Ukrainischer Historiker über die Katastrophe Warum Tschernobyl auch heute noch aktuell ist
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16. Januar 2020, 05:00 Uhr
Fast 34 Jahre sind mittlerweile seit der Katastrophe von Tschernobyl vergangen. Noch immer wird die Gefahr der Kernenergie unterschätzt, meint Serhii Plokhy. Sein Buch erweckt die Tragödie von damals zum Leben.
Der 26. April 1986 ist ein sonniger Tag im ukrainischen Prypiat. Ein Tag, an dem sieben Hochzeiten gefeiert werden. In Sichtweite ist das Feuer, das in der letzten Nacht im Kernkraftwerk nach einer Explosion ausgebrochen ist. Zeugenaussagen in Serhii Plokhys Buch Tschernobyl: Geschichte einer Tragödie (Originaltitel: Chernobyl: History of a Tragedy) erwecken die bekannte Geschichte zum Leben. So beschreibt ein Einwohner namens Petrow, wie er noch mit einem Nachbarn scherzt, ein Wodka würde gegen die Strahlung helfen.
Ein anderer sonnt sich auf dem Dach seines Hauses und prahlt, wie schnell er an dem Tag braun wird. "Seine Haut roch sofort verbrannt", erinnert sich Petrow. Auch als der Mann am Abend vom Krankenwagen abgeholt wird, glaubt Petrow noch immer, dass alles wie gewohnt ist. Draußen spielen Kinder während der zerstörte Reaktor seine Strahlung über ihnen verteilt. Immer wieder zeichnet Plokhys Buch ein Bild vom Alltagsleben, das einfach weiter läuft.
Kein trockenes Geschichtsbuch
Das englischsprachige Buch ist im Mai 2018 im britischen Penguin-Verlag erschienen und wurde mit dem Baillie-Gifford-Preis für Sachbücher ausgezeichnet. Ein Buch, das neue Erkenntnisse aus Archiven spannend erzählt, lobten die Kritiker. Denn es ist kein trockenes Geschichtsbuch. An vielen Stellen wird der vehemente moralische Imperativ deutlich, den Plokhy vertritt: "Nie wieder!"
Er selbst scheint erstaunt über das Verhalten der sowjetischen Behörden von damals zu sein, über die lockeren Sicherheitstandards, die vernichtende Geheimhaltungskultur. All das führte zu der Katastrophe. Die Details in seinem Buch sind schlimm genug, aber was alles noch hätte passieren können, will man sich lieber nicht vorstellen. So wurde befürchtet, dass flüssiges Uran in das Grundwasser eindringen und das ganze Dnjepr-Becken vergiften könnte. Plokhy selbst war zu dieser Zeit in Dnipropetrowsk, wo es bereits Gerüchte über die Kontaminierung gab. Ohne Erfolg durchkämmte er die Läden auf der Suche nach Wasserflaschen.
Sicherheitsmaßnahmen waren sinnlos
Warum der Reaktor damals aufhörte zu brennen, ist immer noch unbekannt, erzählt er. "Wir haben eine Theorie, aber sie ist nicht bestätigt. Es gab zwei Explosionen. Welche als erstes geschah, wissen wir nicht mit Sicherheit." Nach all den Jahren seien noch immer nicht alle technischen Einzelheiten der Katastrophe von Tschernobyl bekannt. Angesichts dessen hat Plokhy auch Zweifel, was die Sicherheit heutiger Kernreaktoren betrifft. "Wir spielen immer noch Russisch Roulette", meint er.
Die Menschen, die damals die Konsequenzen zu tragen hatten, waren ahnungslos.", sagt Plokhy. "Heute wissen wir, dass nichts was sie damals getan haben, die Ausbreitung der radioaktiven Strahlung verhinderte." Angesichts der Maßnahmen, die sie ergriffen hatten, um das Feuer zu löschen, ist das eine außergewöhnliche Aussage. Es stellte sich heraus, dass die auf den Reaktor geschütteten 5.000 Tonnen Sand und die anderen Substanzen nur die Wahrscheinlichkeit seines Zusammenbruchs erhöhte.
Große Unbekannte Kernenergie
Für Plokhy ist die "große Unbekannte" der Kernenergie zu gefährlich, um Teil der Zukunft zu sein. Trotzdem stellt er in seinem Buch keine Forderungen auf, wie etwa die Abschaltung aller Reaktoren. Dafür wurde er auch kritisiert. Er würde Tschernobyl als eine rein sowjetische Geschichte darstellen und die restliche Atomindustrie aussparen, so der Vorwurf. "Das ist nicht das, was ich versuche zu sagen", seufzt er.
