Portrait des Schriftstellers Christoph Hein 5 min
Nils Beintker stellt das aktuelle Buch "Das Narrenschiff" von Christoph Hein vor und hat dazu mit dem Autor gesprochen. Bildrechte: IMAGO / Gerhard Leber
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Nils Beintker stellt das aktuelle Buch "Das Narrenschiff" von Christoph Hein vor und hat dazu mit dem Autor gesprochen.

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Rezension Neuer Roman von Christoph Hein: Panorama der DDR-Gesellschaft

17. März 2025, 15:31 Uhr

Der Schriftsteller Christoph Hein gilt als Chronist der DDR und der deutschen Geschichte. In seinem neuen Roman "Das Narrenschiff" blickt der Autor einmal mehr zurück auf die DDR. Und das in einer durchaus anderen Perspektive als bisher: Er schreibt über Angehörige der Elite, über Funktionäre in gehobenen Positionen – und über ihre Familien. Der 1944 in Schlesien geborene und im sächsischen Bad Düben aufgewachsene Christoph Hein entwirft ein vielschichtiges Panorama der DDR-Gesellschaft.

Sie gehören zu denen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen sozialistischen deutschen Staat aufbauen wollten: Zum einen ist da der Ökonom Karsten Emser, lange Exilant in Moskau, nun Mitglied im Zentralkomitee der herrschenden Partei. Und dann gibt es noch den Bergbau-Ingenieur Johannes Goretzka, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft – im "Nationalkomitee Freies Deutschland" – vom Nazi zum Kommuniten wurde und jetzt von einer großen Karriere im DDR-Machtapparat träumt. Beide Genossen sind verantwortlich für eine Politik, mit der freie, unabhängige Geister – darunter auch Christoph Hein – beständig drangsaliert und schikaniert wurden. In der Perspektive seines Romans sind Emser und Goretzka die Narren auf dem Narrenschiff.

Buchcover des Romans "Das Narrenschiff" von Christoph Hein
Christoph Heins "Das Narrenschiff" ist ein Gesellschaftsroman über die DDR. Bildrechte: Suhrkamp Verlag

Christoph Hein sagt über den Titel seines Romans: "Es ist dieses Doppeldeutige. Es sind nicht Verbrecher, sondern Narren, was auch etwas Freundliches hat. Es erzählt von der Hoffnung dieser Leute, dass sie eine unsinnige Hoffnung hatten und scheitern mussten. Aber da schwingt noch ein bisschen Anerkennung für ihre Hoffnung mit."

DDR-Geschichte: Gründung bis Friedliche Revolution

Christoph Hein erzählt am Beispiel der beiden Männer, ihrer Partnerinnen, ihrer Familien und Freunde eine Geschichte der DDR, von der Gründung der Sowjetischen Besatzungszone bis zur Friedlichen Revolution und zur Wiedervereinigung. Der Schwerpunkt liegt auf den ersten 20 Jahren, der Ära Ulbricht. Wichtige Zäsuren werden aus Sicht der Funktionsträger gespiegelt: der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der Ungarn-Aufstand drei Jahre später, der Mauerbau und die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968. Der für Christoph Heins Prosa typische nüchterne Erzählton und die steten Dialoge sind auch in diesem Roman bestimmend.

Christoph Hein, Schriftsteller
Christoph Hein wurde 1944 in Schlesien geboren und wuchs in Bad Düben auf. Bildrechte: IMAGO / epd

Auszug aus "Das Narrenschiff" (zum Ausklappen)

Die Ankunft in Deutschland, in einem Land, in dem sie zwölf Jahre zuvor mit Konzentrationslager oder Tod bedroht worden waren und nur mit Mühe ins Exil hatten entkommen können, erregte alle. Sie fieberten ihren neuen Aufgaben entgegen, begierig, aus der faschistischen Diktatur eine friedliebende Demokratie zu schaffen. Und sie waren glücklich, wieder in der Heimat zu sein. "Ich liebe die russischen Wälder, die russkiye berozovye, aber ich liebe unsere Wälder noch mehr, die Tannen, den Mischwald. Ich freue mich schon darauf, durch unsere deutschen Wälder zu spazieren", sagte ein fünfzigjähriger, schlohweißer Mann. "Dann pass nur auf, dass du in deinen geliebten deutschen Wäldern nicht auf Mine trittst", erwiderte sein Tischnachbar.

