75 Jahre KZ-Befreiung Selfie des Grauens? Auschwitz und der Umgang mit Social Media
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27. Januar 2020, 15:37 Uhr
Ein "lustiges" Selfie vor der Gaskammer oder ein "niedlicher" Schnappschuss vom Kind auf den Schienen in Auschwitz-Birkenau: Einige Gedenkstättenbesucher überschreiten moralische Grenzen. Doch eine moderne Erinnerungskultur 75 Jahre nach der Befreiung des größten Vernichtungslagers funktioniert nicht ohne Social Media, wie das Beispiel des Staatlichen Museums in Auschwitz-Birkenau zeigt.
Die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau besuchen täglich einige tausend Menschen aus der ganzen Welt. Für die meisten von ihnen gehört das Fotografieren dazu - um das Grauen festzuhalten oder das Unbegreifbare zu konservieren. Unter #Auschwitz gibt es auf Facebook, Twitter und Instagram tausende Besucherbilder aus dem ehemaligen KZ. Die meisten lichten einfach ab, was dort zu sehen ist: das Tor "Arbeit macht frei", die kilometerlangen Stacheldrahtzäune, die roten Backsteinbaracken, die winzigen Lederschuhe von getöteten Kindern, kiloweise Haare von ermordeten Juden.
Doch sucht man nach #Auschwitz, findet man auch Fotos, die verstören, die geschmacklos wirken. Braucht es ein Selfie vor den Gaskammern oder vor "Arbeit macht frei"? Paweł Sawicki ist 39 Jahre alt und arbeitet seit 2007 in der Gedenkstätte. Seit 2009 ist er für alle Social Media Aktivitäten der Gedenkstätte verantwortlich, denn auch das Museum selbst pflegt als @AuschwitzMemorial alle gängigen Kanäle der sozialen Medien. Aus Erfahrung weiß er, dass es immer wieder Besucher gibt, die sich respektlos verhalten. Es gebe Menschen, die Zigaretten neben den ehemaligen Gaskammern rauchen und sich dabei fotografieren. Die werden direkt vor Ort zur Rede gestellt. "Wir hatten auch wenige Fälle, dass Menschen ihre Namen in einen Backstein der Baracken ritzen oder auf den Zug in Birkenau klettern." Im März 2019 veröffentlichte das Museum eine Fotocollage auf der Besucher zu sehen sind, die auf den Schienen im Vernichtungslager Birkenau balancieren. Der Appell des Museums, diesen Ort "an dem mehr als eine Million Menschen umgebracht wurden", zu respektieren, fand großes Medienecho.
Paweł Sawicki ist Journalist und Fotograf. Für das "Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau" ist er für alle Social Media Aktivitäten verantwortlich und betreibt als @AuschwitzMemorial Kanäle auf Facebook, Twitter, Youtube und Instagram und erreicht damit insgesamt mehr als sechs Millionen Follower weltweit.
Ein Selfie in Auschwitz ist nicht zwingend respektlos
Doch die Mehrheit der Besucher verhält sich korrekt, sagt Sawicki. Und Fotos genauso wie Selfies von der Gedenkstätte seien per se nichts Schlechtes. Sawicki hütet sich, alle Besucher, die in Auschwitz-Birkenau Selfies machen, zu verurteilen. "Ein Selfie ist ein Ausdruck einer visuellen Sprache. Ein Selfie an sich ist nicht unbedingt respektlos". Die Motivation hinter dem Foto sei wichtig und das, was der Fotograf auf Instagram dazu schreibt. Bei den vielen tausenden Fotos, die auf dem Gelände des ehemaligen KZ gemacht werden, sei relativ wenig zu beanstanden.
Es gibt jedoch auch Menschen, die mit ihren Fotos rassistisch motivierte Hassreden verbreiten. In diesen Fällen könne sich Paweł Sawicki meist auf die über sechs Millionen Follower verlassen. Denn die Stärke von Social Media sei der soziale Aspekt und der direkte Austausch, sagt der 39-Jährige. "Die Nutzer vertrauen uns als Institution". Häufig würden ihn andere User auf Fehlverhalten anderer oder antisemitische Posts hinweisen und die Gedenkstätte könnte dann auch etwas ausrichten. So verlinkte @AuschwitzMemorial kürzlich einen Artikel der "The Times of Israel" in dem es um antisemitische Playlists auf Spotify ging. Der Musikdienst reagierte und kündigte Anfang des Jahres an, Playlists mit antisemitischen Inhalten entfernen zu wollen. Ohne die millionenschwere Followerschaft im Rücken wäre dies wohl nicht passiert.
@AuschwitzMemorial nimmt seinen Bildungsauftrag sehr ernst
Das Staatliche Museum entschied sich bereits 2009 mit einer eigenen Seite auf Facebook aktiv zu werden. "Es war die erste große Welle von Facebook. Wir beobachteten, dass immer mehr Seiten bei Facebook zum Thema Auschwitz entstanden. Viele waren gut, andere verdrehten die historischen Fakten oder waren gar antisemitisch." Deswegen beschloss das staatliche Museum, das Thema zu besetzen bevor es andere machen. Die Gedenkstätte musste sich dafür auch viel Kritik anhören: Ob der Holocaust wirklich etwas auf Social Media zu suchen habe. Die positiven Reaktionen der Nutzer hätten jedoch das Gegenteil bewiesen, so Sawicki.
Die Social Media Kanäle sind so etwas wie der "verlängerte Arm" der Gedenkstätte: Am "physischen" Ort Auschwitz und Birkenau wird erinnert, im Internet wird aufgeklärt. Social Media ist ein machtvolles Instrument, um Menschen zu erreichen und die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten, sagt Sawicki. "Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist unsere Bildungsmission. Wir wollen die Welt erreichen". In das Museum im heutigen Polen kamen 2019 mehr als 2,3 Millionen Menschen. "Das heißt viele Milliarden Menschen der Welt haben die Gedenkstätte noch nicht besucht. Über das Internet haben wir durch die kurzen Distanzen eine Chance, viele Menschen online zu erreichen".
Viele tausende Tweets, Posts und Instagram-Fotos hat Paweł Sawicki in den vergangenen zehn Jahren veröffentlicht. Auf Twitter beispielsweise sind es mehr als 75.000 Tweets und Retweets. Der Journalist postet auf englisch und polnisch Geschichten über Holocaust-Überlebende oder Menschen, die im Vernichtungslager ermordet wurden. Emotional und historisch korrekt in 180 Zeichen. Am 27. Januar zum 75. Jahrestag der Auschwitzbefreiung hofft er, dass "sein" Twitteraccount eine Million Follower erreicht hat.
Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau war das größte deutsche Vernichtungslager und gilt als Symbol des Rassenwahns der Nazis. Mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder, die meisten von ihnen Juden, wurden dort in Gaskammern getötet, erschossen oder durch Zwangsarbeit und Hunger in den Tod getrieben. Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das KZ. Die Nazis hatten vor ihrem Abzug die Gaskammern und Krematorien in Birkenau gesprengt und zehntausende Häftlinge zu Todesmärschen Richtung Westen gezwungen. Bei ihrer Ankunft trafen die sowjetischen Soldaten 7500 überlebende Lagerinsassen an. 1947 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Stammlagers und des Vernichtungslagers Birkenau ein staatliches Museum eingerichtet. 1979 wurde das frühere KZ in die Welterbeliste der Unesco aufgenommen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 24. Januar 2020 | 17:45 Uhr