Demokratie "Die da oben": Raj Kollmorgen über DDR-Prägungen und Rechtspopulismus in Ostdeutschland
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31. Juli 2024, 09:18 Uhr
Die Erfolge populistischer Parteien basieren in Ostdeutschland einerseits auf den kulturellen Prägungen durch die DDR und andererseits auf den Enttäuschungen nach der Wende, sagt der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen.
Die AfD hat bei den Europawahlen in Ostdeutschland fast überall die meisten Stimmen bekommen, obwohl deren Vertreter teilweise Grundpfeiler der Demokratie infrage stellen, wie die Enthüllungen um das Treffen von Potsdam gezeigt haben. Deswegen wird die Partei inzwischen bundesweit als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft, die Landesverbände Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sogar als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen.
Was sagen diese Ergebnisse aus über das Verhältnis der Menschen in Ostdeutschland zum demokratischen System? Steht die Verfassung der Bundesrepublik in ihrer bisherigen Version im Osten auf wackligen Füßen?
Anders gefragt: Ist der Erfolg der extremen Rechten überhaupt ein besonders ostdeutsches Phänomen? Schließlich hat auch ein Donald Trump vier Jahre lang die USA regiert, mit schrillen, teilweise offen rassistischen Parolen und Fremdenhass. Solche Ressentiments haben auch die Abstimmung für den Brexit in Großbritannien beeinflusst und der langanhaltende Erfolg der Le Pens in Frankreich zeigt: Rechtspopulismus ist in Europa kein kurzlebiges Phänomen.
Der Soziologe Raj Kollmorgen forscht und lehrt an der Hochschule Zittau-Görlitz und hat zuletzt unter anderem das Buch herausgegeben "Die neue Mitte – Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten".
Frage: Was sind aus Ihrer Sicht Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen rechtspopulistischen Akteuren und ihren Wählern? Und was ist spezifisch ostdeutsch?
Raj Kollmorgen: Ich werbe erst mal dafür, dass wir uns die Differenz zwischen verschiedenen politischen Parteien und Bewegung noch mal klarmachen: Auf der einen Seite gibt es rechtspopulistische Akteure, die meistens noch sehr deutlich zu den Mechanismen, Verfahren und Grundorientierungen von Demokratie stehen. Auf der anderen Seite gibt es rechts- und im Übrigen auch linksextreme Akteure, die das aktuelle System der Demokratie insgesamt aufheben wollen. Diese Unterscheidung sollten wir ernst nehmen, das ist wichtig. Denken wir an die Tories in Großbritannien, die den Brexit vorangetrieben haben, dann sind die eine Stütze des demokratischen Systems. Die können wir beim allerbesten Willen nicht als Rechtsextreme bezeichnen. Aber richtig ist, dass es fließende Übergänge gibt. Unter anderem in der AfD finden wir Akteure, Fraktionen und Gruppierungen, die in der Tat rechtsextrem orientiert sind.
Zu den Gemeinsamkeiten weltweit: In der Tat handelt es sich um ein globales Phänomen. Es ist aber eines, das wir nicht erst seit zehn oder 20 Jahren kennen, sondern weitaus älter. Populistische Politikstile und Grundorientierung sind, wenn man es ganz weit fasst, so alt wie die Idee der Demokratie selbst. Diese Bewegungen, die wir heute kennen, die stammen eigentlich alle aus den 1970er- und 80er-Jahren. Seitdem gab es wellenförmige Bewegungen; sie hatten mal mehr, mal weniger Zulauf. Dass sie jetzt also seit den 2000er-Jahren eine besondere Stärke entwickelt haben, vor allem in den vergangenen zehn Jahren, verdankt sich einer ganzen Reihe von Entwicklungen.
