Zum Zustand der Streitkultur Zwischen Streitlust und Streitvermeidung

25. Oktober 2024, 17:17 Uhr

Links gegen rechts, alt gegen jung, Dorf gegen Stadt. Unsere Gesellschaft ist polarisiert und selbst ganz oben im System, in der Regierung, herrscht nichts als Streit. Kann man dem Streit auch positive Seiten abgewinnen?

Mann mit Schal, Mütze und Brille blickt in die Kamera, steht dabei auf einem Weg in einem Park
Bildrechte: MDR

Streitet die Ampel oder streitet sie nicht? Dieses fragile Bündnis dreier gegensätzlicher Partner scheint nur noch im Modus der Auseinandersetzung zu existieren. Ist es vielleicht der Streit, der die Ampel zusammenhält und den finalen Bruch verhindert?

Fakt ist: Nur noch ein verschwindender Bruchteil der Bevölkerung hält die drei Partner für ein gutes Bündnis. Viele Menschen sind einfach nur noch genervt vom Zwist in der Regierung. Warum wird der Streit so negativ bewertet? Hat er auch positive Seiten? Eine Spurensuche unter Beobachtern des Streitgeschehens:

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, r-l), Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Christian Lindner (FDP), Bundesminister der Finanzen, nehmen an einer Pressekonferenz zum Haushaltsplan 2025 teil.
Streiten Sie zu viel? Die Unzufriedenheit mit der Ampel ist auf ein Rekordniveau gestiegen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Einigkeit und Zwist und Freiheit: Konsens ist überbewertet

Beginnen wir mit einer Zahl: Laut der aktuellen Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung meiden 28 Prozent der Deutschen politische Diskussionen komplett, mit der Begründung: Gibt ja eh nur Streit. Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, gilt als streitlustige Person und hat jüngst einen Essay übers Streiten veröffentlicht: "Wir leben in einer sehr befriedeten Gesellschaft mit hohen Idealen: Wir wollen uns alle irgendwie verstehen und wir wollen uns einig werden. Aber wir sehen an der gegenwärtigen politischen Lage, dass das in der Regel gar nicht der Fall ist".

Die gesellschaftlichen und politischen Großkrisen unserer Zeit – Kriege, Klima, Migration und die Nachwehen von Corona – ließen sich anders als in der heftigen Auseinandersetzung gar nicht lösen, ist die Philosophin überzeugt: "Ein Weg wäre, die Unversöhnlichkeit und das Nicht-Übereinkommen wieder viel positiver zu bewerten, also wegzukommen von dieser Idee eines Konsenses, in dem sich irgendwie alle treffen müssen. Das bildet die soziale Wirklichkeit nicht ab".

Das Foto zeigt eine Frau mit blonden kurzen Haaren. Dabei handelt es sich um die Philosophin und Autorin Svenja Flaßpöhler
Philosophin Svenja Flaßpöhler fordert mehr Mut zur Uneinigkeit. Bildrechte: Johanna Rübel

Streitfragen spalten Beziehungen – müssen sie aber nicht

Die Philosophin beobachtet, wie Beziehungen, Bündnisse und Freundschaften an den großen politischen Fragen scheitern: "Ein Grund dafür ist, dass man denkt: wenn wir keinen Konsens haben in diesen Fragen, dann können wir nicht mehr befreundet sein. Und dann können wir auch keine politische Gemeinschaft mehr bilden", das sei ein Irrtum folgert Flaßpöhler.

Wenn der Konsens nicht mehr als Ziel angestrebt werde, sei der Lösungsraum für Konflikte viel größer. Die Demokratie müsse ein breites Feld an Ansichten, Meinungen und Zumutungen zulassen. Aber: Wir müssten unsere politischen Kontrahenten als Gegner und nicht als Feinde sehen: Mit Gegnern messen wir uns wie auf dem Sportplatz nach Regeln, Feinde wollen wir zerstören.

