Führungswechsel Folgt auf Stoltenberg eine Nato-Generalsekretärin aus Osteuropa?
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19. November 2022, 20:16 Uhr
Die Nato-Mitgliedsstaaten suchen einen Nachfolger von Jens Stoltenberg, dessen Amtszeit als Generalsekretär im kommenden September endet. Wird ein Kandidat aus Osteuropa das Rennen machen? Unlängst berichtete die "New York Times", dass die estnische Regierungschefin Kallas oder die slowakische Präsidentin Caputova im Gespräch seien. Ein Kandidat aus Osteuropa wäre ein Novum, eine Frau als Nato-Chefin erst recht.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wollte in diesem Jahr in die norwegische Finanzbranche wechseln, doch dann flogen russische Bomben auf ukrainische Städte. In der seit Jahrzehnten schwersten Sicherheitskrise in Europa verlängerten die Nato-Mitglieder den Vertrag des Norwegers kurzerhand um ein Jahr.
Seit acht Jahren ist Stoltenberg im Amt. Der 63-Jährige ist damit bestens vertraut mit den Arbeitsabläufen in der Nato-Zentrale. Er ist im Brüsseler Hauptquartier der Chef von gut 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und er ist, wie Politikkreise seine Funktion beschreiben, "mehr Sekretär als General". Keiner, der kommandieren kann, das Machtwort spricht oder womöglich selbst die Entscheidung trifft. Vielmehr muss ein Generalsekretär zwischen den Interessen der 30 Nato-Mitgliedsstaaten, die unterschiedlicher nicht sein können, den Konsens ausloten, da sie ihre Entscheidungen immer nur einstimmig treffen können – auch die, wer ihr neuer Chef oder ihre neue Chefin ab kommenden September wird.
Gesucht wird ein "politisches Schwergewicht"
Ein Auswahlverfahren mit formalisierten Regeln gibt es für den Posten des Nato-Generalsekretärs nicht. Von Vorteil findet das Politikwissenschaftler Matthias Dembinski von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung: "Diese Flexibilität erhöht die Handlungsfreiheit der 30 Staats- und Regierungschefs, die sich schlussendlich auf eine Person einigen müssen".
Fest steht lediglich, dass die USA als größter Beitragszahler den militärischen Oberbefehlshaber stellen, der Nato-Generalsekretär kommt dagegen aus Europa. Gesucht wird " ein politisches Schwergewicht, das Standing in Europa aber auch einen guten Draht nach Washington hat und mit jedem amerikanischen Präsidenten zusammenarbeiten könnte", meint der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Stoltenberg hat sich sein Standig auf beiden Seiten des Atlantiks hart erarbeitet. Zu seinem größten Verdienst zählt, dass er das Militärbündnis trotz seiner Fliehkräfte zusammenhält: Er schaffte es, den vom einstigen US-Präsidenten Donald Trump entzündeten Streit über die Verteidigungsausgaben nicht eskalieren zu lassen, er ertrug stoisch, dass der französische Präsident Emmanuel Macron die Nato 2019 als "hirntod" bezeichnete. Spätestens seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine sind die Austrittdrohungen und Selbstzweifel im Bündnis verstummt.
Krieg rückt Osteuropa in den Fokus
Wäre es in der aktuellen Bedrohungslage nicht der richtige Zeitpunkt, erstmals einen Nato-Generalsekretär aus Osteuropa zu ernennen? Die russische Aggression hat schließlich die Aufmerksamkeit in der Nato stark auf Osteuropa gelenkt, Soldaten und Militärgerät wurden in Windeseile aufgestockt, Polen und Rumänien gehören an der Ostflanke inzwischen zu den militärischen Schwergewichten im Bündnis. Der rumänische Politikwissenschaftler Armand Gosu würde jedenfalls einen osteuropäischen Nato-Chef begrüßen. "Es wäre eine Anerkennung für Osteuropa, das es seine Transformation in solch sensiblen Bereichen wie Sicherheit und Verteidigung gemeistert hat", meint Gosu. Auch glaubt er, dass ein Nato-Chef aus Osteuropa die Mentalität der Moskauer Eliten besser verstehen und durchschauen würde "und damit Fehler vermeidet, die westliche Würdenträger im Umgang mit Moskau und Kremlchef Putin gemacht haben."
Slowakische Präsidentin auf informeller Shortlist?
Ein Stoltenberg-Nachfolger aus Osteuropa? Noch steht niemand fest, noch ist alles Gerede. Und dennoch hat "New York Times“ bereits ganz konkrete Vorstellungen. Zu Monatsbeginn berichtete die US-Zeitung, dass die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová auf einer Shortlist stünde. Die 49-jährige Juristin hatte 2019 überraschend die Präsidentschaftswahl gewonnen, sie gilt vielen in ihrem Land als moralischer Kompass, als Kämpferin gegen Korruption und gegen mafiotische Politstrukturen.