Da ist die weltgesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre: Zugespitzt könnte man sagen, dass die Nachkriegszeit eigentlich erst jetzt wirklich abgeschlossen ist. Zwar war 1989 das Schwellenjahr, aber in den zwei bis drei Jahrzehnten danach schien eigentlich die Welt noch den Orientierungen zu folgen, die in westlichen Gesellschaften etabliert waren. Dazu zählt die Institutionenordnung, die Idee einer auch neoliberal angelegten Globalisierung der Wirtschaft, aber auch der Kulturen. Jetzt sind wir an einen wirklichen Endpunkt gelangt und befinden uns in einer gravierenden Transformationsperiode. Und die schafft Unsicherheit. Alte Regeln, alte Orientierungen funktionieren nicht mehr. Neue sind aber noch nicht wirklich etabliert. Und in diesen unsicheren, krisenhaften Zeiten suchen Menschen eine Orientierung in dem, was sie kennen: Das kann man als Form von Nostalgie bezeichnen oder als weichzeichnenden Rückblick auf die guten alten Zeiten. Da geht es um ursprüngliche Gemeinschaften, wo eine Identifikation leichtfällt. Die Idee ist, dass man sich in diesen ursprünglichen Gemeinschaften gut solidarisieren kann, vor allem gegenüber Dritten, von denen man wiederum annimmt, dass sie einem etwas wegnehmen wollen. Das ist ein Mechanismus, den wir aus der Weltgeschichte kennen. Das finden wir bei der AfD wie auch bei den Brexit-Anhängern oder bei Donald Trump. Also die Idee, dass es eine gute alte Zeit gab.
Zugespitzt könnte man sagen, dass die Nachkriegszeit eigentlich erst jetzt wirklich abgeschlossen ist. [...] Jetzt sind wir an einen wirklichen Endpunkt gelangt und befinden uns in einer gravierenden Transformationsperiode. Und die schafft Unsicherheit.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Orientierung vieler Menschen auf eine Stärkung demokratischer Partizipation. Das ist eine längere Entwicklung, die Zeit gebraucht hat, um sich zu entfalten. In der Politikwissenschaft sprechen wir bereits seit über 30 bis 40 Jahren darüber. Damit geht einher: Je stärker sich Menschen einbringen wollen, desto weniger sind sie zugleich bereit, sich Dritten unterzuordnen, etwa einem Parteiapparat. Sie wollen sich auch nicht mehr langfristig an Verbände binden. Und je mehr das passiert, desto schwieriger wird es für die Funktionsweise just dieser klassisch demokratischen Institutionen.
Das sind zwei wichtige Gemeinsamkeiten der weltweiten Entwicklungen.
Und zugleich gibt es hochgradig spezifische Ausprägungen, wenn rechtspopulistische Akteure das "homogene Volk" gegenüber einer liberalen Elite in Stellung bringen und mit einer Fundamentalkritik zu einer nationalistisch verstandenen Politik zurückkehren wollen. Schauen wir uns das in Ostdeutschland an, dann würde ich im Wesentlichen zwei zentrale Punkte nennen: Einerseits gibt es deutliche Bezüge auf die DDR-Vergangenheit und insbesondere die revolutionäre Überwindung des staatssozialistischen Herrschaftssystems. Da sind wir beim Motto "Wende 2.0", also der Idee, dass der Umbruch von 1989/90 wiederholt werden soll. Da wird in gewissem Umfang die heutige demokratische Elite mit dem alten Herrschaftsapparat der DDR gleichgesetzt. Und der zweite Punkt ist das Einspannen in das Ost-West-Verhältnis. Andererseits haben die ostdeutschen Rechtspopulisten einen sehr deutlichen Bezug auf den Vereinigungsprozess und seine Probleme. Sie versuchen, sich selbst als authentische ostdeutsche Akteure in Stellung zu bringen gegenüber westdeutschen Eliten, westdeutschen Institutionen. Deswegen haben sie die Feier zu 75 Jahren Grundgesetz mit einer gehörigen Skepsis, sogar Ablehnung begleitet.
Frage: Ist die Situation hier in besonderer Art und Weise gefährlicher für die Demokratie als in Westdeutschland? Oder ist sie einfach nur anders?
Kollmorgen: Wir haben es in den ostdeutschen Ländern zu einem Teil mit radikaleren rechtspopulistischen Akteuren zu tun, die deutlich gewaltaffiner sind, auf der einen Seite. Da haben wir genau diesen fließenden Übergang in das rechtsextremistische Lager, was man gut an Björn Höcke und der Thüringer AfD sieht. Und auf der anderen Seite sind die Menschen hier auch radikaler in ihren Orientierungen, weil es eine noch stärker ausgeprägte Systemkritik gibt, unter Bezug auf die DDR, die friedliche Revolution und die Perspektive auf die fremden, westdeutsch dominierten Eliten.