Tschernobyl war ein Produkt der Sowjetunion, aber es hatte viel gemeinsam mit der Entwicklung der Kernenergie im Allgemeinen.
Risiken der Kernenergie oder Verschmutzung durch Kohle
"Mein wirkliches Anliegen ist es, die Leute zum Nachdenken anzuregen und sich selbst eine Meinung zu bilden. Denn das ist nicht so einfach. Man muss eine Wahl treffen. Entweder man nimmt die Risiken der Kernenergie in Kauf, oder verschmutzt die Atmosphäre mit Kohle."
Erneuerbare Energien sind die Antwort, sagt er. "Aber es ist klar, dass wir nicht über Nacht dahin kommen." Als Deutschland 2011 nach der Katastrophe von Fukushima entschied, die Kernkraft abzuschaffen, sei er zunächst skeptisch gewesen, sagt Plokhy. "Wie viel sicherer wird Deutschland wirklich sein, mit den ganzen Reaktoren in Frankreich nebenan? Aber dann dachte ich, gut, Deutschland kann mit gutem Beispiel vorangehen. Die Welt braucht Gesellschaften, die sich mit dem Problem auseinandersetzen und den Weg vorgeben. Das ist es, was Deutschland macht."
Globale statt nationale Lösungen
Die gegenwärtigen Versuche, in Deutschland und Westeuropa ein massives und verlässliches Stromnetz für erneuerbare Energien aufzubauen, seien ein positiver Schritt. "Aber letzten Endes hängt alles von globalen Lösungen ab, und nicht von nationalen." Doch der Ausbau der Erneuerbaren Energien muss auch mit Hindernissen kämpfen, wie dem Ärger über neue Strommasten und der Schließung von Kohlekraftwerken. Manche Klimaaktivisten wollen sogar die Kernenergie wiederherstellen, weil keine Zeit sei für eine lange Energiewende von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien.
Ihnen würde ich sagen: Schaut nach Tschernobyl, schaut nach Fukushima! Schaut nach Japan, mit Schadensforderungen in Milliardenhöhe. Das kann ein Rechts- und Finanzsystem wirklich ruinieren. Der Preis, der für durch Kernenergie erzeugten Strom gezahlt wird, ist nicht der wahre Preis. Auch unter den besten Umständen ohne Unfälle gibt es enorme Kosten beim Rückbau von Anlagen und der Endlagerung der Brennstäbe.
Erneuerbare Energien sind die Zukunft
Die Frage, wie radioaktiver Abfall 100.000 Jahre sicher gelagert werden kann, ist wahrscheinlich unmöglich zu beantworten. Wissenschaftler versuchen bereits Warnschilder für künftige Zivilisationen, die eine andere Sprache sprechen, zu entwerfen, damit sie sie verstehen. Plokhy schüttelt seinen Kopf. "Ihnen unseren atomaren Müll zu hinterlassen, das geht einfach nicht."
Trotzdem kann die Energiewende nicht über Nacht passieren, meint er. "Wir müssen realistisch bleiben. Aber Kernenergie ist nicht die Zukunft, es sind die Erneuerbaren. Das wird große Anstrengungen erfordern. Aber wir haben das schon einmal geschafft", betont er. "Ich würde diese Aktivisten oder ihre Regierungen dazu auffordern, genau so viele Gedanken und Ressourcen in den Ausbau der erneuerbaren Energien zu stecken, wie es in der Zeit der Atomindustrie in den 1940er und 1950er Jahren der Fall war. Dann wird alles gut sein."
Nuklearer Nationalismus
Im Buch schreibt Plokhy auch von neuen Reaktoren in Ländern mit instabilen politischen Systemen, wie etwa im Nahen Osten. Gibt es dort die Sicherheitskultur, das Training, um einen GAU zu vermeiden? Nuklearen Nationalismus nennt er die Vorstellung, dass Staaten Kernenergie einsetzen, um durchzusetzen, was sie wollen: Atomare Anlagen bauen, um ihren Energiebedarf zu decken und dadurch für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu sorgen. Nur wenn etwas schief geht, müssen die internationalen Agenturen eingreifen - wie bei Tschernobyl, wo der neue Sarkophag in Höhe von 2,15 Milliarden Euro von der EU und den G8-Ländern bezahlt wird.
