Interview mit Florian Meesmann „Das Ritualhafte aufbrechen“
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02. August 2021, 18:03 Uhr
Der MDR will in seiner Berichterstattung zur Bundestagswahl ganz nah an die Lebenswirklichkeit der Menschen in Mitteldeutschland heran und ihnen eine Stimme geben, sagt Florian Meesmann von MDR aktuell.
Steffen Grimberg: MDR MEDIEN360G ist heute zu Gast in der Programmdirektion Leipzig bei MDR aktuell. MDR aktuell macht ja Nachrichten für den MDR. Der MDR ist eine der ARD-Anstalten, die nicht die Tagesschau übernehmen, sondern auch eigene Weltnachrichten machen. Über Weltnachrichten wollen wir heute nicht sprechen, sondern über die Bundestagswahlen im September, die bevorstehen und was dort an Wahlberichterstattung gemacht wird. Unser Gesprächspartner heute ist der Redaktionsleiter Fernsehen von MDR aktuell, Florian Meesmann. Herzlichen Dank, dass wir hier sein dürfen. Wir sitzen in der Regie von MDR aktuell. Sie sind verantwortlich für den Fernsehoutput. Herr Meesmann, mit Blick auf die Bundestagswahlen: Was ist für Sie persönlich das Highlight der MDR-Wahlberichterstattung?
Florian Meesmann: Wir haben ganz viele Highlights in der Wahlberichterstattung. Es gibt ein Projekt, auf das freue ich mich ganz besonders. Das ist unsere digitale Wünsche-Karte. Da sammeln die Kollegen von MDRfragt und vom MDR aktuell online Wünsche und Erwartungen der Wählerinnen und Wähler in ganz Mitteldeutschland ein und visualisieren das auf einer interaktiven Karte. Und wir dürfen mit unserem MDR aktuell-Sofa uns dann auf dieser Karte in der Realität bewegen, die Wünsche und Erwartungen abbilden und zeigen. Und dann hat auch der Zuschauer im linearen noch etwas davon. Am Ende soll es auch in einem längeren Ausspiel in der Mediathek landen. Also das ist so ein Projekt, worauf wir uns ganz besonders freuen.
Steffen Grimberg: Also eine ziemliche Einbindung auch der Zuschauerinnen und Zuschauer, der Nutzerinnen und Nutzer. Ist da noch mehr geplant? Das ist ja etwas, was neu ist, was sicherlich heutzutage durch die digitalen Möglichkeiten auch sehr viel einfacher umzusetzen ist als früher.
Florian Meesmann: Das ist ehrlich gesagt einer der zentralen Punkte für uns in der Wahlberichterstattung. Uns geht es darum, dass wir das Ritualhafte, das Statische, was immer mal damit einhergeht, aufbrechen wollen. Für uns geht es darum, dass die Wählerinnen und Wähler im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen. Wir wollen sie in den Stand versetzen, wohlinformiert mit relevanten Informationen, mit objektiven Informationen, ihre Entscheidung treffen zu können. Und wir wollen ihnen eine Stimme geben. Dafür haben wir MDRfragt, ich habe es schon erwähnt, unser großes mitteldeutsches Meinungs-Panel. Über 40.000 Menschen haben sich dort registrieren lassen und nehmen sehr regelmäßig an den Umfragen teil. Wir generieren Protagonisten für unsere Geschichten aus diesem Panel heraus. Und wir haben natürlich, wer die Wahlsendungen zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und auch zu den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen in 2019 verfolgt hat: Wir bauen es immer weiter aus, dass auch Wählerinnen und Wähler vor den Wahlen, aber auch am Wahlabend selber zu Wort kommen, ganz direkt im Austausch mit den Politikerinnen und Politikern. Einfach, dass wir an der Stelle den direkten Dialog herstellen, sehen wir als eine unserer zentralen Aufgaben an.
Steffen Grimberg: Der MDR macht da ja sehr viel. Wir sind nicht die große ARD, wir sind nicht das ARD-Hauptstadtstudio beispielsweise. Was kann der MDR denn Besonderes machen, was das Ganze, was die ARD dann sozusagen zentral anbietet, noch ergänzt?