Ich warne allerdings auch davor, jede Systemkritik ab sofort als rechtspopulistisch oder rechtsextrem zu bezeichnen. Selbstverständlich gehört es – und die Debatte zum Grundgesetz hat das ja noch mal gezeigt – zum Wesen der Demokratie, dass es auch eine kritische Reflexion und Debatte über demokratische Institutionen geben muss. Und dass die Ostdeutschen mit ihrer Herkunft einen anderen Bezug zu bestimmten Verfahren, Routinen und Traditionen der bundesdeutschen Demokratie haben, liegt in gewisser Weise auf der Hand. Das sollte man nicht von vornherein denunzieren als etwas, was demokratiefeindlich ist.
Frage: Sie schreiben in Ihrem Beitrag von den Aufschichtungen der Geschichte im kollektiven Bewusstsein. Damit meinen sie die Prägungen, die die Menschen durch gemeinsam gemachte Erfahrungen bekommen haben. Vor allem die Ereignisse rund um die Wiedervereinigung und das Ende der DDR haben bei vielen Menschen in Ostdeutschland Wunden und Narben hinterlassen. Was waren aus Ihrer Sicht die entscheidenden Ereignisse?
Kollmorgen: Ich will noch zwei Sätze vorausschicken zu der Aufschichtung, die sich während der staatssozialistischen Zeit vollzogen hat. Das diskutiere ich in jüngster Zeit oft mit Politikerinnen und Politikern, auch Kolleginnen und Kollegen, die oft fragen: Wie präsent kann die DDR heute noch sein? Ich meine, dass die Vergangenheit oft noch viel präsenter ist, als wir, die wir in den Routinen des gegenwärtigen Alltags gefangen sind, es wahrhaben wollen. Da gibt es Transfers und Vermittlungsprozesse, unter anderem in den Familien, und die sollten wir ernst nehmen.
Der Staatssozialismus in der DDR hat sich durch einen interessanten Widerspruch ausgezeichnet. Auf der einen Seite war dieses System hochgradig überpolitisiert, weil eigentlich alles zu Politik gemacht wurde und man sich dem als normale Bürgerin oder Bürger gar nicht entziehen konnte. Sogar noch das Einkaufen war politisch. Jede Freizeitveranstaltung, Sport, war politisch. Es gab praktisch nichts, was nicht politisch war. Das hat die Menschen auch in eine Distanz gebracht zur Politik. Politik war das, was einem von außen aufgedrückt wurde und wo man sich beteiligen musste.
Auf der anderen Seite gab es eine dramatische Unterpolitisierung. Was zu DDR-Zeiten als Politik ausgegeben wurde, war eigentlich eine Form von Nicht-Politik: Sie war rein auf den Staat konzentriert, von dem alles abgeleitet wurde, vom durch die SED geführten Herrschaftsapparat. Völlig gefehlt hat dagegen eine autonome, selbst organisierte Zivilgesellschaft. Eine, wie Hannah Arendt das mal formuliert hat, an freiheitlichem Handeln orientierte Politik. Dieses Muster haben sehr viele Menschen in der DDR aufgenommen und als ein politisch-kulturelles Handlungsmuster auch in die neue Zeit getragen.
Viele Ostdeutsche, die nach 1989/90 in Parteien Mitglied geworden sind oder auch demonstriert haben, die hatten nach zwei, drei Jahren den Eindruck: "Es ist ja völlig egal, was ich hier tue. Die grundsätzliche Vereinigungspolitik ändert sich gar nicht."
