Gespräch Weimar: Ulrike Draesner mit Literaturpreis der Adenauer-Stiftung geehrt
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24. Juni 2024, 08:56 Uhr
Die Schriftstellerin Ulrike Draesner ist am Sonntag in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet worden. Damit würdigt die Jury die Vielfalt ihres Schaffens und besonders eine Roman-Triologie. Darin erkundet Draesner, wie Krieg, Gewalt und Fluchterfahrungen über Generationen weiterwirken. Gesellschaftlichen Diskursen stelle sie sich als Mensch, Autorin oder Lehrende am Literaturinstitut in Leipzig "mit kundigem Deutschsein", "mit Verantwortung, Anerkennung von Differenz und mit Humor statt Reinheitsgebot", so Vorsitzender Norbert Lammert.
- Schriftstellerin Ulrike Draesner hat den mit 20.000 Euro dotierten Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2024 erhalten.
- Draesner appelliert im Gespräch mit MDR KULTUR, das Wissen um die von Krieg, Gewalt und Fluchterfahrungen geprägte deutsche Geschichte für die Gegenwart zu nutzen, um den Herausforderungen der Migration zu begegnen.
- Draesner, die auch am Literaturinstitut in Leipzig lehrt, sieht ihre Studierenden im Diskurs um Identität, Diversität und die Freiheit des Wortes "auf der Suche".
MDR KULTUR: Autorinnen und Autoren, "die der Freiheit das Wort geben", möchte die Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Literaturpreis würdigen. Heute, da sie von rechts und links unter Druck steht, inwiefern ist diese Freiheit des Wortes ein Thema für Sie?
Ulrike Draesner, Schriftstellerin: Meine Arbeit der letzten 20 Jahre zeigt es: In meinem jüngsten Roman "Die Verwandelten" habe ich mich mit der kriegsbedingten Gewalt gegen Frauen auseinandergesetzt. In der Arbeit daran bin ich noch einmal darauf gestoßen, wie schwierig es ist, zu sprechen, wenn man kein Gegenüber hat, das einem zuhört. Also, wenn die Geschichte, die man eigentlich zu erzählen hätte, keinen Raum findet.
Die Literatur ist das genuine Reich, um diese Stimmen, die wir die ganze Zeit verdrängt haben, obwohl sie unser Leben beeinflussen, zu hören und aufzunehmen. Menschlich aufzunehmen! Auch das ist ein Aspekt der Freiheit des Wortes und steht in unmittelbarer Verbindung mit unserer gegenwärtigen politischen Situation, in der wir darum streiten, wie wir Vergangenheit lesen und wer welche Deutungsmacht über diese Vergangenheit hat.
Die Literatur ist das genuine Reich für die Stimmen, die wir die ganze Zeit verdrängt haben.
Die Jury würdigt, wie Sie sich als Autorin mit europäischer Gewaltgeschichte auseinandersetzen. Gemeint sind damit sicherlich die Tiefenbohrungen, die sie besonders in Ihren letzten drei Romanen seit 2014 unternommen haben – "Die sieben Sprünge vom Rand der Welt", "Schwitters" und eben "Die Verwandelten" –, die gehören ja zusammen in Ihrer Untersuchung, wie Geschichte in Menschen durch Generationen wirkt. Was haben Sie bei diesen Tiefenbohrungen entdeckt?
Dazu erzähle ich vielleicht kurz etwas: Der Roman "Die sieben Sprünge vom Rand der Welt" erzählt im Wesentlichen die emotionale Fluchtbiografie meines Vaters aus Schlesien nach Westdeutschland, die auch meine Kindheit und Jugend geprägt hat. Als ich daran saß, wurde mir nochmal deutlich, dass es eben kein exklusiv deutsches, sondern ein europäisches Thema ist. Ich habe Interviews geführt mit Zeitzeuginnen in Deutschland, in Polen und habe entdeckt, dass diese Geschichte in so vielen Familien eine Rolle spielt, von der einen wie der anderen Seite: als Flüchtling oder als die Flüchtlinge Aufnehmender.
Sich dem Schmerz und den Verletzungen im eigenen Gedächtnis zu stellen, würde helfen zu verstehen, was es überhaupt bedeutet, eine geflüchtete Person zu sein.
Fluchterfahrungen sind in unseren Familiengedächtnissen gespeichert und daraus erwächst eigentlich eine große Möglichkeit für die Gegenwart: Nämlich, uns mit diesem Wissen tatsächlich zu verbinden und so sehr viel besser mit der Herausforderung umzugehen, dass wir in einem Land leben, das – wie der Rest der Welt – von Migration betroffen ist. Sich dem Schmerz und den Verletzungen, die historisch damit verbunden sind, selbst im eigenen Gedächtnis zu stellen, würde helfen zu verstehen, dass Geschichte sich fortsetzt, dass Flüchtlinge zunächst einmal Aufnahme brauchen und was es überhaupt bedeutet, eine geflüchtete Person zu sein.
