Politikwissenschaften Studien: Parteien halten ihre Wahlversprechen viel häufiger als angenommen
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04. Mai 2024, 13:36 Uhr
Sehr viele Menschen in Deutschland glauben, dass Parteien ihre Wahlversprechen nicht einhalten. Studien allerdings belegen das Gegenteil. Eine aktuelle Arbeit der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass die aktuelle Ampel-Regierung bereits 64 Prozent ihrer Koalitionsversprechen umgesetzt oder deren Umsetzung angestoßen hat.
"Die Ampel hat mehr als 450 einzelne Regierungsvorhaben vereinbart. Sie hat bereits zur Halbzeit etwa ein Drittel vollständig und ein weiteres Drittel zumindest teilweise erfüllt, ist also substanziell dabei, das zu erfüllen", erklärte Professor Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung MDR WISSEN. "Ich finde, das ist eine Halbzeitbilanz, die sich wirklich sehen lassen kann."
Ampel mit 450 Koalitionsversprechen – mehr als unter Merkel
Vehrkamp weist darauf hin, dass allein die Zahl von 450 Koalitionsversprechen ein ambitioniertes Ziel der Ampel ist. Die Vorgängerregierung unter Angela Merkel habe sich lediglich auf 300 Vorhaben beschränkt. "Ich kann die Politik der Ampel falsch finden oder Anhänger einer anderen Partei sein und sagen, da hätte ich mir gern etwas Anderes gewünscht", erläutert Vehrkamp. "Was man jedoch nicht sagen kann, dass die Ampel nicht das tut, was sie den Wählerinnen und Wählern versprochen hat."
Beispielsweise sei nach jahrzehntelanger Diskussion ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, eine Wahlrechtsreform durchgeführt und die Staatsangehörigkeit reformiert worden. Zudem habe die Ampel gleich zu Beginn der Legislatur die Klimagesetzgebung erneuert, die "jetzt dazu führt, dass wir die Klimaziele, zu denen wir uns verpflichtet haben, auch tatsächlich einhalten."
Viele beschäftigen sich nicht professionell mit Politik
Warum aber nehmen die Menschen die Politik so viel unzuverlässiger wahr, als sie tatsächlich ist? Für Vehrkamp ist eine Erklärung sehr einfach: "Die meisten Menschen beschäftigen sich nicht professionell mit Politik. Sie laufen nicht ständig mit Koalitionsvertrag herum, was davon umgesetzt wird und was nicht", erklärt der Forscher von der Bertelsmann-Stiftung.
Hinzu kommt: "Wir haben nach der Corona-Krise, nach der Ukraine-Krise, nach der Inflations- und Wirtschaftskrise natürlich alle eine sehr schwere Zeit, die Gesellschaft findet sich unter Stress und viel davon bekommt in der allgemeinen Zuschreibung die verantwortliche Regierung."
Die meisten Menschen beschäftigen sich nicht professionell mit Politik. Sie laufen nicht ständig mit Koalitionsvertrag herum, was davon umgesetzt wird und was nicht.
Umfragen immer weniger Vorhersagen für tatsächliche Wahlergebnisse
Dass der breiten Mehrheit der Wähler politische Detailkenntnisse fehlen und dass sich gegenwärtig Krisen auftürmen, sind für den Forscher Vehrkamp jedoch nur ein Teil der Gründe für die Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität.
Er sieht zudem eine starke Wirkung von emotionalen Stimmungen auf Umfragen in der Politik. "Ein zweiter Punkt: Wir sehen natürlich auch, dass Umfragewerte immer stärker stimmungsgetrieben sind und die Stimmung ist im Moment in vielen Teilen der Gesellschaft schlecht und davon bekommt die Ampel-Regierung sehr viel ab", erklärte Vehrkamp. "Umfragen sind auch immer weniger Vorhersagen für die tatsächlichen Wahlergebnisse."
Umfragen sind auch immer weniger Vorhersagen für die tatsächlichen Wahlergebnisse.
