10. Kamenzer Rede Schriftsteller Clemens Meyer über "Indianer in Sachsen"
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13. September 2023, 13:59 Uhr
Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer hat in der Kamenzer Klosterkirche St. Annen die 10. Kamenzer Rede gehalten. Unter dem Titel "Indianer in Sachsen - Über Mythen und Alpträume" äußerte er sich besorgt über Rechtspopulismus und radikale Meinungen. Dabei zog er Parallen zwischen "Indianern" und Sachsen, die gleichermaßen falsche Zuordnungen erfahren würden.
- Der Leipziger Schrifststeller Clemens Meyer hat die 10. Kamenzer Rede gehalten.
- Er zog in seiner Rede Parallelen zwischen "Indianern" und Sachsen.
- Der Autor äußerte sich besorgt über Rechtspopulismus und radikale Meinungen.
"Indianer in Sachsen - Über Mythen und Alpträume" – so lautete der Titel der 10. Kamenzer Rede, die der Schriftsteller Clemens Meyer am Mittwochabend in der Kloster-Kirche St. Annen gehalten hat. Bei "Indianer" denkt man natürlich erst mal an Karl May, Winnetou, seinen Blutsbruder Old Shatterhand oder an Tipis, Lagerfeuer und Marterpfähle. Dieses "Indianer"-Universum, das Karl May von Sachsen aus erschaffen hat, ist natürlich auch bei Clemens Meyer vorgekommen.
Leipziger Autor sieht Parallelen zwischen "Indianern" und Sachsen
Aber diese Welt nur einmal mehr auszumalen, ein paar Girlanden drumherum zu winden oder nochmal die Debatte zu führen, ob man noch "Indianer" sagen darf - das war Clemens Meyer dann doch zu popelig. Ohne es vielleicht so gewollt zu haben, schuf Meyer im Grunde eine Kosmografie menschlicher Charaktere und menschlicher Beziehungen, in der im Grunde jeder "Indianer" ist; ein Mensch, der manchmal versehentlich falsche Zuordnung erfährt.
Ähnlich wie die Menschen bei Kolumbus in der Neuen Welt, der dachte, er sei in Indien und bei den "Indianern" angekommen, ohne zu erkennen, dass es Angehörige überaus zahlreicher und sehr verschiedener Stämme sind. Bei uns heute sind es die Bayern, Sachsen, Thüringer oder Anhalter. Überall gibt es Ober-Indianer, Jäger, Sammler, Krieger - heute in Gestalt von Schaumschlägern, Dogmatikern oder braven Bürgern. Es sind Stämme, die einander durchdringen, wenigstens irgendwie ko-existieren müssen und das nicht immer schaffen, ob nun in Sachsen oder anderswo.
Was Meyer abgeliefert hat, war keine Rede. Es war eine literarische Performance.
Clemens Meyers Kamenzer Rede zwischen Rap und Poetry Slam
Was Meyer abgeliefert hat, war keine Rede. Es war eine literarische Performance. Eine, von der er am Anfang - wie er hinterher einräumt - gar nicht wusste, wie sie geraten würde. Angefangen hat er die Rede noch mit Prosa: einer kleinen Geschichte von der Ankunft des (womöglich) ersten "Indianers" in Kroatien. Es ist eine Variante von der Landung in der Neuen Welt, nur diesmal umgekehrt: Es ist nicht ein Weißer in Amerika, sondern ein "Indianer" in Europa. Die Pointe: Der "Indianer" erweist sich als Pierre Briece auf dem Weg zu seinem Film-Set bei Dreharbeiten zu Winnetou 1962.
Nach der Prosa folgt in der Rede ein radikaler Bruch. Plötzlich klingt es dadaistisch, nach Poetry Slam, manchmal nach Rap. Etwa, wenn es "Bla, Bla, Wunderbar" heißt. Meyer greift in die Kalauer-Kiste, stimmt den Gassenhauer "Ein Wigwam steht in Babelsberg" einer DDR-Cowboy-Band - das klingt immer wieder herrlich schräg!
Ich kann gar keine Rede halten.
Dann wechselt der Klamauk aber in einem so atemberaubenden Tempo mit literarischen Verweisen, philosophischen Einlassungen, Zitaten und persönlichen Betrachtungen, dass gar nicht immer gleich fassbar wird: Was ist das jetzt eigentlich? Etwa, wenn Meyer plötzlich nachdenklich klingt und er mit leiserer Stimme sagt: "Ich kann gar keine Rede halten. Denn um eine Rede zu halten, müsste ich eine Meinung haben. Da ich aber keine Meinung habe, kann dies keine Rede sein!" Ist das ein resignatives Bekenntnis? Oder trotziger Sarkasmus? Es ist keine Rede, aber große Poesie mit viel Gedanken-Tiefe und mitunter einem Schuss Melancholie.
Leipziger Schriftsteller besorgt über Rechtspopulismus
Mythen zerkloppt Meyer einfach im Vorübergehen: den Mythos vom edlen Wilden oder den von der Demokratie fördernden Kraft des Internets. Seinen Alpträumen aber kommt Meyer nicht so ohne weiteres bei. Sein Ton wird zum Beispiel immer etwas dunkler, wenn er von populistischen "Politik-Indianern", Rechts-Populisten oder von Sprach-Dogmatikern spricht. Sehr zu schaffen macht ihm vor allem der Gedanke an eine Welt voller Meinungen, die so radikal sind, das keine mehr die jeweils andere gelten lässt.
Aber Meyers größter Alptraum ist der vom marternden Zweifel: Wird diese Arbeit, über der ich gerade brüte, wird dieser Text meinen eigenen Ansprüchen gerecht? Da schnürt sich ein Autor gelegentlich selber an den Marter-Pfahl, quält sich schlaflos durch lange Nächte hindurch. Am Abend in Kamenz ist Meyer streckenweise gar fleisch-geworderner Alptraum - literarisch halluzinierend, dass es nur so schäumte - auf seiner kleinen Bühne wie auf einem Altar, schräg unter einer alten barocken Kanzel.
Clemens Meyer hält Rede wie ein "Indianer" auf wildem Ritt
Meyer hat seine Rede mal vorgetragen wie ein "Indianer" auf einem wilden Ritt, auf dem er einen Pfeil nach dem anderen auf radikale Besserwisser, Moralisten oder auf Populisten schießt. Dann wie ein Schamane, der ums Feuer tanzt und Geister wie Balzac, Marx, Shakespeare, Alain Finkielkraut oder ihm persönlich nahe Geister wie Kunze, Nadolny, Wenzel beschwört. Meyer ist ein "Text-Indianer", der sein Material mal grob mit der Axt bearbeitet, mal scharf mit dem Messer. Das war tolle Akrobatik! Die damit endet, dass Meyer müde und erschöpft - und auch ein bisschen ratlos, wie er sagt - sinnbildlich in seinen Wigwam zieht, um da ein gutes Buch zu lesen.
redaktionelle Bearbeitung: vp, bh
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Morgen | 13. September 2023 | 08:40 Uhr