Ukraine-Krieg Suwałki-Lücke: Europas gefährlichster Ort?
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10. September 2022, 05:57 Uhr
Rund 65 km breit ist die sogenannte Suwałki-Lücke. Für die baltischen Staaten bildet sie die einzige Landverbindung zum übrigen NATO-Gebiet – und gilt als eine Schwachstelle für das westliche Verteidigungsbündnis. Im Kriegsfall könnte Russland die Suwalki-Lücke angreifen, um einen Korridor zwischen seiner hochgerüsteten Exklave Kaliningrad und dem verbündeten Belarus herzustellen. Wie leben die Menschen am "gefährlichsten Ort der Welt", wie es das Magazin "Politico" bezeichnete?
In dem Nest an der Hauptstraße des kleinen Örtchens Krosna machen sich die Störche für ihren Abflug in den Süden bereit, ein Mähdrescher fährt vorbei, und an der Haltestelle wartet Irena auf ihren Bus in die nächstgrößere Stadt Alytus, wo sie wohnt. Die Rentnerin erzählt, dass ihre Eltern auf dem Friedhof hier in Krosna, im litauisch-polnischen Grenzgebiet, begraben liegen. Der Ort liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus. "Wir leben schon in einer gewissen Spannung hier und sind besorgt über all diese Dinge, die in der Ukraine passieren", sagt sie noch, bevor sie in den Bus einsteigt.
Leben in der Suwałki-Lücke: gemächlich
Ein paar hundert Meter weiter steht Nijole in ihrem Verkaufswagen und bietet alle möglichen Sorten geräucherten Fisch an. "Ich bin eigentlich nicht politisch interessiert", sagt sie. Aber mit dem Krieg in der Ukraine hätten sich die Dinge verändert. "Alles wird teurer: das Essen, der Strom. Und gleichzeitig kaufen die Menschen weniger ein. Ich selbst verkaufe nur ein Drittel dessen, was wir vor dem Krieg verkauft haben."
Das litauisch-polnische Grenzgebiet zählt zwar zu den strukturschwachen Regionen beider Länder und ist auf beiden Seiten der Grenze dünn besiedelt, sorgt seit einiger Zeit allerdings für Schlagzeilen. Nicht damit, was hier passiert, sondern damit, was hier theoretisch passieren könnte. Suwałki-Lücke nennt sich die schmale Landzunge, die die beiden NATO-Staaten Litauen und Polen verbindet – flankiert von russischem und belarussischem Territorium. 65 km Luftlinie trennt die russische Exklave in Kaliningrad von Moskaus Partner Belarus. Es ist ein Flaschenhals, der das Baltikum mit dem restlichen Teil der NATO verbindet – und laut US-Magazin "Politico" ist es derzeit der "gefährlichste Ort der Welt".
"Ich würde es so nicht bezeichnen, es gibt viel gefährlichere Orte auf der Welt", sagt Vaidotas Urbelis, verteidigungspolitischer Direktor im Litauischen Verteidigungsministerium. Er kann sich ein Lachen nicht verkneifen und betont, man müsse auf die gesamte Region und NATO-Ostflanke schauen und nicht nur auf einen kleinen Abschnitt. "Klar, es ist ein wichtiger Abschnitt und wir müssen auch schauen, wie wir es im Konfliktfall verteidigen." Es sei aber nur einer von vielen Orten, dessen Verteidigungsfähigkeit verstärkt werden müsse. "Die NATO-Verteidigungsstrategie muss alle Regionen einbeziehen. Vom Süden mit der Türkei bis in den Norden mit Norwegen. Die Suwałki-Lücke ist da Teil des großen Puzzles."