(Christoph Hein: "Das Narrenschiff", Seite 17)

Frage nach Schuld und Verantwortung

Die Wege der Funktionäre gestalten sich unterschiedlich. Emser ist bis zum Ende der DDR Mitglied des Zentralkomitees. Goretzka wiederum, als Ehemann und Familienvater ein Scheusal, fällt aufgrund eigener Ansichten zur Wirtschaftspolitik bei der Partei in Ungnade. Fortan kämpft er verbittert um eine Rehabilitierung. Zum existentiellen Kipppunkt für beide wird die Geheimrede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, 1956, das erste Eingeständnis der Verbrechen Stalins. Sie sind fortan mit einer großen Frage konfrontiert: Wie will oder kann man noch Kommunist sein, wenn man weiß, dass im Namen dieser Ideologie furchtbare Gewalt verübt worden ist?

"Die Enthüllungen, die Chruschtschow sehr behutsam vornahm – er hielt sich da sehr zurück –, das war eine riesige Erschütterung für KPDSU, für die Sowjetunion und für den ganzen sozialistischen Block. Das konnte diese Idee töten", so Christoph Hein über Chruschtschows Geheimrede. Auch in der westlichen Welt, wo es zuvor durchaus Anerkennung und Zuneigung für diese Ideen gegeben hätte, habe dies zu Erschütterung und Abkehr geführt. "Es war der Punkt, wo der Kalte Krieg vollends verloren war. Und dann hielt sich dieses Gebilde noch ein paar Jahre, bevor es dann ganz zusammenbrach", erzählt der Autor.

Das war auch etwas sehr Typisches für die DDR, dass diese erste Generation an ihren Idealen festhielt, während die Kinder und dann nochmal die Enkelkinder-Generation sich deutlicher abwandte.

Christoph Hein

Christoph Hein erzählt Generationenkonflikt

Die Funktionäre halten bis zum Untergang der DDR an ihren Überzeugungen fest, auch wenn zu spüren ist, dass sie mehr und mehr ins Wanken geraten. Ganz anders die nächste Generation, insbesondere Goretzkas Stieftochter Kathinka. Sie, eigentlich das Zentrum im Roman (und inspiriert unter anderem von Christoph Heins Frau Christiane), gerät immer mehr in Distanz zur Welt ihrer Eltern. Als Schülerin spielt sie in einer Theatergruppe, die an Wolf Biermanns "berliner arbeiter- und studententheater" aus den frühen 60er-Jahren erinnert – ein kreativer Freiraum, kurz nach seiner Gründung der SED verboten. Später heiratet Kathinka – zum Ärger der Alten – einen Pfarrerssohn und zieht mit ihm nach Leipzig. In den späten 80er-Jahren besucht sie die Friedensgebete in der Nicolaikirche.

"Das war auch etwas sehr Typisches für die DDR, dass diese erste Generation an ihren Idealen festhielt, während die Kinder und dann nochmal die Enkelkinder-Generation sich deutlicher abwandte und sehr viel kritischer als die Eltern und Großeltern die DDR betrachteten", erzählt Christoph Hein. Das sei im ganzen Land etwas Vorherrschendes gewesen, dass die nachfolgenden Generationen sehr viel kritischer auf dieses Land blickten und sich dazu verhielten als die sogenannte Aufbau-Generation.

Der Weitsicht und dem Realismus einer Romanfigur wie Kathinka steht die ideologische Verbohrtheit der Genossen gegenüber. Diese Narren sind gebrochene und unsympathische Figuren. Dennoch begegnet Christoph Heins Erzählerfigur ihren Geschichten mit ernsthaftem Interesse und ist dann und wann auch schön zu erzählenden historischen Legenden zugetan, etwa im Fall von Ulbrichts Sturz durch Honecker. Der Untergang der DDR fällt für Emser und Goretzka zusammen mit Krankheit und Tod – eine symbolische Überschneidung. Jahrzehntelang haben sich diese Männer selbst betrogen. Sie wollen nicht eingestehen, dass ihr Staat auf Lügen, Gewalt und Unfreiheit gegründet wurde. Und eben: dass auf dieser Grundlage kein Staat zu machen ist.

Angaben zum Buch

Christoph Hein: "Das Narrenschiff"
Suhrkamp Verlag, 750 Seiten
Erscheinungsdatum: 17.März 2025
ISBN: 978-3-518-43226-6
28 Euro

Redaktionelle Bearbeitung: lig

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. März 2025 | 16:10 Uhr

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