Wo Politik für die Bürger wirklich handlungsrelevant wurde, war es meistens eine Form des Protestes: Entweder hat man Petitionen verfasst und hat sich bei der Staatsführung beschwert oder man hat sich auf der Straße gesammelt. Das mündete 1989 im Sturz des staatssozialistischen Herrschaftsregimes. Aber schon mit der wirtschaftlichen und sozialen Transformations- oder auch Vereinigungskrise, wie das manche nennen, begann eine Skepsis gegenüber den bundesdeutschen, demokratischen Institutionen zu wachsen. Einerseits, weil sie in der Wahrnehmung vieler Ostdeutscher offenkundig nicht die Probleme lösen konnten. Man verlor seine Arbeit, man erhielt keine Anerkennung für seine Berufsabschlüsse. Häuser und Grundstücke wurden an Westdeutsche zurückgegeben oder verscherbelt und so weiter. Da entstand eine tiefe Enttäuschung darüber, dass die Versprechen nicht gehalten wurden von den berühmten blühenden Landschaften, dass es keinem schlechter gehen würde, dass es aufwärtsgehen würde und so weiter.
Zugleich entstand das Syndrom des Bürgers oder der Bürgerin zweiter Klasse. Das haben 30 bis 40 Prozent Ostdeutsche bis heute. Das sind zwar in erster Linie die Älteren, aber eben nicht nur. Und wir haben die Wahrnehmung breiter Bevölkerungskreise, dass das, was man selbst als Ostdeutsche oder Ostdeutscher in den demokratischen Institutionen, zum Beispiel in den Parteien macht, dass das gar keine Veränderung der eigenen Lebenslage bewirkt. Viele Ostdeutsche, die nach 1989/90 in Parteien Mitglied geworden sind oder auch demonstriert haben, die hatten nach zwei, drei Jahren den Eindruck: "Es ist ja völlig egal, was ich hier tue. Die grundsätzliche Vereinigungspolitik ändert sich gar nicht." Das hat sie in die Distanz getrieben gegenüber den demokratischen Institutionen und wurde als Einstellung konserviert und stabilisiert.
Es folgten die krisenhaften Zuspitzungen, die zur Agenda 2010 führten und zur Einführung von Hartz IV. Diese Vorhaben haben Ostdeutsche besonders getroffen, weil die Arbeitslosigkeit hier viel höher war. Es gab auch kaum private Ersparnisse und finanziellen Rückhalt, die es im Westen teilweise noch gab. Viele fühlten sich ein weiteres Mal enteignet.
In der Staatsschuldenkrise und danach, also in den Jahren 2008 bis 2010 und dann während der Migrationsbewegung 2015 und 2016, da nahmen viele Ostdeutsche wahr, dass auf einmal möglich war, was für sie über Jahrzehnte nicht möglich war, nämlich deutliche Solidarität zu leisten. Und dass diese Solidarität geübt wird gegenüber unbekannten Dritten, Fremden, die man gar nicht kennt. Egal, ob das die griechischen Staatsfinanzen oder die Griechen selbst betraf oder aber auch die Menschen, die aus Afghanistan, Pakistan und Syrien vermehrt nach Deutschland kamen. Das hat alles diese rechtspopulistische Einstellung genährt, dass "die da oben uns gar nicht wahrnehmen", dass man sie "am Ende auch ablösen muss", dass es irgendwie einen neuen Anfang braucht. Und dass diese Eliten korrupt sind, weil sie die "wahren Probleme des Volkes" nicht sehen und überhaupt das Volk geringschätzen. Also genau dieses homogen verstandene Volk. Das reicht bis in die Pandemie-Zeit hinein.
Frage: Verhindert diese Wahrnehmung auch, dass man differenzierter auf die einzelnen Phänomene gucken kann? Ob die Zuwanderer, die Kriegsflüchtlinge, ob diese wirklich alles geschenkt bekommen oder ob das vielleicht so nicht stimmt? Was wäre nötig, damit die Menschen ihren Blick wieder öffnen können?
Kollmorgen: Das ist eine wirklich gute Frage, die wirklich viele Menschen beschäftigt. Die Frage ist: Wie gehen wir eigentlich in Ostdeutschland mit diesem Phänomen um? Ich würde zunächst argumentieren, dass man diesen Widerspruch aushalten muss, der durch die langfristige kulturelle Prägung von Generationen in Ostdeutschland entsteht. Er wird nicht einfach verschwinden. Es gibt nichts, was diese kulturelle Prägung – in der Soziologie nennen wir das auch den "Habitus" – einfach auflöst. Das sind Einstellungen, das sind Wahrnehmungs- und Urteilsmuster, die längerfristig geprägt werden. Da spielen Kindheit und Jugend eine wichtige Rolle, Schlüsselereignisse: Das alles wird man so ohne weiteres nicht los. Selbst wenn es gelingt, neue Einstellungen zu gewinnen, sind diese immer noch grundiert durch diese alten Muster, weil sie da anschließen müssen. Das kann nicht weggeschoben werden, durch keine konkrete Politik, durch keine Ansprache und durch keine Bildungsveranstaltung.