Den Angriff auf die Ukraine hat die slowakische Staatschefin deutlich verurteilt, wenngleich ihre Landsleute diese Meinung nicht einhellig teilen. In jüngsten Umfragen macht ein Drittel der Slowaken nicht Russland für die Eskalation des Ukraine-Krieges verantwortlich, sondern sieht die Schuld bei den USA und der Nato. Doch unabhängig von der Beliebtheit des Militärbündnisses im eigenen Land, wäre Čaputová überhaupt interessiert, ihr Präsidentenamt in Bratislava mit dem Nato-Posten in Brüssel zu tauschen? Eine MDR-Anfrage dazu lässt sie unbeantwortet, ihr Pressebüro reagiert weder schriftlich noch auf Anrufe.
Nato-Chef wird symbolisch für künftige Ausrichtung stehen
Fest steht, ein Kandidat oder eine Kandidatin aus Osteuropa wird auch die westliche Länder für sich begeistern müssen, um auf die nötige Einstimmigkeit für die Entscheidung zu kommen. "Osteuropa wäre in der Tat mal dran", meint Politikwissenschaftler Johannis Varwick auf MDR-Anfrage, "allerdings gibt es eine Reihe von Staaten wie Frankreich, Spanien oder Portugal, die das als zu eindeutige Fokussierung auf Osteuropa sehen, auch wenn es dort starke Frauen gibt, die den Job gut machen würden“.
Doch was steht für das Bündnis im den kommenden Jahren an? Auf vier Jahre erstreckt sich die Amtszeit für den Nato-Spitzenposten, kann aber jeweils verlängert werden. Wird für nächsten Jahre ein "Kriegsgeneralsekretär" gesucht? Einer, der Kremlchef Wladimir Putin klare Kante zeigt? Oder einer, der den Kalten Krieg 2.0 besser nicht noch heißer werden lässt? Fragen, die sich die Nato-Mitglieder bei ihrer Entscheidung um den Posten stellen werden, glaubt Politikwissenschaftler Matthias Dembinski: "Ein osteuropäischer Kandidat würde die Nato auf ein einziges zentrales Thema festlegen: auf die kollektive Verteidigung und die Abschreckung eines aggressiven Russlands". Die Nachfolgerfrage werde damit auch über die künftige Ausrichtung der Nato entscheiden, sagt Dembiniski. Was ist die künftige Kernaufgabe der Nato? Die Fixierung auf die militärische Bedrohung durch Russland? Oder sollte das Militärbündnis sich breiter aufstellen, auf das zunehmend machtbewusste China reagieren, auf hybride Kriegsführung, Cyberangriffe, auf Anschläge auf kritische Infrastrukturen und auf den Klimawandel?
Kallas - treue Verbündete der Ukraine
Und wie realistisch ist, dass sich die Mitgliedsländer auf eine Frau an der Spitze einigen könnten? Als potenzielle Kandidatin wird beispielsweise auch die estnische Regierungschefin Kaja Kallas gehandelt. Im März sagte Kallas dem "Tagesspiegel" über Kremlchef Putin: "Ein Diktator versteht nur Stärke". Das 1,3 Millionen Einwohner zählende Estland gilt als treuer Verbündeter der Ukraine, noch vor Kriegsausbruch entschied sich die Regierung für Waffenlieferungen an Kiew. Auch fordert die 45-jährige Regierungschefin einen harten Kurs gegen Putin. Die Medien bezeichnen sie gern als "Frau, die Putin die Stirn bietet", als "Eiserne Lady des Baltikums". Ob sie sich den Job als Nato-Generalsekretärin vorstellen könne? Kallas Sprecherin ruft auf die schriftliche Anfrage zurück: Solange es keine offizielle Entscheidung gebe, wolle sich die Regierungschefin nicht äußern. Sollte eines Tages offiziell etwas dran sei, werde sie gern ein Interview geben.
Kanadische Kandidatin mit ukrainischen Wurzeln
13 Nato-Generalsekretäre gab es bislang in der Geschichte des Bündnisses, alle waren Männer, alle kamen aus den westlichen Nato-Mitgliedsstaaten. Kanada konnte - wie Osteuropa - bislang keinen Kandidaten stellen. Auch dort gibt es Begehrlichkeiten: Ex-Außenministerin und die jetzige Finanzministerin Chrystia Freeland wird in den Medien als mögliche Kandidatin für den Nato-Posten gehandelt. Die 54-Jährige wäre zumindest von der Herkunft her eine gute Kombination aus Ost und West. Ihre Großeltern stammen aus der Ukraine, in den 1990er-Jahren arbeitete Freeland als Journalistin erst in der Ukraine, dann in Russland, 2013 wechselte sie in die Politik.
Eine Frau an der Spitze der Nato, so glaubt der Bukarester Politikexperte Armand Gosu, "wäre eine schallende Ohrfeige für Putin". Wird womöglich eine der genannten Politikerinnen - Čaputová, Kallas oder Freeland - das Rennen machen? Noch haben die Mitgliedsstaaten mehrere Monate Zeit, sich auf eine Generalsekretärin oder Generalsekretär bei informellen Treffen zu einigen. "Schon jetzt sind unter den genannten Kandidatinnen und Kandidaten geeignete Leute“, sagt Politikwissenschaftler Dembinski: "Die Nato wird angesichts der Fülle die Qual der Wahl haben".
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 30. September 2022 | 21:00 Uhr