Verfassungsänderung Russland: Simulierte Politik
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21. Januar 2020, 08:17 Uhr
Wenn ein Präsident Verfassungsänderungen ankündigt und kurz darauf seine Regierung zurücktritt, zeugt das im europäischen Politikverständnis von dramatischen Veränderungen im Staat. In Russland dagegen ist man wenig überrascht und spricht von der logischen Fortsetzung einer Politik, die Putins Macht und Russlands Sonderstellung innerhalb der Staatengemeinschaft zementieren soll.
Als Wladimir Putin am Mittwoch vergangener Woche bei seiner Rede vor der Föderalen Versammlung von umfangreichen Verfassungsänderungen sprach, schien das große politische Veränderungen in Russland anzukündigen. Doch die Mehrheit der russischen Beobachter hat dabei wenig Überraschendes oder grundlegend Neues vernommen. Auch für den russischen Zeithistoriker Alexei Gusev war klar, dass Putin auf die eine oder andere Weise seine Macht dauerhaft zementieren würde und nicht vorhabe, sich davon zu distanzieren. "Etwas grundlegend Neues haben wir bei seiner Rede nicht gehört. Denn es geht im Grunde um kosmetische Veränderungen im Rahmen des bestehenden politischen Systems, die jedoch nicht die Gesamtausrichtung der Politik betreffen. Auch das Wesen dieses politischen Systems bleibt unangetastet: Eine Machtstruktur, die auf eine Person zugeschnitten ist", führt Gusev im Gespräch mit dem MDR aus. Der deutsche Politologe und Osteuropaexperte Dr. Manfred Sapper sieht das ähnlich. Er sagte dem MDR: "Was wir gesehen haben, ist der Versuch eines sehr ausbalancierten Machtgefüges, die Macht vermeintlich zu übertragen, um sie gleichzeitig in den Händen von Putin zu belassen. Das ist simulierte Politik."
Russland auf dem Weg zur neuen Verfassung?
Am stärksten werden in Russland aktuell die angekündigten Verfassungsreformen diskutiert. Gusev hat in Putins Rede mehr als zehn avisierte Änderungen des grundlegenden Gesetzes ausgemacht, so viele wie nie zuvor seit Inkrafttreten der aktuellen Verfassung 1993. Eine der wichtigsten Änderungen betrifft dabei die Hoheit des internationalen über das nationale, russische Recht. Diese soll nach Putins Willen abgeschafft werden. Dabei ist sie im ersten Teil der russischen Verfassung verankert, der nicht einfach per Gesetz sondern nur durch eine verfassungsgebende Versammlung verändert werden kann, die dann gleich eine neue Verfassung ausarbeiten müsste. "Wieso hat der Präsident das nicht erwähnt? Er sprach davon, dass diese Änderungen mit Hilfe von Gesetzen gemacht werden könnten, aber das stimmt nicht. Deswegen ist anzunehmen, dass hier eine neue Verfassung vorbereitet wird."
Andere Experten gehen in ihrer Einschätzung noch weiter. So spricht die Verfassungsrechtlerin und Professorin der juristischen Fakultät der Highest School of Economics in Moskau Elena Lukjanowa im Zusammenhang mit einer möglichen Veränderung des ersten Teils der Verfassung von einem Verfassungsumsturz und von einem Angriff auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staates. Das sieht auch Osteuropaexperte Dr. Manfred Sapper so: " Verfassungsänderungen sind nur in der Hinsicht zu erwarten, dass sie die demokratische, die rechtsstaatliche Qualität, die diese Verfassung von 1993 zweifellos hat, überwinden werden", sagte er dem MDR.
Pluralismus in Gefahr
Noch sind die Mechanismen der Überarbeitung der bestehende Verfassung beziehungsweise der Annahme einer neuen nicht ganz klar. Zwar hat Putin eine öffentliche Diskussion darüber angekündigt und bereits kurz nach seiner Rede eine entsprechende Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, doch deren Zusammensetzung wirft nur noch weitere Fragen auf. Neben Juristen und Politologen gehören ihr auch Kosakenführer und Donbasskämpfer wie Sachar Prilepin an. Der Schriftsteller und Dramaturg vertritt ultranationalistische Ansichten, verehrt Stalin und brüstete sich bei einem Interview im Sommer 2019 damit, dass er bei Kampfhandlungen im ukrainischen Donbass zusammen mit seiner Einheit für den Tod vieler Menschen verantwortlich sei.
Oder der Senator der oberen Parlamentskammer Andrei Klischas, Autor des Gesetzes über die ausländischen Agenten sowie die Juristin Talija Chabriewa, die in der Vergangenheit bereits dafür eintrat, im ersten Teil der Verfassung eine einheitliche Staatsideologie zu verankern. "Somit könnte der ideologische Pluralismus in Russland abgeschafft werden. Auch das ist möglich", resümiert Gusev.
Der zivilisatorische Sonderweg
Der Historiker ist überzeugt, sollten die angekündigten Veränderungen im vollen Umfang umgesetzt werden, würde dies eine weitere Bewegung in Richtung eines politischen Systems bedeuten, das in wesentlichen Teilen autoritär ist und auf der zentralisierten Kontrolle des Kreml über die politischen Parteien und die Regionen des Landes sowie auf internationalem Isolationismus basiert. "Es ist bemerkenswert, dass in der Konzeption der russischen Außenpolitik die Rede von eigenen zivilisatorischen Vorstellungen von Rechten und Freiheiten des Menschen ist. Wir bauen also unser ureigenes politisches System auf. Darin werden solche Begriffe wie Demokratie auf unsere Weise interpretiert, ohne internationale Standards wie etwa die Europäische Konvention der Menschenrechte zu berücksichtigen."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 15. Januar 2020 | 19:30 Uhr