Wenn Reden kostet: Forschungen zur Meinungsfreiheit Wer hat Angst, seine Meinung zu sagen?

11. Oktober 2024, 16:09 Uhr

Zwischen Cancel Culture und Selbstzensur: Ist der Meinungskorridor zu eng geworden? Die Deutschen haben zunehmend das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können. Was heißt das genau und welche Folgen hat das für die Demokratie? Politikwissenschaftler Richard Traunmüller ist diesen Fragen empirisch nachgegangen.

Allensbach-Umfrage: Die Meinungsfreiheit nimmt ab

Kann man heute in Deutschland noch frei seine Meinung äußern oder sollte man besser vorsichtig sein? Seit über 70 Jahren, jedes Jahr aufs Neue stellt das Institut für Demoskopie Allensbach diese Frage. Und immer weniger Menschen haben das Gefühl, frei sprechen zu können: In der aktuellen Umfrage von Ende 2023 sagten das nur 40 Prozent der Befragten. Anfang der 70er Jahre waren es noch 83 Prozent und diese Zahl war über lange Zeit stabil.

Was heißt das für eine Demokratie, wenn eine Mehrzahl der Menschen glaubt, nicht mehr frei sprechen zu können oder vorsichtig sein zu müssen?

Das Recht auf freie Meinung gilt, oder?

Eine Antwort könnte lauten: Nichts – denn die freie Meinungsäußerung ist hierzulande im Grundgesetz verankert, Gefühle hin oder her: Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut und Artikel 5 erlaubt es, radikale Ansichten zu äußern, ohne dafür seine Freiheit im engeren Sinne aufgeben zu müssen, also ins Gefängnis zu kommen.

Kunstwerk von Dani Karavan "Grundgesetz 49"
Bildrechte: imago images / Schöning

Der Staat schreitet nur in seltenen Fällen ein, um Meinungsfreiheit mit einem Freiheitsentzug zu belegen – bspw. wenn Persönlichkeitsrechte anderer Menschen verletzt oder die Holocaust-Verbrechen aus dem Dritten Reich öffentlich geleugnet werden. Ob die eigene Meinung die Grenzen des Sagbaren überschreitet, entscheidet hierzulande die Abwägung im Gerichtssaal. Jenseits vom Justiziablen kann jeder sagen, was er will.

Politikwissenschaftler Richard Traunmüller von der Universität Mannheim hält diese Antwort für zu kurz gegriffen: "Meinungsfreiheit und Demokratie sind eigentlich deckungsgleich. Und wenn die Meinungsfreiheit in der Diskussion ist, dann gilt das auch für die Demokratie." Denn wenn viele Menschen glauben, dass der Meinungskorridor eng ist, dann könnten sie sich dementsprechend verhalten und im Extremfall ihre eigene Meinung zensieren. Und wenn der freie Meinungsaustausch nicht mehr gewährleistet sei, könne die demokratische Partizipation leiden.

Eine Formel für die Kosten der freien Rede

Traunmüller hat mit seinem Kollegen Jan Menzler weitergehende Umfragen zur Meinungsfreiheit durchgeführt. Aber erst hat er eine mathematische Formel entwickelt, die den Grad der Meinungsfreiheit anhand ihrer Kosten beschreibt: "Man muss sich das so vorstellen: Wann ist es günstig sich zu äußern? Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass die Äußerungen sanktioniert werden, gering ist und wenn die Sanktionen selbst geringe Kosten mit sich bringen."

So würden beispielsweise seltene aber hohe Sanktionen der Rede bedeuten, im Anschluss Freunde oder den Job zu verlieren oder ins Gefängnis zu kommen. Deutlich häufiger aber mit geringeren Sanktionskosten verbunden sei es, Widerspruch zu erfahren oder als "extrem" bezeichnet zu werden. Je geringer und unwahrscheinlicher die Sanktionen, desto größer sei die Meinungsfreiheit.

Das Foto zeigt einen Mann in Hemd und Pullover, der an eine Wand gelehnt in die Kamera blickt.
Richard Traunmüller ist Professor für empirische Demokratieforschung an der Uni Mannheim Bildrechte: Anna Logue

Wer hat Angst vor der freien Meinung?

Im nächsten Schritt wollte der Demokratieforscher den Zusammenhang zwischen politischen sowie kulturellen Einstellungen und der subjektiven Meinungsfreiheit herausfinden. Neben den klassischen Kategorien wie Alter, Bildung, Geschlecht und sozialer Schicht sollten sich die Befragten selbst einschätzen: Verorten Sie sich politisch eher links oder rechts? Welcher Partei stehen sie nah? Wie interessiert an politischen Abläufen sind sie? Aus diesen Daten hat der Politikwissenschaftler den Grad der Meinungsfreiheit abgeleitet. Traunmüllers Daten zeigen, dass etwa ein Viertel der Befragten glaubt, die eigene politische Meinung nicht frei äußern zu können. Das sind deutlich weniger Menschen als in der Allensbach-Umfrage, dem Wissenschaftler zufolge aber immer noch irritierend viele.

Unterschiede zwischen links und rechts

Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede: "Es ist leicht vereinfacht, aber nicht verfälschend: Je weiter links sie stehen, desto freier fühlen sie sich und je weiter rechts sie stehen, desto unfreier", erklärt der Politikwissenschaftler. Etwa 15 Prozent der Menschen, die politisch ganz links stehen, haben Sorge um ihre Meinungsfreiheit, wohingegen auf der anderen Seite weit rechts ca. 35 bis 40 Prozent der Menschen diese Meinung vertreten. Konservative und rechte Positionen zum Staatsverständnis, Einwanderungsfragen oder sexueller Orientierung würden häufiger und stärker sanktioniert, so das Ergebnis der Umfragen.