Florian Meesmann: Für uns ist es natürlich wichtig, dass wir die mitteldeutsche Perspektive, und zwar nicht nur auf die Fragen und Herausforderungen, die sich in der Region stellen, sondern auch auf die großen Fragen der deutschen Politik, der europäischen Politik, dass wir diese Stimme sind. Dass wir diese Perspektive darauf abbilden. Für uns geht es auch darum, ganz klar zu machen: Wir unterscheiden eigentlich nicht mehr zwischen lokalen Problemen und globalen Problemen. Nehmen wir den Klimaschutz, nehmen wir die Digitalisierung, nehmen wir den Strukturwandel: All das sind große Fragen, wo die europäische Perspektive und die mitteldeutsche Perspektive, das regionale Erleben, für die Zuschauerinnen und Zuschauer, wo das im Mittelpunkt stehen soll. Und für uns ist wichtig, dass wir ihnen das, was dort geschieht, die großen Triebkräfte, dass wir das erklären, in ihrer Lebenswirklichkeit verankert. Das gilt für die Nachrichten ganz generell, aber auch für die Wahlberichterstattung.
Steffen Grimberg: Spielt diese Bundestagswahl für die drei MDR-Länder eine besondere Rolle?
Florian Meesmann: Ja, das tut sie unbedingt. Zum einen haben wir ja Ende September einen Super-Wahlsonntag, muss man beinahe sagen: Wir haben die Bundestagswahl. Wir haben die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin. Wir hätten eigentlich auch - bis vor wenigen Tagen haben wir uns darauf vorbereitet - eine Landtagswahl in Thüringen gehabt. Und natürlich wird das Ergebnis der Bundestagswahl, der Bundestagswahlkampf, auch das politische Klima in Mitteldeutschland beeinflussen. Das ist ganz klar. Und natürlich geht es für uns auch darum die Parteien zu fragen, was haben sie für Angebote für die Menschen im Mitteldeutschland? Was haben sie für Themen? Was haben sie für Antworten auf die Fragen, die sich hier stellen? Das sind keine anderen Fragen, als die, die sich in vielen anderen Landesteilen auch stellen. Nur - ich sagte es bereits - das Thema Lebenswirklichkeit - da haben wir den Eindruck, dass wir dort noch stärker darauf pochen müssen, noch stärker darauf drängen müssen, dass sich das auch wirklich wiederfindet. Und da müssen wir logischerweise... Und das ist, so sehen wir es auch, wenn wir uns die Spitzenkandidaten zum Beispiel in unsere 19.30 Uhr-Sendung holen: Wir wollen natürlich von denen wissen, was haben sie für Antworten für die spezifisch mitteldeutschen Probleme? Was sind die Antworten für den Strukturwandel? Wie geht man um mit Klimaschutz und den Bedürfnissen einer in vielen Teilen pendelnden Arbeitsgesellschaft? Bei all diesen Fragen wollen wir darauf achten, dass die in der Diskussion auch wirklich behandelt werden.
Steffen Grimberg: Wie gehen denn Sie oder der MDR ganz generell damit um, dass viel - ich sage mal etwas umgangssprachlich - „Zoff-Potential“ im MDR Gebiet spielt? Wir haben die Bundestagskandidatur von Hans-Georg Maaßen in Thüringen für die CDU, also ein eher umstrittener, ehemaliger Verfassungsschützer. Wir haben in allen drei MDR-Ländern eine sehr starke AfD - vor allen Dingen auch mit dem Flügel, der zwar offiziell aufgelöst ist, dessen Spitzenpersonal aber natürlich weiterhin hier in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eine wichtige Rolle spielt.
Florian Meesmann: Für uns ist eine starke AfD in den Landesparlamenten schon seit vielen Jahren journalistischer Alltag und gehört zu unserem Redaktionsalltag dazu. Das Spannungsfeld ist ganz klar: Die Vertreter der AfD in den Parlamenten sind legitimiert durch viele hunderttausend Menschen, die ihnen ihre Stimme gegeben haben. Daraus resultiert aus unserer Sicht auch der Anspruch, dass ihre Positionen zu Sachthemen in der Berichterstattung vorkommen und auch transportiert werden. Aber genauso gilt natürlich: Rechtsextremistische Parolen bleiben rechtsextremistische Parolen. Und natürlich gelten die Gesetze des Populismus, die Strategien des Populismus. So wie wir sie hier erleben, geht es für uns auch darum, diese aufzudecken. Das erleben wir. Sie haben gerade einen Bundestagskandidaten in Südthüringen genannt. Da kann man das sehr gut erkennen. Es gibt die Provokation. Es gibt den Tabubruch. Es gibt die Aufregung, die erwartbare Reaktion. Und dann gibt es das Zurückrudern, das sich falsch verstanden fühlen. Und so werden die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschoben. Das sind die Strategien der Populisten auf der ganzen Welt, auch bei uns im Mitteldeutschland. Und da geht es für uns darum, das aufzudecken. Aber wie gesagt, es ist ein Spannungsfeld. Nicht jeder AfD-Politiker ist ein Rechtsextremist, und Ausgrenzungen und Dämonisierung sind für uns keine journalistischen Kriterien.