"Bei atomarer Macht geht es nicht nur darum, Elektrizität zu produzieren – es hat einen Prestigefaktor", sagt Plokhy. "Ein Land, das Mitglied des 'Atomaren Klubs' ist, zeigt, dass es über die erforderlichen Fachkenntnisse und Fähigkeiten verfügt." Aber es steht auch für eine Bedrohung, die Kosten eines Super-GAUs. Und das ist teuer, wie Tschernobyl deutlich gezeigt hat. Wolken, die die Strahlung über dem dicht besiedelten Europa verteilen, sind nicht in nationalen Grenzen zu halten.
Neue Expansion der Kernkraft?
"Die Atomindustrie zeigt uns, welches Dilemma wir mit Treibhausgasen haben. Wenn du Kohle in Deutschland verbrennst, hat das auch Auswirkungen auf Frankreich. Es betrifft die ganze Welt. Genauso ist das auch mit der Kernkraft, es macht die Welt global. Egal, ob man Globalisierung mag oder nicht."
"Der nächste große Meilenstein der Kernkraft wird in Afrika sein", bemerkt Serhii Plokhy. Ein wachsendes Verlangen nach Energie, eine wachsende Weltbevölkerung, die Elektrifizierung von Transport und Industrie, während die Welt versucht, den CO2-Ausstoß pünktlich zu verringern, um einen katastrophalen Klimawandel zu vermeiden - all das schreie nach einer Expansion von Kernkraft. Und damit wachse auch die Gefahr neuer Katastrophen.
"Keine einfachen Antworten"
Auch wenn Plokhy davor warnt, neue Reaktoren zu bauen, will er Länder wie Ägypten nicht für neue Kernkraftwerke verurteilen. "Wäre das nicht eine Art von Orientalismus, von Kolonialismus? Die Großen haben es als erstes getan und die die Atmosphäre verschmutzt und jetzt lehnen sie die Energiequelle ab, die sie zu Hause noch immer benutzen"? Es ist eine Art Heuchelei, die der Situation nicht hilft, findet er.
Wieder sagt er, dass es "keine einfachen Antworten" gibt. Für Plokhy lautet die wichtigste Frage: "Wer fällt diese Entscheidung?" Es sollte starke internationale Akteure geben, wenn Kernkraft reguliert werden soll, glaubt er. Auf Tschernobyl folgten internationale Verträge über Informationspolitik, denn weltweit war man entsetzt, wie langsam die Katastrophe vollständig aufgedeckt wurde.
Leisere Reaktionen nach Fukushima
Aber keinerlei solcher Verträge gab es nach Fukushima. Wahrscheinlich, weil die Strahlung vor allem das Meer kontaminierte statt bevölkertes Land, denkt Plokhy. "Irgendwie glauben wir, dass Strahlung im Ozean kein Problem ist", scherzt er während einer Veranstaltung im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Natürlich hätte Fukushima furchtbare Auswirkungen gehabt, aber die weltweiten Reaktionen fielen leiser aus.
Mit seiner Fülle an Nachforschungen und persönlichen Erfahrungen rund um die Katastrophe von 1986 ist Plokhy nicht nur ein Experte für die Ereignisse in Tschernobyl, sondern auch für Fragen, die sich aus dem Nutzen der Kernkraft für den Menschen ergeben. Wer ist zuständig? Wer schafft den Müll weg? Wie wollen wir in Zukunft leben?
"Es gibt souveräne Staaten und es gibt internationale Menschenrechte und internationales Strafrecht", sagt er. "Wie schafft man es, dass beides gleichzeitig funktioniert? Das ist eine Frage, die wir beantworten müssen!"
Über die Autorin Die 31-jährige Journalistin Jen Stout stammt ursprünglich von den Shetland Inseln. Sie arbeitet für die BBC Schottland in Glasgow. Im Rahmen eines internationalen Journalistenaustausches hat sie auch beim MDR in Leipzig gearbeitet. Seit jungen Jahren interessiert sie sich für Osteuropa. Sie spricht Russisch und hat vor, Ukrainisch zu lernen. Den ukrainisch amerikanischen Historiker Serhii Plokhy traf sie im Dezember 2019 im Rahmen einer Veranstaltung in Wien, im Institut für die Wissenschaften vom Menschen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 26. April 2019 | 19:30 Uhr