Die Frage nochmal persönlich gewendet, auch wenn das nicht so einfach zu beantworten ist: Wie spüren Sie selbst, dass diese Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in Ihnen weiter wirkt?
Ja, das ist gar nicht so einfach zu beantworten, weil die Beschäftigung mit diesen Themen über die letzten 20 Jahre mich wirklich verändert hat: Es hat mich weicher und empfindlicher gemacht und offener für Vielfalt.
Ich empfinde es als großen Reichtum, in einem Land zu leben, in dem es zum einen die Freiheit des Wortes gibt – ein absolut verteidigenswertes Gut – und in dem – zum anderen – so viele unterschiedliche Menschen unterwegs sind und ihren Beitrag zu unserem Sozialwesen geben.
Mich hat es sehr angerührt, die Dokumente aus den Jahren 1933 bis 1945 noch einmal zu lesen, von dieser Verfolgung, und zu spüren, wie willkürlich und nachhaltig junge Menschen zerbrochen wurden und ein Leben lang dann damit zu tun hatten.
Ich empfinde es als großen Reichtum, in einem Land zu leben, in dem es die Freiheit des Wortes gibt – ein absolut verteidigenswertes Gut.
Sie sind auch Professorin am Leipziger Literaturinstitut. Wie erleben Sie den Umgang der jungen Autorinnen und Autoren mit der Freiheit des Wortes, wo es heute an den Hochschulen ja gerade viel um Sensibility Reading oder Cancel Culture geht?
Ich denke, dass unsere Studierenden vor allen Dingen auf der Suche sind: auf der Suche nach einer eigenen Stimme, auf der Suche nach einem Umgang zum Beispiel mit KI, auf der Suche danach, wie sich Diversität jenseits dieser semantischen Fragen wirklich in Texten ausdrücken kann.
Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit, auf die Selbstbezeichnungen von Menschen Rücksicht zu nehmen und so etwas wie Heteronormativität zu hinterfragen.
Das ist für jemanden wie mich – 40 Jahre älter – zum einen natürlich eine Herausforderung und zum anderen, finde ich, ein großes Geschenk, weil ich glaube, dass eben diese Begegnung und die Offenheit dafür ein sehr gutes Mittel sind, jung zu bleiben.
Mehr über Ulrike Draesner & den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung
Seit mehr als zehn Jahren hat Ulrike Draesner an ihrer Romantrilogie gearbeitet, die um die Themen Krieg, Flucht und Vertreibung kreist. Mit dem ersten Teil – "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" – war sie 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dann folgte "Schwitters", darin geht es um den Künstler Kurt Schwitters und seine Vertreibung ins Exil. 2023 erschien der dritte Teil, aus der Sicht starker Protagonistinnen wird darin vom Krieg erzählt, mit dem Roman "Die Verwandelten" war sie auch für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert.
Draesner arbeitet genre-übergreifend und beteiligte sich an intermedialen Projekten. Ihr Schaffen umfasst Romane und Essays ebenso wie Erzähl- und Lyrikbände, für die sie ebenso zahlreiche Preise erhielt.
Geboren 1962 in München, studierte sie Germanistik, Anglistik und Philosophie. 1992 promovierte sie mit einer Arbeit über Wolfram von Eschenbachs "Parzival". 1993 hängte sie ihren Job am philologischen Institut der Universität München an den Nagel. 1995 debütierte sie bei Suhrkamp mit dem Lyrikband "Gedächtnisschleifen". Später publizierte sie preisgekrönte Romane wie "Mitgift" oder "Kanalschwimmer". 2018 wurde sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, dessen Leitung sie auch übernahm. Darüber hinaus ist sie auch als Übersetzerin tätig und übertrug unter anderem zwei Bände der US-amerikanischen Nobelpreisträgerin Louise Glück.
Draesner wurde vielfach ausgezeichnet: So erhielt sie 2021 den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds. Der Literaturpreis der CDU-nahen Konrad-Adenauer Stiftung ist mit 20 .000 Euro dotiert. Draesner ist die 31. Preisträgerin. Im Vorjahr erhielt ihn Lutz Seiler ("Kruso" ). Außerdem wurden bisher unter anderem auch Herta Müller, Daniel Kehlmann oder Cees Nooteboom damit ausgezeichnet.
Draesner lebt und arbeitet in Berlin und Leipzig.
Buchtipps
Ulrike Draesner
Die Verwandelten
Penguin Verlag
608 Seiten
ISBN: 978-3-328-60172-2
Ulrike Draesner
hell & hörig. Gedichte 1995–2020
Penguin Verlag
272 Seiten
ISBN: 978-3-328-60225-5
Quelle: MDR Kultur (Carsten Tesch), Redaktionelle Bearbeitung: ks
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. Juni 2024 | 10:15 Uhr