Kommentar Westbalkan: Serbien und die ewigen EU-Beitrittskandidaten
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06. Oktober 2021, 10:30 Uhr
Während 1991 Europa im Eiltempo zusammenwuchs, fiel Jugoslawien im Bürgerkrieg auseinander. Machtlos schaute die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft dem Gemetzel zu und stellte den Kriegsparteien eine europäische Perspektive in Aussicht, nur um sie an den Verhandlungstisch zu bringen. Seitdem hält Brüssel die Staaten des Westbalkan hin und verschiebt offizielle Verhandlungen immer wieder.
130.000 Tote, Millionen Vertriebene und Geflüchtete, Luftangriffen der Nato und neue Grenzen sind das Ergebnis der Kriege auf dem Westbalkan zwischen 1991 und 2001. 30 Jahre nach deren Beginn sind mit Slowenien und Kroatien zwei der sieben Jugoslawien-Folgestaaten tatsächlich Mitglieder der Europäischen Union. Serbien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Bosnien und Herzegowina hingegen warten dagegen immer noch an der Hintertür der EU.
Die vier ehemaligen Teilrepubliken und eine autonome Provinz Jugoslawiens stellen samt Albanien den sogenannten Westbalkan dar – Balkanländer, die keine Mitglieder der EU sind und die man seit über einem Jahrzehnt mit einer "EU-Perspektive" vertröstet.
Die "EU-Perspektive"
"EU-Perspektive" ist die Lieblingsphrase westlicher Politiker, wenn sie die Westbalkanstaaten besuchen. Doch die hört sich für die Menschen vor Ort nicht mehr aufmunternd, sondern mittlerweile nur noch zynisch an. Nicht nur, weil sich die Staaten des Westbalkans mittlerweile politisch und gesellschaftlich de facto immer mehr von der EU entfernen. Sondern auch, weil es in der mit den eigenen Problemen geforderten und erweiterungsmüden EU offensichtlich keinen echten Willen gibt, sich wirklich mit dem Westbalkan zu beschäftigen.
Die "EU-Perspektive" heißt für Serbien und die Länder der Region heute tatsächlich: Wir tun so, als ob wir der EU noch beitreten wollen - und ihr tut so, als ob ihr uns noch haben wollt.
Im Namen der Stabilität
Das zentrale Land des jugoslawischen Bürgerkriegs in den 1990er-Jahren war Serbien, das auch heute im Mittelpunkt der Ereignisse auf dem Westbalkan steht. Mit rund sieben Millionen Einwohnern ist es das größte Land der Region mit "EU-Perspektive", hat aber selbst problematische Beziehungen mit allen anderen Westbalkanstaaten.
Serbien ist entscheidend für die Stabilität der Region, und solange es eine halbwegs friedliche regionale Politik vertrat, drückte man in Brüssel gern auch beiden Augen hinsichtlich der fragwürdigen serbischen innenpolitischen Entwicklung zu.
Und diese Innenpolitik hat mit "EU-Perspektive" nur wenig zu tun. Im Parlament des EU-Beitrittskandidaten ist keine einzige Oppositionspartei mehr vertreten, weil ein Teil der Opposition die aus ihrer Perspektive undemokratischen Parlamentswahlen im Vorjahr boykottiert hat. Nun müssen Vertreter des Europaparlaments in einem Dialog zwischen der serbischen Regierung und Opposition über Bedingungen für faire Wahlen vermitteln.
Autokratie statt Demokratie
Serbien hat in der Zwischenzeit autokratische Züge entwickelt. Staatspräsident Aleksandar Vučić entscheidet quasi alleine über das Land und seine dominante Serbische Fortschrittspartei (SNS) mit rund 750.000 Mitgliedern, alsomehr als 10 Prozent der Bevölkerung, kontrolliert alle staatlichen Institutionen. Ebenso wie das Parlament sind auch Medien größtenteils gleichgeschaltet und werden für die Abrechnung mit Andersdenkenden und den Aufbau des Personenkults rund um Vučić missbraucht.
Obwohl Belgrad nach Außen beteuert, dass die Mitgliedschaft in der EU die "außenpolitische Priorität Serbiens" sei, überwiegt im Land eine antiwestliche Rhetorik. Betont wird im öffentlichen Diskurs die bedingungslose Freundschaft zu Russland und China, während die EU und der Westen andauernd irgendwelche Bedingungen stellen. Etwa, dass Serbien die Unabhängigkeit der ehemals serbischen Provinz Kosovo anerkennen müsse.