Steffen Grimberg: Sie haben es gerade schon erwähnt. Eigentlich sollte am 26. September auch in Thüringen die Landtagswahl nachgeholt werden oder eine neue Landtagswahl stattfinden. Das wird jetzt bis auf Weiteres nicht der Fall sein. Erwarten Sie, dass da sich Wählerinnen und Wähler, weil ja eigentlich Neuwahlen fest versprochen wurden von ich glaube so ziemlich allen Parteien, dass es dort jetzt Auswirkungen auf ihre Haltung zur Politik gibt - Stichwort: Politikverdrossenheit?
Florian Meesmann: Natürlich ist das keine Werbeveranstaltung für die parlamentarische Demokratie, was sich in Thüringen seit anderthalb Jahren im Landtag abspielt, das ist ganz klar. Das fängt an von der skandalösen Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten. Und es setzt sich fort mit dem unwürdigen Gezerre, wenn ich das so klar benennen darf an dieser Stelle, um die Neuwahlen. Das ist etwas, wo man sehen muss, was das macht mit dem Vertrauen. Wir befürchten ein wenig, dass es den politischen Kräften in die Hände spielt, die sowieso versuchen, die Leistungskraft des parlamentarischen Systems zu unterminieren, die parlamentarische Demokratie als Ganzes in Frage zu stellen.
Steffen Grimberg: Sie hatten das gerade ja schon am Beispiel von Herrn Maaßen erwähnt, wie man sozusagen populistischen Strategien dort folgen kann. Wie ist denn der MDR aufgestellt, um auf solche populistischen Aktionen, vielleicht auch Störungen oder Desinformationskampagnen im Zusammenhang mit den Wahlen, zu reagieren?
Florian Meesmann: Ja, das ist natürlich ein Thema, was uns im Redaktionsalltag ganz stark beschäftigt. Unser wichtigstes Instrument im Umgang damit ist erstmal der gesunde Menschenverstand und das journalistische Handwerk. Das ist der kritische Blick. Und das ist eine Kultur des Zweifels. Darauf legen wir sehr großen Wert in der Redaktion, dass wir eben, wenn wir Bilder haben, auch wenn sie allzu passend erscheinen, dass wir eben uns fragen: Sind das auch wirklich die richtigen Bilder? Dafür haben wir uns immer stärker auf dem Feld der Verifikation aufgestellt. Wir haben ein Rechercheteam, in der Redaktion von MDR aktuell gibt es jetzt eine Kollegin, die in einer sogenannten Verifikations-Schicht nichts anderes macht, als Bildmaterial und Fakten zu überprüfen. Das haben wir jeden Tag. Und daran kann man schon erkennen, dass das für uns ein wichtiges Thema ist. Wir müssen die Glaubwürdigkeit - unser kostbarstes Gut - auch auf den Plattformen erhalten. Und es ist einfach zu kostbar, als dass wir es dann für einen schnellen Schuss, für eine schnelle Sensation in Zweifel ziehen.
Steffen Grimberg: Viele dieser Diskussionen, Debatten, zum Teil auch Verschwörungsmythen finden sich in den sozialen Medien. Welche Rolle spielt Social-Media für Sie jetzt bei der Wahlberichterstattung?
