Kommentar Serbien: Gefangen in der Vergangenheit
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16. November 2021, 18:42 Uhr
In der Belgrader Innenstadt prangt seit Monaten ein großes Wandbild des wegen Kriegsverbrechen verurteilten bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić. Nichts geschah. Bis Aktivisten das Bild überstreichen wollten. Danach verwandelte sich das Pflaster in der Njegoševa Straße 38 in ein Schlachtfeld – ein Symbol der nicht aufgearbeiteten serbischen Geschichte, schreibt unser Ostblogger Andrej Ivanji in einer persönlichen Betrachtung.
Ich sitze in der Eisdiele "Crna ovca" (Schwarzes Schaf) in der Njegoševa Straße im Zentrum Belgrads. Die Straße ist bekannt für teure Immobilien, Cafés und Weinstuben für zahlungskräftigere Kunden. Auch das Eis im "Schwarzen Schaf" ist doppelt so teuer wie in einer normalen Eisdiele. Allerdings erreicht es einen Grad an Köstlichkeit, der Trost bietet in der trostlosen serbischen Welt.
Njegoševa hat große Anziehungskraft für neureiche Nichtbelgrader. Es ist zu einer Prestige-Sache geworden, hier eine Wohnung zu besitzen. Es ist eines der Belgrader Pflaster, von dem aus betrachtet die allgemeine serbische soziale Misere so weit entfernt scheint, wie das Leid der Menschen in Flüchtlingscamps in der Türkei. Es wäre irgendwie fehl am Platz, sich hier beim Wein, Bier, Cocktail oder Kaffee statt etwa über Zusatzscheinwerfer für eine Vespa, über die serbische Autokratie, gleichgeschaltete Medien oder den moralischen Ballast des jugoslawischen Bürgerkriegs aus den 1990er-Jahren im postjugoslawischen Raum zu unterhalten.
Zum Helden stilisierter Kriegsverbrecher
Und doch wurde gerade die Njegoševa Straße in den vergangenen Tagen zum Brennpunkt der nicht aufgearbeiteten Geschichte in Serbien. Schräg gegenüber des "Schwarzen Schafs", an der Wand des Hauses Nummer 38, gibt es ein großes Wandgemälde, auf dem der bosnisch-serbische General Ratko Mladić salutiert - den Passanten, dem serbischen Volk, dem orthodoxen Gott, wer immer sich angesprochen fühlt. Daneben der Schriftzug: General, deiner Mutter sei Dank. Zu erkennen ist auch das Wappen des FK Partizan Belgrad. Einige Teenager mit Kapuzen über den Köpfen schieben Wache vor dem Bild, das seit einigen Tagen bürgerliche Aktivisten im Visier haben. Ich fühle mich ein Viertel Jahrhundert in die Vergangenheit zurückversetzt, und muss feststellen, wie wenig wir aus dem Krieg gelernt haben.
Dieser Typ, der da im Zentrum Belgrads verherrlicht wird, hatte im Juli 1995 als Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Truppen in der Stadt Srebrenica den Befehl erteilt, über 8.000 gefangene muslimische Männer zu erschießen. Zuvor hatte er sich dabei filmen lassen, wie er muslimische Jungen den Kopf streichelt und ihren Müttern, Schwestern und Großmüttern zusichert, dass alles gut werde, dass niemand etwas zu befürchten habe. Mehr als 20 Jahre später verurteilte ihn das UN-Tribunal in Den Haag unter anderem deshalb wegen Völkermordes und Kriegsverbrechen zu lebenslänglicher Haft. Und nun prangt das Konterfei von Mladić als serbischer Held vor mir auf einer Hauswand. Da braucht man sehr viel Schokoladeneis, um sich zu trösten. Oder etwas Kräftigeres.
Das Bild bleibt monatelang unbemerkt
Das Wandgemälde existiert bereits seit Monaten. Tag für Tag, Nacht für Nacht gingen Menschen daran vorbei. Die große Mehrheit nahm es schlicht als Teil der neu-serbischen nationalen Folklore wahr. Die beruht zwar auf einer sehr schrägen Geschichtsdeutung, ist aber dennoch Teil des Alltags. Auch ich gehe oft an dieser Ecke vorbei, und muss zugeben, dass mir das Mladić-Bild nicht aufgefallen ist. Anscheinend hat sich auch meine Wahrnehmung an solche schrägen Anblicke gewöhnt.
Die Hausbewohner wandten sich vergebens an die Belgrader Polizei, deren Hauptquartier um die Ecke liegt. Nur vereinzelt gab es Stimmen, die sich darüber empörten, dass serbische Behörden diese Verherrlichung eines verurteilen Kriegsverbrechers dulden.
Ein Eierwurf lässt die Lage eskalieren
Es geschah nichts, bis einige Menschenrechtsaktivisten am 9. November, dem internationalen Tag gegen Faschismus und Antisemitismus, Proteste vor dem Mladić-Gemälde ankündigten. Die Polizei untersagte sie aus "Sicherheitsgründen". Trotzdem versammelten sich in der Negoševa Straße einige Aktivisten. Als eine ältere Dame das Wandgemälde mit Eiern bewarf, wurden sie und eine weitere Aktivistin sofort von Polizisten in Zivil abgeführt.
Binnen weniger Minuten riegelten Polizeikordons den Zugang zum Haus Nummer 38 ab. Grüppchen von Bürgern versammelten sich, um gegen die Verherrlichung eines Kriegsverbrechers zu protestierten, eine Gruppe von Rechtsradikalen kam, um das Bild ihres Generals zu verteidigen, man beschimpfte und bewarf sich mit dem, was man eben dabei hatte. Polizisten in voller Kampfausrüstung trennten die Gruppen: Zwei Extreme innerhalb einer polarisierten Gesellschaft. Die meisten Bürger aber schauten, wie immer, einfach nur zu.
Epilog
Die Polizei zog sich am nächsten Tag zurück. Ein Politiker schüttete einen Eimer mit Kalk über das Mladić-Bild. Darauf jubelten liberale Bürger, allerdings nur in den sozialen Medien. Anschließend kamen Rechtsradikale, machten das Wandgemälde sauber, skandierten "Serbischer Held" und kündigten an, zum Schutz des Wandgemäldes Wache zu schieben. Ich sehe sie vor mir: Jungs, die nicht einmal geboren waren, als ihr Held unbewaffnete Zivilisten erschießen ließ. Sie sind Opfer des Geschichtsrevisionismus, den gleichgeschaltete serbische Medien verbreiten. Auch im Bildungssystem werden sie über den Krieg und die Gräueltaten eines Ratko Mladić kaum aufgeklärt.
Ich denke an den alles bestimmenden serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vučić. Der wollte noch vor rund zehn Jahren, bevor er sich über Nacht in einen pro-westlichen Politiker verwandelte, einem Belgrader Boulevard den Namen "General Ratko Mladić" geben - zu Ehren seines ehemaligen Kampfgefährten im Krieg für Großserbien. Während sich Vučić nach außen als ein Mann der regionalen Versöhnung gibt, liebäugelt er mit der serbischen nationalistischen, rechts-radikalen Szene, in der er politisch groß geworden ist. Er weicht aus, wenn er nach seiner kriegshetzerischen Vergangenheit gefragt wird. Kein Wunder, dass diese Kinder vor mir nun vor dem aufgeputzten, salutierenden General "serbischer Held" singen. So gut kann Schokoladeneis gar nicht sein, dass einem das nicht bitter aufstößt.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 08. Juni 2021 | 17:45 Uhr