Vor diesem Hintergrund sackte die Unterstützung für eine EU-Mitgliedschaft in Meinungsumfragen in Serbien auf unter 40 Prozent ab. Hinzu kommen unzählige von unabhängigen Medien aufgedeckte, zum Teil dokumentierte Korruptionsaffären, die die serbische Staatsanwaltschaft einfach ignoriert.
So langsam wie die Türkei
Bereits seit der demokratischen Wende im Jahr 2000 strebt Serbien die Mitgliedschaft in der EU an. Die Beitrittsverhandlungen haben 2005 formal begonnen, 2012 erhielt Serbien den Kandidatenstatus.
Bisher wurden von den 35 Kapiteln der Beitrittsverhandlungen lediglich 18 eröffnet und nur zwei erfolgreich abgeschlossen. Im Vorjahr wurde kein einziges Kapitel mehr eröffnet. So langsam kam nicht einmal die Türkei voran, als noch von einer türkischen "EU-Perspektive" die Rede war.
Kritik aus Brüssel
In Brüssel scheint man allmählich auch offiziell an der serbischen "EU-Perspektive" zu zweifeln. In einem Ende Februar verfassten Bericht des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments wird "ernsthafte Besorgnis" wegen des mangelnden "Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Unabhängigkeit der Medien" geäußert. Man stellte in serbischen Medien unter anderem "beleidigende Sprache, Einschüchterung und selbst Hassreden" fest.
In dem Entwurf des Berichts wird von Serbien "nachdrücklich" gefordert, "überzeugende Ergebnisse zu liefern (...) in Problembereichen wie der Justiz, Meinungsfreiheit und Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität", sowie "ihren Schwerpunkt auf grundlegende Reformen zu legen und strukturelle Mängel in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte sowie Funktionieren der demokratischen Institutionen und der öffentlichen Verwaltung anzugehen".
Ebenso zeigte man sich im Bericht besorgt "über die zunehmende Abhängigkeit Serbiens von Verteidigungsgütern und -technologien aus der Volksrepublik China und über die unzureichende Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge im Sicherheitssektor" sowie der "engen politischen und militärischen Zusammenarbeit Serbiens mit Russland".
Trostlose Wirklichkeit
Auch andere EU-Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan plagen akute antidemokratische Symptome, die sich allmählich zu einer chronischen Krankheit entwickeln. Neben der allgegenwärtigen Korruption ringt jedes Land zusätzlich mit eigenen spezifischen Problemen.
Nordmazedonien ist beispielsweise vom jugoslawischen Krieg verschont worden und galt lange Zeit als der Musterschüler der EU. Dann aber kam es zur bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den slawischen Mazedoniern und Albanern und Griechenland blockierte wegen des Namenstreits alle Gespräche Brüssels mit Skopje.
Bosnien und Herzegowina wird in Brüssel offiziell als "potenzieller" Beitrittskandidaten behandelt. Dabei ist das Land, dessen Verfassung auf dem 1995 unterzeichneten Friedensabkommen von Dayton beruht, mit seinem nach Ethnien separierten politischen System praktisch unregierbar. Der Hohe Vertreter der EU in Bosnien hätte dazu formal immer noch das Recht, selbst demokratische Wahlen für nichtig zu erklären, wenn die EU es wollte.
Und der "potenzielle" Beitrittskandidat Kosovo wird nicht nur von Serbien nicht anerkannt. Auch die EU-Mitglieder Spanien, Griechenland, Zypern, Rumänien und Slowakei erkennen das Land nicht an. Von einer realen "EU-Perspektive" kann so keine Rede sein.
Das Märchen vom EU-Beitritt
Wenn man zu diesen strukturellen Problemen auch noch die schwach ausgeprägten mit EU-Standard nicht kompatiblen Wirtschafts- und Sozialsysteme hinzunimmt, erscheint die "EU-Perspektive" eher wie ein Märchen. Eines, das seit fast 20 Jahren aufrecht erhalten wird. Denn auf dem ersten Westbalkan-Gipfel im Jahr 2003 hieß es noch: "Die EU bekräftigt, dass sie die europäische Ausrichtung der westlichen Balkanstaaten vorbehaltlos unterstützt. Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union." Daran scheint sich heute aber kaum noch jemand zu erinnern, weder auf dem Westbalkan noch in der EU.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Radio | 04. März 2021 | 14:45 Uhr