Florian Meesmann: Eine so große Rolle wie noch bei keiner Wahl bisher. Es gibt bestimmte Zielgruppen, die erreichen wir nur über die Plattformen. Die erreichen wir nur über Social Media. Und natürlich müssen wir uns Gedanken machen, wie wir an dieser Stelle unsere Inhalte an neue Zielgruppen bringen. Wir haben beispielsweise in der ARD ein Projekt, das war früher mal eine lineare Sendung für junge Wähler, „Überzeugt uns“ hieß die und ist einige Male recht erfolgreich gelaufen. Wir haben jetzt in der Vorbereitung zu diesem Projekt gemerkt, dass eine lineare Fernsehsendung nicht das richtige Vehikel ist, um diese Zielgruppe zu erreichen. Wir haben dort jetzt unter dem Namen „Du stimmst!“ junge Leute, die von einer jungen Presenterin befragt werden. Die Basis dafür sind Insta-Stories. Wir haben das in einem längeren Ausspiel dann auch auf YouTube und für die Mediathek. Da geht es darum, was junge Wählerinnen und Wähler von der Politik erwarten. Es geht um die Themen Digitalisierung, Klima, Wohnen, Gleichberechtigung. Und das ist etwas, wo wir sehr konsequent gesagt haben, wir brauchen keine lineare Fernsehsendung mehr, sondern wir gehen ganz auf die Plattformen und das ist eins unserer spannendsten Projekte im Portfolio.
Steffen Grimberg: Was wird es denn sonst noch bei der Wahlberichterstattung jetzt im Jahr 2021 beim MDR geben, was es bislang noch nicht gab?
Florian Meesmann: Das Wichtigste ist, glaube ich, dass wir so eng zusammenarbeiten im ganzen Unternehmen, wie wir das bei den vorhergehenden Wahlen noch nicht gemacht haben. Wir haben ein gemeinsames Wahlkonzept, was auch für die Öffentlichkeit nachzulesen ist. Das neue ist, dass wir noch stärker als bisher die Wählerinnen und Wähler in den Mittelpunkt gestellt haben, den Diskurs. Dann gibt es Wahlprogramme, Analysetools, wo ich also ganz einfach selber vor meinem Endgerät in Ruhe vergleichen kann: Was ist das politische Angebot dieser Partei? Was ist das politische Angebot jener Partei? Und uns ist wichtig, dass wir den Austausch zwischen Wählerinnen und Wähler und der Politik sicherstellen. Und uns ist vor allem wichtig, das sagte ich bereits, dass wir eben diese Rituale, die mit Wahlberichterstattung oft verknüpft werden, dass wir die ein wenig durchbrechen.
Steffen Grimberg: Wir führen dieses Interview Ende Juli, also noch mit einem deutlichen Abstand zu den Bundestagswahlen. Wir sind, was die Corona-Pandemie angeht, jetzt gerade wieder mit steigenden Zahlen konfrontiert. Welche Veränderungen oder Auswirkungen hatte die Pandemie denn auf den Wahlkampf - oder wird sie haben auf den jetzt erst so richtig beginnenden Wahlkampf - und damit vielleicht auch auf die Wahlberichterstattung?
Florian Meesmann: Wenn man sich den Wahlkampf anguckt, das konnte man sehr gut sehen bei den Landtagswahlen, die wir im Frühjahr hatten, auch in Sachsen-Anhalt: Der Wahlkampf ist natürlich viel digitaler. Straßenwahlkampf ist vor allem in Rheinland-Pfalz beispielsweise fast komplett ausgefallen. Das führt auch dazu, dass die Polarisierung im Wahlkampf, wie das leider in vielen Teilen der Plattform üblich ist, noch stärker geworden ist. Die Pandemie selber und der Streit über den richtigen Weg im Umgang mit ihr, im Leben mit der Pandemie, hat natürlich thematisch den Wahlkampf ganz stark bestimmt. Und in der Berichterstattung ist es für uns so, dass wir immer wieder ein Gleichgewicht finden müssen. Wir dürfen natürlich durch unsere Berichterstattung nicht unsere Interviewpartner, unsere Protagonisten in Gefahr bringen. Wir müssen natürlich auch den Gesundheitsschutz, den Arbeitsschutz für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fest im Blick behalten. Und die große Herausforderung: Wir wissen eben nicht, in welcher Pandemie-Situation wir uns jetzt im September in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes befinden.
Steffen Grimberg: Da höre ich bei Ihnen ein bisschen raus - Sie sind schon erleichtert, das jetzt wieder mehr direkt möglich ist. Dass man sich wirklich face-to-face treffen kann und dann eben auch die Zwischentöne, haben Sie es genannt, natürlich besser einfangen kann als in einer großen Zoom-Konferenz oder irgendwelchen digitalen Veranstaltungen.
