Urteil im Berufungsverfahren Mladić: Der "Schlächter von Bosnien" bleibt lebenslang hinter Gittern
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08. Juni 2021, 17:00 Uhr
Im Berufungsverfahren gegen den bosnisch-serbischen Ex-General Ratko Mladić haben die Richter das Urteil des UN-Tribunals von 2017 bestätigt. Der ehemalige Oberbefehlshaber der bosnischen Serben war damals wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstößen gegen die Gesetze oder die Gebräuche des Krieges zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden.
Das Urteil war seit August 2020 vom Internationalen Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe überprüft worden. Der heute 78-jährige Mladić wollte einen Freispruch erreichen.
Das Berufungsverfahren war mehrfach verschoben worden – unter anderem wegen der Corona-Pandemie. Die Verteidigung hatte mit Hinweis auf den schlechten Gesundheitszustands Mladićs versucht, den Termin erneut zu verschieben.
Völkermord in Srebrenica
Der zentrale Punkt der Anklage gegen Mladić beim Prozess 2017 war die systematische Hinrichtung von rund 8.000 muslimischen Männern und Jungen in der damals zur UN-Schutzzone erklärten Stadt Srebrenica im Juli 1995, die der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) 2007 als Völkermord einstufte.
Die serbischen Truppen, die die Massentötungen verübten, standen unter dem direkten Kommando von Mladić. Eine Filmaufzeichnung zeigt den bosnisch-serbischen General, wie er den muslimischen Gefangenen in Srebrenica beteuert, ihnen würde nichts geschehen und wie er Kindern über den Kopf streichelt. Mladić steigt in der Aufnahme von einem mit muslimischen Gefangenen besetzten Bus in den anderen, stellt sich vor und sagt, man würde sie nun in das von muslimischen Truppen kontrollierte Gebiet transportieren.
"Ich bin barmherzig zu euch", sagte der General, "diesmal schenke ich euch das Leben". Kurz danach wurden Männer, darunter auch Minderjährige, von Frauen, Kindern und Greisen getrennt, abgeführt und erschossen. Die Ermordungen fanden am 11. und 12. Juli 1995 statt, die Menschenjagd dauerten noch tagelang.
Das Versteckspiel
Kurz vor dem offiziellen Kriegsende in Bosnien erhob der Internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Anklage gegen Mladić. Obwohl nach der demokratischen Wende in Serbien im Jahr 2000 seine Auslieferung eine Bedingung für die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union war, konnte sich Mladić jahrelang verstecken.
Er wurde 2011 in einem Dorf in der nördlichen serbischen Provinz Vojvodina festgenommen. Es gilt als ausgeschlossen, dass sich der damals meistgesuchte Verbrecher der Welt ohne die Unterstützung serbischer Geheimdienste so lange hätte verstecken können. Auch der politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, versteckte sich jahrelang unter falscher Identität in Serbien. Er wurde wegen ähnlicher Verbrechen wie Mladić zu 40 Jahre Haft verurteilt.
Keine Aufarbeitung der Geschichte
Grundsätzlich hält man in Serbien das UNO-Tribunal nicht für eine Institution der Gerechtigkeit, sondern für eine politische Einrichtung, die gegen "die Serben" eingesetzt werde. Auch im Fall von Ratko Mladić zeigt sich bis heute, das ein Prozess der Vergangenheitsbewältigung, die Aufarbeitung der Geschichte in Serbien ausgeblieben ist. Ähnlich ist es auch in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo. Überall dort gelten die Helden des einen Volkes als Henker des anderen und umgekehrt.
So konnte es auch dazu kommen, dass der jetzige Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić, noch 2007 in Belgrad Plakate mit der Aufschrift "Boulevard Ratko Mladić" klebte. Als jahrelanges Mitglied der extrem-nationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS) sagte Vučić zur Aktion, die Mladić als serbischen Helden proklamierte: "Auf diese Weise zeigen wir, dass sie uns nicht einschüchtern können, dass Freiheit für Serbien das Wichtigste war und ist."
Wenige Jahre später vollzog Vučić eine ideologische Wende und verwandelte sich in einen Europäer, der Serbien in die EU führen möchte. Doch auch heute erkennt Serbien das Massaker in Srebrenica, trotz des Urteils des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, nicht als Völkermord an. Vučić und Co tun sich schwer mit den in den 1990er-Jahren begangenen serbischen Verbrechen, auch wegen ihrer eigenen Rolle im Jugoslawienkrieg.
Verbrecher wie Helden behandelt
Das Verhältnis Serbiens zu den im Namen des Serbentums begangenen Verbrechen ist problematisch. So sorgte der "Fall Lazarević" für Schlagzeilen in der Region, als bekannt wurde, dass der General in Ruhestand, Vladimir Lazarević, an der Militärakademie in Belgrad unterrichten sollte. Lazarević wurde 2009 vor dem UNO-Tribunal unter anderem wegen seiner Kommandoverantwortung für im Kosovo begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Nachdem er zwei Drittel der Strafe abgesessen hatte, wurde er freigelassen. Auf dem Flughafen in der südserbischen Stadt Niš hatten ihn 2015 einige Minister, der aktuelle Generalstabschef, ein Erzbischof und der Bürgermeister feierlich empfangen. Den Beschluss, dass der strafrechtlich verurteilte Kriegsverbrecher junge Soldaten unterrichten soll, begründete Verteidigungsminister Aleksandar Vulin so: "Das ist ein großer Durchbruch. Der Staat hatte bisher leichtfertig auf die kostbare Erfahrung seiner Kriegsgeneräle verzichtet, auf die kein Staat verzichten würde."
Der amerikanische Botschafter in Belgrad protestierte und erklärte, dass die USA ganz sicher keinen wegen Kriegsverbrechen verurteilten Offizier beauftragen werden, junge Soldaten auszubilden. Verteidigungsminister Vulin erklärte daraufhin, dass sich niemand mehr wegen der serbischen Generäle schämen würde. Denn die Armee, die sie befehligt hatten, hätte sich ihrer nie geschämt; ebenso wie das Volk, das sie verteidigt hätten.
Moralische Rehabilitierung
Die moralische Rehabilitierung von Lazarević ist kein Einzelfall. Der Oberst in Ruhestand, Veselin Šljivančanin, wurde beispielsweise in eine Wahlkampagne der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) von Aleksandar Vučić politisch eingespannt.
Als im Herbst 2017 eine Journalistin bei der Eröffnung einer Nudelfabrik Präsident Vučić fragte, was denn Šljivančanin dort zu suchen habe, meinte dieser erbost: "Šljivančanin ist ein freier Mann, der seine Strafe abgesessen hat. Was wollen Sie denn, ihn wieder verhaften oder umbringen?" Šljivančanin wurde wegen "Beihilfe zur Folterung" im Krieg in Kroatien zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Mit dem Urteilsspruch gegen Ratko Mladić im Jahr 2017 hatte der Internationale Strafgerichthof für das ehemalige Jugoslawien seine Arbeit praktisch beendet. Eine seiner Aufgaben hat er nicht erfüllt: Zur Versöhnung der Völker Jugoslawiens nach dem Krieg beizutragen. Eine Katharsis ist ausgeblieben.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell TV | 08. Juni 2021 | 17:45 Uhr