(K)eine Anleitung für die Nachrichtenauswahl Was macht eine Nachricht zur Nachricht?
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10. Juli 2019, 09:56 Uhr
Meldungen, die morgens in den Radionachrichten oder abends in der Tagesschau laufen, haben einen langen Weg hinter sich. Denn für die Entscheidung, welche Ereignisse berichtenswert sind, haben sich bestimmte Selektionsmechanismen etabliert. Werden diese zu sklavisch befolgt, ergeben sich allerdings Probleme.
Wen interessiert eigentlich der sprichwörtliche Sack Reis, der in China umfällt? In Deutschland vermutlich kaum jemanden, in China aber eventuell Menschen, deren Ernährungsgrundlage oder Einkommen an diesem Reis hängt. Dementsprechend würde in deutschen Medien wohl kaum über ein solches Ereignis berichtet.
Die Flut filtern
Eine Aufgabe von Journalismus ist es, zu selektieren, zusammenzufassen und herauszustellen, was wichtig bzw. berichtenswert ist. Denn aus einer regelrechten Flut aus Agenturmeldungen, PR-Mitteilungen, Veranstaltungshinweisen und -einladungen, sozialen Medien, politischen Tagesordnungspunkten (und die Liste könnte endlos weitergehen) müssen täglich die wichtigsten Inhalte herausgefiltert werden. Damit sind Journalist:innen eine Art Gatekeeper oder Schleusenwärter der Öffentlichkeit, wobei sich diese Funktion durch das Internet immer mehr auflöst.
In der Kommunikationswissenschaft wurde zur Identifizierung dieser Entscheidungskriterien die sogenannte Nachrichtenwerttheorie entwickelt, laut der gewisse Faktoren die Bedeutung einer Nachricht bestimmen. Sie beschreiben Eigenschaften von Ereignissen und Themen, die es für die Veröffentlichung von Nachrichten auszuwählen gilt.
Dabei spielen die Intensität, und die Kombination der Faktoren eine Rolle. Bei einem hohen Nachrichtenwert wird ein Ereignis also eher von Journalist:innen wahrgenommen und kommt dann als Nachricht bei Leserin/Hörer/Nutzerin an.
Das Grundlagenwissen
Grundsteine für die heutigen Annahmen liegen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Studien des deutschen Journalisten und Medienkritikers Walter Lippmann von 1922 und der norwegischen Wissenschaftler Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge (1965) waren richtungsweisend. 1978 und 1990 wurden die Faktoren von Winfried Schulz weiterentwickelt. Darauf beruhen viele der heutigen Modelle. Der Kommunikationswissenschaftler identifizierte sechs Dimensionen, die insgesamt 18 Faktoren enthalten:
- Zeit: Hier spielen Dauer und Thematisierung des Ereignisses eine Rolle.
- Nähe: Wie nah ist uns das Ereignis räumlich, aber auch politisch und kulturell, wie relevant ist das Ereignis für uns bzw. inwiefern sind wir betroffen?
- Status: Welche regionale Zentralität oder nationale Zentralität hat ein Ereignis und welcher persönliche Einfluss oder welche Prominenz steht dahinter (welche politische und wirtschaftliche Macht und Bedeutung haben Region oder Akteure)?
- Dynamik: Ist das Ereignis eine Überraschung, hat es eine einfache oder komplexe Struktur?
- Valenz: Negativ-Faktoren wie Konflikt, Kriminalität, Schaden; oder im Gegensatz Erfolg
- Identifikation: Gibt es bei dem Ereignis bestimmte Personalisierungen, Ethnozentrismus (inwiefern ist die eigene Bevölkerung betroffen)?
In anderen Studien wurden ähnliche Auswahlkriterien identifiziert. Natürlich hat nicht jede:r Journalist:in eine solche Tabelle auf dem Schreibtisch liegen, sortiert alles dort hinein und ab einer bestimmten Punktzahl wird es dann veröffentlicht. Vielmehr wachsen Berufsanfänger gewissermaßen in ein System herein, in denen die Nachrichtenauswahl nach solchen Faktoren Usus ist. Diese Faktoren sind also lediglich als Analyse der Selektionsmechanismen zu verstehen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben – nicht als Checkliste für Redaktionen. Das bekräftigte auch Galtung kürzlich bei einer Konferenz in Genf:
Das war nicht eine Anweisung, wie man Journalismus machen sollte, sondern eine Warnung, wie man ihn nicht machen sollte!
Denn die Berichterstattung konzentriere sich oft zu sehr auf Negativität und Prominenz, kritisierte der Soziologe und Friedensforscher. Es sei aber eine breiter gefächerte Berichterstattung nötig, die Ereignisse verstärkt in ihrem Kontext betrachte, einordne und analysiere.
Die Kritik
Kritisiert wird auch immer wieder, dass durch solche Selektionsmechanismen einigen Entwicklungen zu wenig Raum gegeben wird oder bestimmte Verhältnismäßigkeiten falsch abgebildet oder verzerrt werden. Als etwa im Sommer 2018 ein junges Fußball-Team samt Trainer in einer Höhle in Thailand eingeschlossen war, berichteten alle großen deutschen Medien darüber, teilweise mit tagelangen Live-Tickern oder -Streams. Währenddessen starben viele Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren oder bei dem Krieg im Jemen. Das war in deutschen Medien allerdings weit weniger präsent.
Mit den Jungen und der Angst ihrer Familien kann sich wohl jede:r auf persönlicher Ebene gut identifizieren. Die Valenz war sehr hoch, denn es ging um ein großes Maß an Schaden: Leben oder Sterben der Kinder. Zwar war das Ereignis uns räumlich nicht sehr nah, aber durch die laufende Fußball-WM waren die Kicker Vielen doch gewissermaßen kulturell sehr nah. Währenddessen waren die Kriege im Jemen und die Krise auf dem Mittelmeer weitgehend bekannt und dauerten schon lange an. Die Identifikation mit den gesichtslosen Opfern ist kaum vorhanden, die Ereignisse boten keinerlei Überraschung und der Status der Regionen ist wohl eher gering.
Die weichen Faktoren
Neben den Eigenschaften, die Journalist:innen Ereignissen zuschreiben, spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle bei der Nachrichtenauswahl: Auf Ebene der einzelnen Personen sind das etwa persönliche Interessen, Einstellungen und Werte. Diese entstehen laut der Kommunikationswissenschaftlerin Michaela Maier vor allem während der journalistischen Ausbildung. Auf der Ebene der Arbeitsroutinen spielen Vorstellungen von den Erwartungen und Präferenzen der Leser/Hörerinnen/Nutzer und natürlich die konkreten Arbeitsbedingungen eine Rolle. Auch die redaktionelle Linie eines Mediums, eventuelle Verflechtungen mit anderen Medien (wie etwa bei großen Medienhäusern mit mehreren Publikationen oder Sendungen) und gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln sich in der Nachrichtenauswahl wieder.
Problem an solchen Auswahlmechanismen ist auch die Anfälligkeit für Beeinflussung. Nachrichtenfaktoren sind kein Geheimnis und sollten auch keines sein. Da PR-Unternehmen und Politiker:innen aber gut mit ihren Grundsätzen vertraut sind, können ie Informationen und Kampagnen natürlich so ausrichten, dass sie gut in die Nachrichtenagenda passen und Aufmerksamkeit erregen oder gar provozieren.
Fakten und eventuelle Hintergrundinteressen zu prüfen und nicht auf alles einzugehen, was auf den ersten Blick sensationell erscheint, gehört deshalb ebenso zum journalistischen Handwerkszeug wie die Berichterstattung selbst.