Florian Meesmann: Unbedingt! Man kann das an einem ganz konkreten Beispiel erläutern: Wir haben natürlich viele Schalten mit Protagonisten auf verschiedenen Plattformen realisiert - sei es Skype, sei es vMix, da gibt es ganz viele verschiedene Anbieter. Aber natürlich fehlt bei diesen Schalten das, was die Würze eines O-Tons ist: Das Gespräch vor dem Interview, das Gespräch danach, die Einordnung, der Hinweis des Interviewpartners, der informelle Austausch zu den Themen, über die man im Interview sprechen wird. Und das ist das, was wir zwingend brauchen, wenn wir in der Qualität, die wir von uns selber erwarten, dann auch berichten wollen.
Steffen Grimberg: Es gibt natürlich noch jede Menge anderer Teile in der ARD, die sich an der Wahlkampfberichterstattung beteiligen. Das macht natürlich nicht nur der Mitteldeutsche Rundfunk. Wir haben das Hauptstadtstudio. Wir haben ARD aktuell beim NDR in Hamburg, die für Tagesschau und Tagesthemen zuständig sind. Der WDR wird sich mit einer eigenen Online-Präsenz zur Transparenz bei der Bundestagswahl noch einbringen. Gibt es noch irgendetwas, wo Sie sagen würden, das kann aber tatsächlich nur der MDR, und das steuern wir ganz exklusiv mit unserem Absender MDR, in Mitteldeutschland, in Ostdeutschland, zur Wahlberichterstattung bei?
Florian Meesmann: Was wir auf alle Fälle versuchen, ist, im schon erwähnten Projekt „Du stimmst!“ ganz konsequent weg aus dem linearen zu gehen und auf einer Plattform jungen Wählerinnen und Wählern eine Stimme zu geben. Wir werben, und das tun wir nicht nur in den Sonderprojekten zur Wahl, sondern das tun wir auch in unserer Berichterstattung für die Tagesthemen beispielsweise mit unserem Format mittendrin: Hier versuchen wir, diverse Lebenswirklichkeiten und diverse Erwartungen an den Wahlkampf deutlich zu machen. Uns geht es vor allem auch darum, Ostdeutschland eine Stimme zu verleihen. Und es geht uns auch darum, eben klarzumachen, dass wir Mitteldeutschland als einen ganz selbstverständlichen Bestandteil der Bundesrepublik verstehen. Und dass wir vor allem auch das Selbstbewusstsein der Menschen in Ostdeutschland transportieren wollen, dass wir auch klarmachen wollen, in wie vielen Bereichen und wie vielen Teilen Mitteldeutschland auch eine Zukunftswerkstatt sein kann, für das ganze Land.
Steffen Grimberg: Entscheidet sich die Wahl vielleicht sogar im Osten?
Florian Meesmann: Nicht allein. Aber es ist mit Sicherheit so, dass das Abstimmungsverhalten der Wählerinnen und Wähler in unserer Region entscheidenden Einfluss haben wird auf das Wahlergebnis, das auf alle Fälle. Ich habe es vorhin schon einmal angedeutet: Wir haben oft den Eindruck, dass sowohl die Programmatik der großen Parteien als auch die Themen, als auch das Personal doch sehr stark aus einer - ich nenne es mal - altbundesrepublikanischen Perspektive geprägt ist. Das merkt man bei Wahlkampfveranstaltungen, wo es einfach eine große Distanz gibt. Man kann das sehen, wenn der CDU-Kanzlerkandidat in Sachsen-Anhalt unterwegs ist, dass da doch eine große Distanz ist zu den Menschen, die er trifft. Zu den Menschen, mit denen er spricht. Das ist nur ein Beispiel. Und wir glauben, dass die Parteien sich viel, viel stärker öffnen müssen und viel stärker klarmachen müssen, dass viele Teile ihrer Programmatik eben an ganz bestimmte Milieus, in denen vielleicht die Funktionäre der Partei und in denen vielleicht die Lebenswelten, in denen sie sich normalerweise bewegen, sehr stark Einfluss darauf nehmen. Aber vielleicht andere Lebenswelten, die mit Parteipolitik nichts zu tun haben - die dörfliche Lebenswelt, die kleinstädtische Lebenswelt, die Lebenswelt von Bauern beispielsweise, dass die einfach nicht stattfindet. Und ich glaube, dass sich dort viel entscheiden kann, wenn es den großen Parteien nicht gelingt, sich für diese Lebenswelt zu öffnen und sich eben auch für die besonderen Lebenswelten in Mitteldeutschland zu öffnen.
