Prof. Dr. Matthias Middell, Kulturhistoriker an der Universität Leipzig und Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ).
Professor Matthias Middell, Kulturhistoriker an der Uni Leipzig und Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) plädiert für den globalen Blick und Streit als Chance. Bildrechte: Christian Hüller/Universität Leipzig

Konferenz Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt Leipziger Forscher: "Streit ist die beste Form des Zusammenhalts“

13. September 2023, 16:58 Uhr

Populismus ist laut dem Leipziger Kulturhistoriker Matthias Middell in allen Teilen der Welt gewachsen. Wichtig sei, die deutsche Nabelschau zu verlassen und Streit als Chance für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sehen. Man könne diesen "fröhlich annehmen und gelassen führen“. Zur Jahreskonferenz des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) diskutieren in Leipzig vom 14. bis 16. September 2023 mehr als 150 Forschende über gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Der Kulturhistoriker und Leipziger Forscher Matthias Middell sieht im Streit eine wichtige Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. "Ich rate dazu, diesen notwendigen Streit fröhlich anzunehmen und mit Gelassenheit zu führen – er ist die beste Form des Zusammenhalts, die wir haben, sowohl in Deutschland als auch in den vielen globalen Settings“, erklärte der Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). Dass politisch gestritten und diskutiert werde, zeige die Größe der Herausforderung aktueller Auseinandersetzungen über Politik und demokratische Teilhabe. "Ob jede Form des Streits optimal ist, ist eine andere Frage. Doch dort, wo wir in so einer Situation nicht mehr streiten, ist die Entwicklung vermutlich zum Stillstand gekommen. "Ich halte den Traum von einem Zusammenhalt ohne politische Auseinandersetzungen über die besten Lösungen für gefährlich – in der Geschichte kennen wir viele Beispiele, wie das schiefgegangen ist.“

Middell zufolge seien "politische Auseinandersetzungen das Gegenteil von dem, was häufig als Polarisierung beschrieben wird, denn in extrem polarisierten Situationen wird dem Gegenüber das Recht abgesprochen, Recht zu haben, oder sogar das Recht, mitreden zu dürfen.“ Der Leipziger Forscher erklärte: "Kippen Gesellschaften in diesen Zustand, berauben sie sich entscheidender Entwicklungsmöglichkeiten, die sich nur durch permanente Lernbereitschaft ergeben.“

Entwicklungen weltweit betrachten

Zur Jahreskonferenz des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) diskutieren in Leipzig vom 14. bis 16. September 2023 mehr als 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts aus globaler und historisch vergleichender Perspektive. Dabei nehmen sie Entwicklungen in vielen Teilen der Welt in den Blick und sprechen über gesellschaftlichen Zusammenhalt vor den Herausforderungen des globalen Klimawandels sowie von Migration, Populismus und Rassismus. Das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Institut, das mit elf Standorten in zehn Bundesländern angesiedelt ist und damit die regionale Vielfalt gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland in den Blick nimmt.

Auch Rechtspopulisten rufen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt

Laut Globalisierungsforscher Middell sind die Diskurse über gesellschaftlichen Zusammenhalt kein alleinig deutsches Phänomen, sondern Teil einer globalen Auseinandersetzung über politische Teilhabe. Das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts werde jedoch nicht nur zur Erhaltung und Stärkung von Demokratien diskutiert. Auch meist rechtspopulistische Bewegungen sowie Regime- und Staatenlenker – von Trump in den USA über Orbán in Ungarn zu Kaïs Saïed in Tunesien – würden nach gesellschaftlichem Zusammenhalt rufen. Gleichzeitig forciere "die chinesische KP eine Diskussion über die Art und Weise, diesen Zusammenhalt herzustellen und auszubauen, die eine Absage an westliche Vorstellungen von Zusammenhalt darstellt“. Middell zufolge sei es wichtig, genau hinzuschauen: "Denn der Begriff ist nicht immun gegen totalitäre, nationalistische, fremdenfeindliche und individuelle Freiheitsrechte einschränkende Bedeutungsfacetten – so sympathisch er im ersten Moment erscheinen mag.“

Populismus in vielen Teilen der Welt exponentiell gewachsen

Dem Leipziger Forscher zufolge ist die Aufmerksamkeit für populistische Bewegungen und Regime in den letzten Jahren in vielen Teilen der Welt fast exponentiell gewachsen: "Denn ihr Wachsen fordert regionale und nationale politische Systeme ebenso heraus wie die Formate der internationalen Ordnung.“ Die Unterschiede zwischen den Populismen seien jedoch beträchtlich. Der Leipziger Standort nehme dabei globale Dynamiken in den Blick über die deutsche Nabelschau hinaus – von Ost- und Westeuropa, China, den USA und dem subsaharischen Afrika – was mögliche Zusammenhänge aufwerfe, die mit dem alleinigen Fokus auf den deutschen Fall eventuell gar nicht gesehen werden könnten.

Populisten enorm bereit zu Allianzen

Ein weiterer Fakt sticht laut Forscher Midell heraus: Viele Populistinnen und Populisten seien enorm fähig und bereit zu Allianzen, obwohl ihre Programme dies nicht unbedingt erwarten ließen. "Wir sehen das im EU-Parlament ebenso wie beim Treffen der BRICS+ oder in der Koalition von Militärjuntas in der Sahelzone. Und viele warten mit Spannung auf den Ausgang der nächsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen, bevor sie sich mit Prognosen über den Zusammenhalt in den USA hervorwagen.“, erklärte Middell.

Links/Studien

Webseite zur Konferenz: Jahreskonferenzen (fgz-risc.de)
Hier geht's zum Programm:

kt

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