Gute Streitkultur k(l)ickt nicht

David Lanius forscht am DebateLab des Karlsruher Instituts für Technologie zur Streitkultur: "Ich glaube, der Zeitgeist ist: Es steht ganz schlecht um die Streitkultur und wir haben ein ganz großes Problem." Für diese Bewertung gebe es triftige Gründe, so der Philosoph: Unser mediales Umfeld, allen voran die Funktionsweise der sozialen Medien, ist nicht auf einen Austausch von Argumenten mit dem Ziel der Verständigung ausgerichtet, sondern auf Empörung, Krawall und Zuspitzung.

Negative Meinungen und Meldungen werden viel häufiger geteilt als positive Nachrichten – das zeigen zahlreiche Studien aus der jüngeren Vergangenheit. Wer die größte negative Zuspitzung bietet, fällt auf und bindet Aufmerksamkeit: "Und das sehen wir ja bei populistischen Parteien, aber auch bei demokratischen Akteuren, die sich dem Druck ausgesetzt sehen, diesen Mechanismen zu folgen und ihre Rhetorik anzupassen", so Streitforscher Lanius.

Das Foto zeigt einen Mann mit dunklen Haaren, der in die Kamera lächelt. Es ist der Philosoph und Streiforscher David Lanius vom Karlsruher Institut für Technologie
David Lanius hat das 'Forum Streitkultur' gegründet, um das gute Streiten voranzubringen. Bildrechte: privat

War früher alles besser?

Auf der anderen Seite erkennt der Philosoph einen gegenläufigen gesellschaftlichen Trend: "Wir haben insgesamt höhere Ansprüche, was gutes Streiten angeht. Wir sind sensibler geworden für Beleidigungen, für bestimmte Grenzüberschreitungen oder was zum Beispiel verbale Gewalt ausmacht. Wenn wir uns zum Beispiel Bundestagsdebatten aus den 70ern angucken, sehen wir da relativ viel Sexismus, Rassismus und solche Sachen, die es schwer machen zu sagen: die heutige Debattenkultur ist klarerweise sehr viel schlechter als früher."

Kein Streit ist auch keine Lösung

Erhöhte Sensibilität auf der einen, krassere Zuspitzungen auf der anderen Seite – wie findet da eine demokratische Gesellschaft zusammen? "Streit brauchen wir in der Demokratie, um die Konflikte, die wir eigentlich immer haben auf eine Art und Weise auszuhandeln, die besser ist als die offenen Konflikte. Und Streit ist ein geeignetes Mittel, weil es demokratisch legitim ist, im Vergleich zu physischer Gewalt oder indem ich Menschen, die mir nicht passen, ins Exil schicke oder einsperre oder noch Schlimmeres", sagt der Philosoph.

Allerdings muss dieser Streit auf Regeln aufbauen, die der Logik der sozialen Medien widersprechen: zuhören können, ehrliches Interesse an den Argumenten und Meinungen des Gegenübers zeigen, verstehen wollen, bereit sein auch mal die eigene Haltung zu überdenken: "Ich glaube, die meisten von uns haben gelernt, dass man nicht klein beigeben sollte, dass man auf jeden Fall für seine Überzeugungen einstehen sollte, dass man keine Fehler zugeben sollte. Und wenn man die Haltung ein bisschen verändert, ist es gar nicht mehr so schwer", sagt Streitforscher Lanius.

Streiten üben

Gutes Streiten kann man üben – das könnte sogar für die Ampel gelten. Denn auch wenn ein Teil der Deutschen Streit lieber komplett meidet, die meisten Menschen lehnen Streit nicht per se ab: Laut einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung sind 69 Prozent der Deutschen davon überzeugt, dass sich "Politiker auch mal streiten müssten, wenn sie unterschiedlicher Ansicht" sind. Allerdings sagen fast genauso viele Menschen, dass aus dem Streit Kompromisse erwachsen müssten: "Streit um der Debatte wegen ist für viele Menschen kein Selbstzweck, er muss in Ergebnisse münden", so die Autoren.

Dieses Thema im Programm: MDR+ | Meine Challenge | 04. Oktober 2024 | 12:00 Uhr

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