Steffen Grimberg: Jetzt gibt es ja viele, die sagen, das, was sie gerade für die Parteien analysiert haben, gilt auch für viele Medien. Auch die Öffentlich-Rechtlichen sind, was ihre „Hauptgeschichten“ angeht, in den alten Bundesländern verankert. Die maßgeblichen überregionalen Tageszeitungen, die großen Nachrichtenmagazine ebenso. Ist da was dran? Muss sich also beispielsweise auch die ARD diesen Schuh ein bisschen anziehen?
Florian Meesmann: Ich glaube, es kommt darauf an, was wir daraus machen. Natürlich würden wir uns wünschen, dass die mitteldeutsche Perspektive, dass die ostdeutsche Perspektive in der ARD stärker vertreten ist. Da gibt es verschiedene Herangehensweisen. Eine wichtige ist, und da gibt es ja viele verschiedene Initiativen, zum Beispiel das Kulturnetzwerk, das der MDR gerade aufbaut für die gesamte ARD. Das ist der institutionelle Weg. Aus unserer Sicht ist aber noch wichtiger - und das wird aus der Perspektive einer Nachrichtenredaktion nicht erstaunen -, dass wir mit den Themen auch durchdringen in Tagesschau und Tagesthemen, im Morgenmagazin und Mittagsmagazin, in denen Mitteldeutschland eben fernab der gängigen Klischees, wie sie in Teilen der Republik gepflegt werden, einfach als ein selbstverständlicher Bestandteil der Republik auftaucht. Und wo auch deutlich wird, dass es in vielen Teilen und in vielen Lebenswelten hier auch ein Vorsprung an Erfahrung gibt beispielsweise, einen Transformations-Vorsprung: Die Menschen hier haben bewiesen, dass sie mit disruptiven Veränderungen umgehen können. Und die breite Mehrheit von ihnen hat wirklich sehr viel daraus gemacht und kann zu Recht stolz darauf sein. Das ist etwas, was wir auch stärker als bisher in die ARD tragen wollen. Und wir wollen auch davon wegkommen, dass der Osten Deutschlands immer nur beurteilt und bewertet wird in seinem Angleichungsgrad an die alten Bundesländer. Das ist, glaube ich, eine Perspektive, die nicht mehr zeitgemäß ist.
Steffen Grimberg: Kommen wir noch mal ganz konkret jetzt zum Wahlkampf, der uns bevorsteht und der Wahlberichterstattung zurück, zum Schluss unseres Interviews. Wir haben ja dieses Mal auch die Konstellation, dass es drei Kanzlerkandidatinnen und Kandidaten gibt. Sowohl von SPD und CDU, das ist gelernt. Und jetzt eben auch von den Grünen. Es wird nicht mehr das Kanzlerkandidaten-Duell geben, das zumindest die letzten Jahre im Fernsehen dann immer der Höhepunkt und das Hochamt der Wahlberichterstattung war. Es wird ein „Triell" geben. Was erwarten Sie da?
Florian Meesmann: Das wird sicherlich eine sehr spannende Auseinandersetzung. Grundsätzlich kann man jetzt schon beobachten, dass dieses Dreigestirn dazu führt, dass die Personalisierung im Wahlkampf immer stärker zunimmt. Meine Sorge ist ein bisschen, dass diese Personalisierung die inhaltlichen Debatten weiter verdrängen wird. Wir können das hier sehen, an den Diskursen, die geführt werden, um die Fehltritte der Grünen-Kanzlerkandidatin. Wir haben uns mit einem unpassenden Auftritt von Armin Laschet in einem der Flut-Orte stark auseinandergesetzt. Es ist wichtig, dass das markiert und dass das berichtet wird. Aber angesichts der Herausforderungen, vor denen das Land steht, wünschen wir uns natürlich eine inhaltliche Debatte, wo ganz klar ist: Was sind die politischen Alternativen? Welchen Kurs kann das Land einschlagen, mit welchem Kanzlerkandidaten? Und da hoffe ich, dass die Inhalte nicht zu stark verdrängt werden von einer wachsenden Personalisierung, die mit dem Triell zwangsläufig verbunden sein wird.