Forschende aus Konstanz: Die Mehrheit glaubt nicht, dass Versprechen eingehalten werden
Auch Wissenschaftler an der Universität Konstanz beschäftigen sich in zwei Studien mit Versprechen in der Politik. Sie untersuchen allerdings nicht die Koalitionsversprechen, sondern die Versprechen, welche die Parteien vor ihrer Wahl gegeben haben – in Deutschland und in Frankreich.
Die Politikwissenschaftlerin Elisa Deiss-Helbig wollten zunächst in zwei Umfragen wissen, was Menschen erwarten: Setzen gewählte Parteien ihre Versprechen auch um? "Ein Großteil unserer Befragten, 60 Prozent plus, sind der Meinung, dass die Regierung und die Parteien im Allgemeinen keine bis sehr wenigen Wahlversprechen umsetzen", erklärte die Forscherin. "Wir erleben hier eine relativ negative Sicht auf die Umsetzungsquote der Parteien."
Ein Großteil unserer Befragten, 60 Prozent plus, sind der Meinung, dass die Regierung und die Parteien im Allgemeinen keine bis sehr wenigen Wahlversprechen umsetzen.
Analyse: Etwa 60 Prozent der Versprechen aus Wahlprogrammen werden umgesetzt
Auch Deiss-Helbig kommt mit ihrem Team zu dem Ergebnis, dass die Parteien sehr viele Versprechen umsetzen. "Mein Kollege hat die Analyse für Deutschland umgesetzt. Darin ist er zu dem Schluss gekommen, dass etwa 60 Prozent der Versprechen der Regierung zumindest teilweise umgesetzt worden. In Ländern mit Einparteienregierungen sind die Anteile auch noch höher."
Es ist also genau umgekehrt, wie die Befragten der Studie annehmen. Statt Bruch der Versprechen ist ihre Erfüllung die Regel.
Etwa 60 Prozent der Wahlversprechen der Regierungen sind zumindest teilweise umgesetzt worden.
Verschiedenes Verständnis von Wahlversprechen
Ein Grund für die Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität könnte laut Deiss-Helbig darin liegen, dass Wissenschaftler und Allgemeinheit verschiedene Dinge als Wahlversprechen verstehen. Die Wissenschaft betrachte konkrete Forderungen wie etwa das Versprechen, eine Reform durchzuführen oder ein Gesetz zu ändern. Die Bevölkerung hingegen nehme eher schwammige Ankündigungen wie beispielsweise, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren oder den Fachkräftemangel einzudämmen, als Versprechen.
Motiviertes Denken blockiert Informationen, die nicht zum eigenen Bild passen
Zudem spielen laut Deiss-Helbig nüchterne Fakten manchmal nur eine Nebenrolle in der Wählergunst. Relevant sei auch das sogenannte "motivierte Denken": "Bei der Bewertung von Politik spielen auch allgemeine Einstellungen und Parteineigungen eine Rolle", erklärte sie. "In der Psychologie gibt es hier den interessanten Begriff des "motivierten Denkens". Neue, vielleicht positive Informationen, würden dabei gar nicht aufgenommen, wenn sich vorher ein ohnehin negatives Bild etabliert habe.
Wer sich also vorgenommen hat, die Arbeit einer Regierung schlecht zu finden, lässt sich mitunter nicht mehr vom Gegenteil überzeugen, selbst wenn es stimmt.
Mehr Fairness in den Debatten
Verhkampf von der Bertelsmann-Stiftung erklärt, die Ampel sei deutlich besser als ihr Ruf ist. Er plädiert für Fairness in der Diskussion. "Wer Dankbarkeit erwartet, sollte nicht in die Politik gehen. Doch ich finde, dass wir uns alle um eine faire, sachliche Diskussion bemühen sollten", sagte Vehrkamp. "Was die Regierung hinbekommt, was sie aber auch nicht hinbekommt, das sollte man deutlich kritisieren. Doch die Fairness darf nicht auf der Strecke bleiben."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 26. April 2024 | 07:32 Uhr
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