Man muss diesen Widerspruch aushalten, der durch die langfristige kulturelle Prägung von Generationen in Ostdeutschland entsteht. [...] Das sind Einstellungen, das sind Wahrnehmungs- und Urteilsmuster, die längerfristig geprägt werden.
Da ist erstmal sehr wichtig, diese Realitäten anzuerkennen, die es in Ostdeutschland jetzt gibt. Wenn ich sage Widerspruch, dann meine ich auch, dass das umgekehrt nicht bedeuten kann, dass man Gruppierungen der Bevölkerung politisch einfach aufgibt, nach dem Motto, "das sind eben Extremisten, mit denen müssen wir uns nicht weiter beschäftigen, denn sie sind für die Demokratie sowieso verloren". So etwas geht normativ in einer demokratischen Gesellschaft auf keinen Fall.
Auf der anderen Seite darf man auch nicht glauben, dass Bildungsveranstaltungen oder Maßnahmen gar nicht verfangen und nichts auslösen. Es bedeutet nur, dass sie nicht zu einer unmittelbaren Verhaltensänderung führen. Sondern: Das sind die berühmten dicken Bretter, die wir gemeinsam bohren müssen.
Es braucht klassische politische Bildung, die meiner Wahrnehmung nach deutlich früher anfangen muss, und sie muss auch praktiziert werden, besonders natürlich in den Schulen, aber auch in Sportvereinen oder Verbänden. Dort muss man Demokratie wirklich einüben, Wissensbestände aufbauen und praktizieren. Ich will noch etwas Zweites hervorheben: Der Rechtspopulismus nährt sich auch aus geschlossenen Kommunikationsräumen, nicht zuletzt in sozialen Medien und dass die Menschen in geschlossenen Milieus miteinander verkehren. Das betrifft ganz Deutschland, auch die sogenannten alten Bundesländer, aber insgesamt auch ganz Europa, vielleicht sogar die Weltgesellschaft. Diese wechselseitigen Grenzziehungen, die in unseren heutigen Gesellschaften existieren, die dazu führen, dass wir uns vor allem in Milieus bewegen, in denen wir uns bestätigt finden, wo aber nur wenig Kritik geäußert wird – sie müssen aufgebrochen werden.
Es gibt nicht mehr viele Institutionen und soziale Räume, in denen Menschen aus unterschiedlichen Milieus zusammenkommen und wechselseitig erfahren können, dass sie eigentlich Gleiche sind, dass sie etwas teilen, dass sie sich nicht nur fremd sind. Auch, dass die Eliten nicht nur korrupt sind und die Reichen nur reich und die Armen faul und so weiter. Dafür Gelegenheiten zu schaffen, gemeinsame Projekte, Ideen zu entwickeln, das wäre wichtig. Es gibt durchaus gute Beispiele, unter anderem hier im ländlichen Raum Ostsachsens, in dem ich lebe. Das könnte zum Beispiel auch so etwas wie ein sozialer Pflichtdienst seien, wo Menschen aus unterschiedlichen Milieus zusammenkommen. Das scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein, um über diese rechtspopulistischen Verkantungen und die Abgrenzungslogik hinauszugehen.
Kann die AfD ihre Anhänger eigentlich enttäuschen, und zum Beispiel auch ein Teil von "die da oben" werden? Oder hat sie umgekehrt das Potenzial, ihre Mitglieder und Anhänger an das demokratische System zu gewöhnen, sie zu integrieren?