Steffen Grimberg: Eine Kritik an den Medien, auch dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die man immer wieder hört, ist, dass die Journalistinnen und Journalisten doch selber meistens aus der sozialdemokratisch-linken-grünen Ecke kämen. Wie stehen Sie dazu? Und würden Sie sagen, dass es diese Problemlage auch beim Mitteldeutschen Rundfunk gibt?
Florian Meesmann: Natürlich haben wir alle unsere Biografien, sind wir alle geprägt durch unseren Weg, der uns in diesen Beruf geführt hat. Es gab ja unlängst mal in der ARD eine Umfrage unter den Volontären, die das von Ihnen benannte Vorurteil, glaube ich, eindrucksvoll bestätigt hat. Ich kann die genaue Zahl nicht nennen, aber es gab eine starke politische Präferenz für den rot-grünen Teil der Parteienlandschaft. Ich denke, es ist für uns eine ganz große Aufgabe, dass wir die Diversität verschiedener politischer Perspektiven auch in unseren Redaktionen abbilden. Für mich ist im Redaktionsalltag von MDR aktuell TV sehr wichtig, dass, wenn wir Themen diskutieren, es nicht eine vorgegebene Meinung gibt, sondern es gerade bei den großen Streitthemen Klimaschutz, Strukturwandel, Digitalisierung, Migration hat uns über viele Jahre beschäftigt, dass dort auch die unterschiedlichen Perspektiven, so sie denn sachlich und fundiert vorgetragen werden, eine Chance haben. Nicht nur in den Debatten in der Redaktion, sondern auch in unserer Berichterstattung. Ich glaube, wir können da noch besser werden. Wir sind da noch nicht am Ziel. Aber ich glaube, dass das eine große Herausforderung ist. Und es geht nicht zuletzt auch um die soziale Diversität. Es geht auch darum, dass wir Menschen für unsere Arbeit, für unseren Beruf begeistern, die vielleicht nicht von klein auf in einem akademischen Haushalt aufgewachsen sind und an der Uni davon geträumt haben, Journalisten zu werden, sondern wir brauchen Quereinsteiger. Wir brauchen Naturwissenschaftler, wir brauchen Wirtschaftswissenschaftler, die Freude daran haben, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen.
Steffen Grimberg: Wir hatten gerade gesagt, das „Triell" ist etwas Neues in dieser Bundestagswahl-Berichterstattung oder wird etwas Neues sein, noch hat es ja nicht stattgefunden. Es gibt aber heute schon eine ganze Reihe neuer Player, die die Menschen informieren. Das ist T-Online. Das ist die Bild-Zeitung, die im August mit einem eigenen Fernsehkanal auf Sendung gehen wird. Letzte Frage an Sie, Florian Meesmann: Freuen Sie sich auf diese neuen Wettbewerber oder wird Ihnen da ein bisschen bange?
Florian Meesmann: Nein, bange wird uns in keiner Weise. Es gehört zur Natur unseres Geschäfts, unserer Aufgaben dazu, dass auf diesem Markt sich immer neue Anbieter finden. Und die werden selbstverständlich auch ihr Publikum finden. Aber natürlich ist es für uns eine gute Gelegenheit, noch einmal zu überprüfen: Sind wir schnell genug, sind wir gründlich genug in unseren Prozessen. Dann müssen wir, glaube ich, nicht bange sein. Dann müssen wir diese Konkurrenz nicht fürchten, die belebt ja bekanntlich das Geschäft an dieser Stelle. Insofern freuen wir uns eigentlich sogar drauf. Vielleicht können wir ja sogar voneinander lernen. Die Anbieter von uns und wir von ihnen.
Steffen Grimberg: Allerletzte Frage an Florian Meesmann: Wo stecken Sie konkret am Wahlabend? Was machen Sie?
Florian Meesmann: Ich werde am Wahlabend hier in der Redaktion sein. Wir werden in mehreren Sondersendungen aus der mitteldeutschen Perspektive über die Ergebnisse berichten. Wir werden Infratest-Dimap-Zahlen für Mitteldeutschland haben. So schnell wie möglich werden wir die ersten Ergebnisse dann auch unseren Zuschauerinnen und Zuschauern präsentieren. Und natürlich wird das ein spannender Abend, und ich freue mich auch schon ein bisschen darauf!
Steffen Grimberg: Wir freuen uns auch darauf. Und wir bedanken uns ganz herzlich, dass wir hier sein durften und mal Einblick nehmen konnten in die Arbeit von Florian Meesmann - herzlichen Dank!