Litauen zeigt Kante gegen Russland
Litauen selbst sieht sich als Puzzleteil im Konflikt Russlands nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die NATO. Ein kleines Puzzleteil, aber durchaus mit Störpotential. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine brachten litauische Bürger schnell die nötigen Spenden zusammen, um eine Militärdrohne für die Ukraine zu kaufen, der Botschafter Russlands wurde zur persona non grata in Vilnius erklärt und bei Sanktionsforderungen und -umsetzungen ist das baltische Land an vorderster Front dabei. So sehr, dass Mitte Juni sogar Warentransporte per Schiene aus Russland nach Kaliningrad unterbunden wurden. Denn auch sanktionierte Produkte seien darunter gewesen, argumentierte Vilnius.
Der Konflikt drohte zu eskalieren, als Moskau ankündigte, mit "harten Maßnahmen" zu reagieren. Die EU-Kommission erstellte daraufhin neue Richtlinien für den Warentransit nach Kaliningrad, so dass Moskau nun auch auf der Sanktionsliste stehende zivile Güter wieder per Bahn durch Litauen transportieren darf. Im litauisch-polnischen Grenzgebiet, der sogenannten Suwałki-Lücke, ist von jenen Konflikten auf Staatsebene kaum etwas zu spüren.
Lazdijai ist mit rund 25.000 Einwohnern die größte städtische Siedlung auf litauischer Seite. Auf dem kleinen Marktplatz vor dem Rathaus und der Stadtbibliothek packt Irena gerade ihre Waren zusammen und berichtet, dass sie heute mehr abgesetzt hat als an anderen Tagen. Seit 2004 stellt sie Kleidung und Textilien aus Leinen her, einem in Litauen beliebten Naturstoff, und verkauft diese auf Wochenmärkten. Ob sie Angst vor einem russischen Angriff auf die Suwałki-Lücke hat? "Wir leben zwar an einem Ort, an dem viel passieren kann", sagt sie. "Aber Angst habe ich deswegen nicht."
Wird Russland die Suwałki-Lücke angreifen?
In der Stadtbibliothek sortiert Tadas gerade Kinderbücher ein. Manchmal höre man Helikopter über seinem Dorf, sagt der 36-Jährige. Aber das sei die Präsenz der NATO, und daher habe er keine Angst vor Russland. Obwohl er schon seine Zweifel habe, ob die NATO-Verbündeten im Kriegsfall tatsächlich auf der Seite Litauens stehen würden. Aber: "Ich denke, die Russen könnten uns derzeit ohnehin nicht angreifen, weil sie alle wichtigen Truppen in der Ukraine haben", sagt Tadas. "Der Krieg dort ist für sie erstmal genug."
Eine Einschätzung, die Vaidas Saldžiūnas, Journalist mit Spezialisierung auf Verteidigung und Militär bei Litauens größtem Internetportal Delfi, auch teilt. Die öffentliche Wahrnehmung möge sein, dass sich die Sicherheitslage im Baltikum verschlechtert habe, sagt der Militärexperte. "Aber die direkte Bedrohung für Litauen ist kleiner geworden", sagt Saldžiūnas. Denn die meisten in der direkten Nähe zu Litauen stationierten russischen Truppen aus Kaliningrad werden in der Ukraine eingesetzt. Dennoch: "Es ist einerseits zwar sicherer geworden. Aber neben einem Nachbarn wie Russland zu leben, ist alles andere als sicher." Daher dränge Litauens Politik auf die Verstärkung der NATO-Truppenverbände im eigenen Land wie an der gesamten Ostflanke. Auch die Erhöhung des eigenen Wehretats von derzeit zwei auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2030 werde in Vilnius diskutiert.
Eine Diskussion, die die Menschen im Suwałki-Korridor nicht erreicht. Das Leben geht hier – trotz der Nähe zu Russland und Belarus – normal weiter. Bibliothekar Tadas macht das an einer kleinen Anekdote deutlich. Sein Bruder habe nach dem russischen Angriff auf die Ukraine aus Panik Essen gebunkert – "nach einer Woche packte er alles aus und aß es auf."