Dies steht laut Traunmüller im Zusammenhang mit der so genannten "stillen Revolution" – der Verschiebung von kulturellen Normen seit den 1970er-Jahren hin zur Akzeptanz sexueller Vielfalt und der Geschlechtergleichheit, die in vielen "westlichen" Gesellschaften Einzug gehalten haben. In jüngerer Zeit seien noch neue Phänomene dazugekommen: geschlechtergerechte Sprache; die "Cancel Culture", die Meinungsäußerungen mit Ausladungen und Boykott sanktioniert oder der "politisch korrekte" Sprachgebrauch, der auf Diskriminierungen im Sprechen hinweisen will.

Cancel Culture Hypothese Hochschulen sollen Studierende vor Äußerungen und Ideen schützen, die sie als beleidigend oder verstörend empfinden – unter anderem indem kontroverse Gastredner ausgeladen oder Professoren geschasst werden. Das ist der Kern einer Bewegung an Universitäten, die vor allem in den USA großen Zuspruch gewonnen hat. Diese Bewegung will die Machtverhältnisse an den Universitäten zugunsten von marginalisierten Stimmen wie die von ethnischen Minderheiten und Frauen ändern. Richard Traunmüller hat diese These empirisch untersucht. Ergebnis: Wenn eine weniger tolerante Kultur vorherrscht und bspw. kontroverse Gastredner ausgeladen werden, dann neigen auch marginalisierte Gruppen eher zur Selbstzensur und fühlen sich nicht frei, ihre Meinung zu äußern.

Grüne sprechen frei, AfDler nicht

Auch in der Präferenz für Parteien lassen sich große Unterschiede ablesen: Niemand in Deutschland fühlt sich freier, seine Meinung zu äußern als Anhänger der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Umgekehrt glauben fast 40 Prozent der AfD-Anhänger, dass ihre Meinungen nicht erlaubt seien. Der dritte ausschlaggebende Faktor ist die Affinität zu Populismus: Wer eine Abneigung gegen kulturelle und politische Eliten hegt, der Vorstellung eines homogenen Volkes und Volkswillens anhängt und politische Kompromisse als schwach empfindet, der ist auch eher davon überzeugt, dass er seine Meinung nicht frei äußern könne.

So ist es auch ein gängiges Stilmittel von populistischen Akteuren und Parteien, mangelnde Meinungsfreiheit zu beklagen: Populismus ohne die Klage von der eingeschränkten oder zensierten Meinungsfreiheit gebe es nicht. Wer glaubt, sich nicht frei äußern zu können, könnte daher auch der Argumentation von Populisten folgen – ohne dass die Meinungsfreiheit objektiv eingeschränkt ist.

Das Bild zeigt eine Frau mit zugegklebtem Mund, darauf der Text: "Meinungsfreiheit - Darum darfst du alles sagen". 1 min
Bildrechte: Imago/Shotshop/Martin Pfeiffer

Di 08.10.2024 11:13Uhr 00:51 min

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/video-klartext-meinungsfreiheit-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das Bild zeigt eine Frau mit zugegklebtem Mund, darauf der Text: "Meinungsfreiheit - Darum darfst du alles sagen". 1 min
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1 min

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Daneben gibt es noch weitere Faktoren: Wer sich selbst in niedrigeren sozialen Schichten verortet, also weniger Geld besitzt und verdient, wer einen Migrationshintergrund hat und wer ostdeutscher Herkunft ist, der sagt häufiger, dass er seine Meinung nicht frei äußern könne: Traunmüller deutet diese Ergebnisse so: Sie seien auch als Ausdruck von Unzufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu verstehen und nicht unbedingt eine präzise Beschreibung der Meinungsfreiheit.

Gerade der Unterschied zwischen West- und Ostdeutschen kann auch ein Hinweis darauf sein, dass Ostdeutsche durch die Sozialisierungserfahrung in der DDR sensibler für "Bedrohungen" der freien Meinungsäußerungen seien.

Wie raus aus der Abwärtsspirale?

Dem Politikwissenschaftler zufolge muss man die Debatte um die freie Rede nuancierter betrachten: "Meinungsfreiheit ist eine große Zumutung. Das muss man sich klarmachen. Man muss tolerieren, dass es Leute gibt, die Ansichten haben, die man nicht teilt und die man vielleicht sogar gefährlich findet. Und auf der anderen Seite müssen die Leute auch kritikfähig sein und Gegenwind für ihre Ansichten aushalten können. Das sind Sachen, die die Demokratie braucht", schlussfolgert Traunmüller.

Eine lebendige Streitkultur, die gegenseitige Meinungen und intensive Debatten zulässt und fördert, eine weite Grenze des Sagbaren, die dennoch die Persönlichkeitsrechte schützt, sowie eine Abwehr von "Cancel Culture" in kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Institutionen könnten dabei helfen, die Abwärtsspirale bei der Meinungsfreiheit einzudämmen.

Links/Studien

Studie: Subjective Freedom of Speech: Why Do Citizens Think They Cannot Speak Freely? Jan Menzner · Richard Traunmüller, 11.August 2022 Politische Vierteljahresschrift (2023) 64:155–181.
Studie: Freiheitsindex 2023 – das Forschungsprojekt des Instituts für Demoskopie Allensbach und Media Tenor International, 2023.
Studie: Testing the 'Campus Cancel Culture' Hypothesis, Richard Traunmüller, 27. März 2023, SSRN.com.

mf

Dieses Thema im Programm: MDR+ | Meine Challenge | 04. Oktober 2024 | 12:00 Uhr

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