Das ist eine wirklich gute Frage. Und ich würde darauf zwei grundsätzliche Antworten geben. Erstens: Viele, die angefangen haben, sich ab 2013/14 in der AfD zu engagieren, haben das nicht mit einem rechtsextremistischen Hintergrund gemacht, sondern aus einer Wahrnehmung heraus, dass die etablierten Parteien nicht mehr ernsthaft unterscheidbar sind. Sie haben den Bedarf gesehen, gegen bestimmte politische Entwicklungen aktiv zu werden, und haben sich eingebracht. Man könnte also schlicht und ergreifend sagen, sie haben genau das gemacht, was wir gerne von ihnen erwarten: sich nämlich politisch zu engagieren, und zwar in einer Partei.
Das ist genau das, was in den Sonntagsreden von SPD-Politikern, von CDU/CSU und den Grünen immer wieder gefordert wird: Bitte geht in die Parteien, gestaltet mit. Das haben die Menschen gemacht, wenn auch nicht so, wie es die genannten Parteien gerne gehabt hätten. Ich sage das ganz ausdrücklich unabhängig von dem Weg, den die AfD in den letzten zehn Jahren zurückgelegt hat, auf dem sie sich radikalisiert hat und in Teilen gewaltaffiner, systemkritischer geworden ist. Heute wird sie vollkommen zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet und in Teilen als gesichert rechtsextrem eingeschätzt. Trotzdem haben sich viele Menschen engagiert, weil sie eine andere Politik wollten und das war eine Chance. Es gibt also Engagement, das man ganz grundsätzlich gewinnen kann.
Und klar, auch die AfD kann ihre Sympathisantinnen und Parteimitglieder enttäuschen, bis sie sich abwenden und das ist ja bereits massenhaft passiert. Die Partei ist mitnichten ein homogener Block, der seit 2013 immer nur wächst und neue Mitglieder gewinnt. Wir wissen alle, was bei den Häutungen der AfD passiert ist, wer die Parteispitze verlassen hat und wie viele Parteimitglieder ausgetreten sind, weil sie mit dieser Entwicklung nicht einverstanden waren. Da geht es der AfD wie allen Parteien, dass ihre Politik, Inhalte oder auch die Verfahren – denken wir an die teils chaotischen Parteitage und an falsche Listenaufstellungen und so weiter – dramatisch enttäuschend sein können. Das gilt auch in den Kommunen, in den Landkreisen und in den Städten, bis in die Landtage hinein: Die häufigen Abwesenheiten der AfD-Vertreter in den Sitzungen, aberwitziges Abstimmungsverhalten im Europäischen Parlament, die vielen Versuche, die Gegner auszuspielen. Man darf noch mal an Thüringen denken, die Entwicklung dort haben auch nicht alle goutiert. Viele Sympathisantinnen und Sympathisanten sehen, dass auch die AfD "nur mit Wasser kocht".
Meine Vermutung ist, wenn die AfD wirklich mal in eine Regierung kommt – und absehbar ist das aus meiner Sicht nicht, weil sie immer noch eine Minderheit ist – aber sollte das je passieren, dann werbe ich sehr dafür, dass wir nicht wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen und eine Diskussion führen, die durch Angst getrieben ist. Ich finde oft übertrieben, wie die wehrhafte Demokratie gegen die AfD in Stellung gebracht werden soll. (Klar, im Einzelnen gibt es schon wichtige Punkte, etwa die Verfassungsgerichte und die Richter zu schützen). Aber grundsätzlich ist unsere Demokratie eine plurale und dazu föderale, und es gibt den Verfassungsschutz. Wir haben eine starke Demokratie, auch eine starke Zivilgesellschaft, das haben wir in den vergangenen Monaten vielfach erlebt. Das Szenario einer Machtübernahme wie durch die NSDAP 1933 halte ich daher für maßlos übertrieben.
Links/Studien
- Kollmorgen, Raj/Vogel, Lars/Zajak, Sabrina (Hrsg): Ferne Eliten. Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund. Springer.
- Venjakob et.al.: Nachhaltige Kommunalentwicklung im Strukturwandel. Umweltbundesamt.
- Enders, Kollmorgen, Kowalczuk: Deutschland ist eins: vieles. Bilanz und Perspektiven von Vereinigung und Transformation. Campus
- Schütz, Schäller, Kollmorgen: Die neue Mitte? Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten, Böhlau.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Im Diskurs | 01. Juni 2024 | 19:00 Uhr