Große Fragen in 10 Minuten Warum vergeht die Zeit im Alter immer schneller?

08. April 2025, 11:19 Uhr

Wir alle wollen ein möglichst langes, erfülltes Leben führen. Manchen gelingt das, manchen weniger. Nicht nur, dass der eine länger lebt als die andere, sondern weil manche einfach ihren Platz im Leben finden – und andere ewig suchen. Ein entscheidendes Problem haben aber offenbar alle: Hintenraus beginnt die Zeit zu rasen. Je älter wir werden, desto schneller scheint sie zu vergehen und desto kürzer kommen uns Wochen, Monate, Jahre vor. Doch warum ist das so? Und kann man etwas dagegen tun?

MDR Wissen Redakteur Karten Möbius
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"Es scheint wirklich so zu sein, dass die Menschen das am intensivsten bemerken, dass die Zeit immer schneller vergeht, je älter wir werden", bestätigt der Psychologe und Biologe Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg im Breisgau.

Und wie es aussieht, scheint das allen Menschen so zu gehen. Also wirklich allen. Zumindest zeigen das Studien in Deutschland, Österreich, den Niederlanden, in Italien, Neuseeland und Japan. Überall gibt es die gleichen Erkenntnisse, empfinden die Leute grundsätzlich das Gleiche: "Wir fragen Menschen verschiedener Lebensalter: Wie schnell sind für Sie die letzten zehn Jahre vergangen? Und dann können die sagen 'ganz langsam', 'weder langsam noch schnell' oder 'ganz schnell'. Und die älteren Menschen geben das 'als immer schneller vergehend' an", so Zeitwahrnehmungsforscher Wittmann. Doch warum ist das so?

Werden unsere Küchenuhren fremdgesteuert?

Was also passiert da in und mit uns? Und vor allem: Was passiert da in unserem Hirn? Denn an unseren "radio-controlled" Küchenuhren kann es nicht liegen, oder? Zumindest darf man davon ausgehen, dass die nicht von fremden Mächten oder der Rentenversicherung gesteuert werden, die unser aller Leben hinten raus immer kürzer machen will, sondern dass unsere Küchenuhren immer gleich schnell ticken.

Ein anderer Erklärungsansatz erscheint da schon logischer: Die Zeit vergeht mit dem Alter schneller, weil sich unser Blick auf die Zeit und die Relationen verändern. Für einen Zehnjährigen ist beispielsweise ein Jahr ein Zehntel seines Lebens, für einen 80-Jährigen nur noch ein Achtzigstel – also achtmal weniger und damit zumindest in der Relation kürzer. Mathematisch betrachtet ist das zwar korrekt, sagt Wittmann und fragt aber zugleich, ob das eigentlich auch unser Gehirn versteht.

"Es ist ja nicht so, dass das Gehirn berechnet, dass dieses letzte Jahr ein Achtzigstel ist, so wird das wahrscheinlich nicht ablaufen." Stattdessen müsse man einen psychologischen Mechanismus finden, so Wittmann. Einen Mechanismus, der unsere Zeitwahrnehmung beeinflusst – und zwar unsere Zeitwahrnehmung im Nachhinein. "Und ich glaube der beste Mechanismus ist der über das Gedächtnis und die Anzahl der Gedächtnis-Eindrücke."

Je mehr wir erleben, desto länger die Zeit

Damit kommen nun also unser Gedächtnis, unsere Eindrücke und Erinnerungen ins Spiel. Doch wie wird daraus ein Zeitempfinden? "Ich kann ja die letzten zehn Jahre nicht in mich hinein fühlen", erklärt Psychologe Marc Wittmann. "Sondern das, was ich erlebt habe, das generiert sozusagen mein Gefühl von Zeit. Und da ist die Faustregel: Je mehr ich Emotionales erlebt habe, desto länger kommt mir ein zurückliegender Zeitraum vor."

Die zentrale These lautet also: Je mehr ich erlebt habe, desto mehr Erinnerungen habe ich im Gepäck und desto länger erscheint mir der vergangene Zeitraum. Aber rein theoretisch haben doch alle 80-Jährigen gleich viel erlebt, oder? Sie waren alle gleich viele Tage auf dieser Welt, nämlich 29.220. Sie hatten in etwa gleich viele Frühstücke und vielleicht auch Sommer-Urlaube. Okay, vielleicht war der eine öfter im Kino als der andere, aber dafür hat der andere in der gleichen Zeit eben Rommé gespielt. Gedächtniseindruck bleibt doch trotzdem Gedächtniseindruck. Oder etwa nicht?

"Nee, so einfach ist das nicht", sagt Wittmann und verweist auf ein entscheidendes Detail, dass ganz zentral ist für unsere Zeitwahrnehmung: Die Emotionen.

Je mehr Emotionales ich erlebt habe, desto länger kommt mir ein zurückliegender Zeitraum vor.

Marc Wittmann, Psychologe und Biologe, Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg i. Br.

Es geht also nicht nur um die bloße Anzahl an Erinnerungen, sondern auch darum, was das für Erinnerungen sind und wie sie zustande gekommen sind. Ein Beispiel: Wenn wir für ein verlängertes Wochenende mit Freunden nach Rom fliegen, sind dort zum ersten Mal und haben sehr viel Spaß, dann sind das so viele neue Eindrücke, die in unserem Gedächtnis gespeichert werden, dass uns diese zwei, drei Tage unglaublich lange vorkommen, wenn wir wieder zurück sind. Anders sieht aus, wenn wir diese Zeit 'nur' in unserer Alltäglichkeit zu Hause verbracht habe, mit Wäschewaschen oder sonst irgendwelchen Dingen. Dieselben zwei, drei Tage vergehen dann relativ schnell im Nachhinein, weil nicht so viel Neues passiert ist und eben nicht so viel abgespeichert werden muss.

