnahe Lebenslage, Eltern, die sich nicht kümmern, wohnen in einem Stadtteil ohne Jugendangebote.

Wie blicken Sie denn auf den Umgang von Medien und Politik mit dem Thema Messergewalt?

Es ist ein Problem der politischen Kultur geworden, dass zumindest bestimmte Parteien solche Delikte, die es auch schon vor 20 Jahren gab, instrumentalisieren und damit bestimmte Erklärungsmuster und Forderungen verbinden. Eine einzelne Tat wird dann sofort zum Versagen der jetzigen Politik hochstilisiert. Und das macht etwas mit den Menschen, gerade bei so schweren Taten, die enorm emotionalisieren. Dann werden Vorurteile, die in der Bevölkerung gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen bestehen, befeuert und davon abgeleitet, dass unsere Gesellschaft auf dem völlig falschen Weg wäre.

Das löst sich nicht über ein Gesetz. Es ist ein soziales Problem und das muss man mit sozialen Maßnahmen angehen.

Dirk Baier

Und die Medien müssen über solche Taten berichten – das ist wichtig. Aber dadurch, dass einzelne Taten dann über mehrere Tage immer wieder thematisiert werden, werden sie auch größer und bedeutender gemacht, als sie eigentlich sind.

Es gibt nun Forderungen nach einem schärferen Waffenrecht in Bezug auf Messer und mehr Waffenverbotszonen. Was halten Sie davon?

Das zeigt, dass man jetzt händeringend nach einer Lösung sucht. Das Problem ist: Vieles ist ja schon verboten, zum Beispiel Messer einer bestimmten Größe dabei zu haben. Jugendliche wird das nicht abschrecken. Und in den Waffenverbotszonen muss auch erstmal kontrolliert werden; hier ist die Frage, ob wir tatsächlich dafür das Personal haben.

Ich glaube daher nicht, dass das die zentralen Schritte sind, um das Thema in den Griff zu bekommen. Stattdessen müssen wir junge Menschen frühzeitig aufklären. Zum Beispiel darüber, dass man am ehesten sich selbst gefährdet, wenn man ein Messer mit sich führt. Da sind auch die Eltern gefordert, dass da irgendeine Form von Aufsicht stattfindet. Man muss noch viel stärker an die Familien ran.

Also das löst sich nicht über ein Gesetz. Es ist ein soziales Problem und das muss man mit sozialen Maßnahmen angehen.

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN JOURNAL | 26. Juni 2024 | 19:00 Uhr

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