Zeitparadox: Zwei Tage im Wartezimmer sind nicht wie zwei Tage Urlaub

So ein Urlaubs-Wochenende in Rom, das einem im Nachhinein wie eine Woche vorkommt, ist vor Ort ja extrem schnell vorbei, hinterlässt aber extrem viele Spuren im Gedächtnis. Doch die Zeit im Wartezimmer beim Arzt, die gefühlt eine Ewigkeit dauert, spielt in der Erinnerung so gut wie keine Rolle mehr. Heißt das, wir erinnern uns also genau umgekehrt?

"Das nennt man das Zeitparadox", erklärt Marc Wittmann anhand des Wartens beim Arzt-Besuch. "Sagen wir mal, ich hab mein Handy nicht aufgeladen und warte. Dann dehnt sich die Zeit. Und je mehr ich auf mich selber achte, vielleicht auch auf meine Langeweile, auf meine Ängste vor dem Zahnarzt, desto mehr dehnt sich die Zeit. Aber im Rückblick ist ja gar nicht viel passiert. Also nichts, was ich besonders im Gedächtnis abspeichern müsste. Wenn ich dann zurückblicke, ist die Zeit relativ schnell vergangen. Warum? Weil ich keine Gedächtnis-Inhalte habe."

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Das funktioniert natürlich auch umgekehrt, so Wittmann: "Die Zeit vergeht ganz schnell, wenn ich tolle Sachen mache und überhaupt nicht auf die Zeit achte. Aber – und das ist wieder das Zeitparadox – wenn ich dann zurückblicke, habe ich sehr viele Erinnerungen, auch sehr viel Emotionales und im Nachhinein kommt mir die Zeit wieder länger vor."

Emotionen und erste Male – der Klebstoff fürs Gedächtnis

Emotionen spielen also eine entscheidende Rolle für unsere Erinnerungen, für unser Gedächtnis. Doch warum eigentlich? "Emotion ist ein bisschen so wie der Klebstoff fürs Gedächtnis. Das verbindet alle Dinge, die bekommen eine Bedeutung. Alles, was bedeutungsvoller ist, emotionaler, das kann ich besser erinnern. Das führt dann zu dieser retrospektiven Zeitdehnung."

Und es gibt noch einen anderen Klebstoff fürs Gedächtnis, aber auch der hängt irgendwie mit Emotionen zusammen: Alles, was wir neu machen, zum ersten Mal erleben, oder was ungewöhnlich ist, auch das bleibt extrem gut im Gedächtnis hängen.

Alles, was Neuigkeitswert hat, was stärker emotional ist, kann ich dann hinterher besser erinnern und das dehnt die Zeit.

Marc Wittmann, Psychologe und Biologe, Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg i. Br.

Routinen werden zum Zeit-Killer

Deshalb nimmt unsere Kindheit, unsere Jugend so viel Raum ein in unserer Erinnerung. Alles war neu und aufregend: Kindergarten, Schule, neue Freunde, Fahrradfahren lernen, die erste Liebe, die bestandene Prüfung ... Und genau dieses Feuerwerk lässt in unseren Leben nach und nach – nach!

Stattdessen nehmen Routinen zu, was grundsätzlich gut und sinnvoll ist, aber die Einmaligkeit und die Emotionen rausnimmt: "Dann bemerken wir später: Oh, jetzt sind wir schon 20 Jahre am selben Ort, im selben Beruf, vielleicht fahren wir jedes Jahr zum selben Urlaubsort. Diese Routine schleicht sich ein und die ist dann, wenn man so will, ein Zeit-Killer", so Wittmann. "Weil die Dinge nicht mehr neuartig sind, wir kennen sie schon, wir werden routiniert. Und dadurch können wir im Rückblick nicht mehr so viele Dinge hochholen, die die Zeit dehnen würden. Relativ gesehen sind deswegen für einen 50-Jährigen die letzten zehn Jahre schneller vergangen als für einen 30-Jährigen."

Ein langes Leben allein reicht nicht

Je älter wir werden, desto routinierter werden wir. Deshalb bleibt weniger in unserem Hirn kleben. Und deshalb erinnern wir uns an weniger Dinge. Und deshalb scheinen die letzten Jahre, an die wir uns zurückerinnern, immer kürzer zu sein als die Jahre zuvor. Das ist echt tragisch. Jede und jeder von uns will nicht nur länger leben, sondern auch, dass sich das Leben lang und bedeutend anfühlt.

"Wir sind dem nicht gänzlich ausgeliefert", verrät Zeitwahrnehmungsforscher Marc Wittman, wir können nämlich etwas tun: "Man kann sich für neue Bekanntschaften und Freundschaften öffnen. Dann kann man sagen: Wollte ich nicht schon immer mal diesen Sport ausüben, oder dieses Instrument spielen? Können wir nicht mal was ganz Neues machen, was ich noch nie gemacht habe in meinem Urlaub? Und man kann auch mehr darauf achten: Was tue ich eigentlich in meinem Alltag, wo sind meine Routinen?"

Eigentlich gar nicht so schwierig, oder? Will man es auf den Punkt bringen, lautet der Plan also: Bis zum Schluss so leben, als wäre man ein Kind.

Dieses Thema im Programm: MDR | Große Fragen in zehn Minuten | 02. April 2025 | 12:00 Uhr

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