Liferando-Fahrradkurier von hinten
Der Lieferdienst Lieferando ist eines von vielen Unternehmen, das über eine Online-Plattform funktioniert. Bildrechte: MDR/Annika Franz

Jede Minute "getracked" Arbeiter bei Lieferando & Co. kämpfen für bessere Bedingungen – und bekommen Rückenwind von EU

05. Juni 2024, 13:36 Uhr

Nach langen Verhandlungen hat das Europaparlament im April die Richtlinie zur Plattformarbeit angenommen. Sie soll EU-weit für klare Beschäftigungsverhältnisse in der Branche sorgen und regelt erstmals den Umgang mit Algorithmen, die wesentlich für die Organisation von Plattformarbeit sind. Zwei Jahre hat die deutsche Regierung nun Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Was bedeutet das konkret für die Plattformarbeiter in Deutschland?

Magnus Heerleins Fahrrad schimmert lila-metallisch. Er habe es erst vor einem Monat gekauft, erzählt er, als er es durch die Dresdner Innenstadt schiebt. Magnus ist seit sechs Jahren Kurierfahrer, ein sogenannter "Rider". Seit fünfeinhalb Jahren arbeitet er für das Lieferunternehmen Lieferando. Um Essensbestellungen zu den Kunden nach Hause zu bringen, fährt er je nach Schicht bis zu 110 Kilometer am Tag.

Magnus Heerlein
Magnus Heerlein ist seit fünf Jahren Fahrer bei Lieferando in Dresden. Dort hat er mit anderen einen Betriebsrat gegründet. Bildrechte: Annika Franz

Als Vorsitzender des Dresdner Betriebsrats von Lieferando setzt sich Magnus Heerlein außerdem für die Rechte der Arbeitnehmer ein. Etwa 150 Menschen arbeiten bei Lieferando in Dresden, im Betriebsrat sind sie zu siebt. Vor etwa einem Jahr hat er den Rat gemeinsam mit anderen Beschäftigten gegründet. Damit haben sie einen der wenigen Mitbestimmungsorte für Plattformarbeiter in Deutschland und der EU geschaffen, denn in diesem Bereich sind Betriebsräte selten.

Immer mehr Menschen machen Plattformarbeit

Rider sind das wohl sichtbarste, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel für Plattformarbeit. Diese umfasst Dienstleistungen wie Taxifahrten, Babysitting und Altenpflege oder Übersetzungsarbeit. Vermittelt werden sie alle direkt zwischen Kunden und den Arbeitern über eine Online-Plattform, also eine Homepage oder App.

Die Branche wächst rasant. Laut Zahlen der EU haben 2022 mehr als 28 Millionen Menschen in der EU Plattformarbeit gemacht. Für das kommende Jahr schätzt die EU, dass es bereits 43 Millionen Menschen sein werden. "Es sind meistens Menschen mit Migrationsgeschichte, die in diesem Bereich arbeiten", erklärt Denis Neumann. Er forscht als Industriesoziologe an der Leeds Universität zu Plattformarbeit mit Fokus auf Lieferunternehmen. Die Branche macht einen flexiblen Einstieg und kurze Arbeitsdauern möglich. Außerdem brauchen Plattformarbeiter häufig nicht mehr als ein Handy und minimale Sprachkenntnisse, um ihren Job zu machen.

Plattformunternehmen profitieren enorm von den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in ihrem Sektor, sagt Denis Neumann. Der rechtliche Schutz für Arbeitnehmer war EU-weit lange kaum abgesteckt. Das hat sich nun geändert: Im April nahm das EU-Parlament offiziell die neue Richtlinie zu Plattformarbeit an. Sie soll für bessere Arbeitsbedingungen sorgen.

Wie werden in der EU Entscheidungen getroffen?

EU-Gesetze werden von drei Institutionen gemacht. Die Europäische Kommission schlägt einen Gesetzestext vor, der anschließend im Parlament und Ministerrat verhandelt und beschlossen wird. Das Parlament soll die Meinungen der Bürgerinnen und Bürger repräsentieren: Es besteht aus Abgeordneten, die von der EU-Bevölkerung gewählt werden. Im Rat sitzen die jeweils fachlich zuständigen Minister der nationalen Regierungen – im Fall der Plattformrichtlinie war das für Deutschland Arbeitsminister Hubertus Heil.

Zuerst diskutieren sowohl der Ministerrat als auch die Parlamentsabgeordneten den vorgeschlagenen Text der Kommission und ändern ihn je nach ihren Positionen ab. Hier ist wichtig zu wissen, dass beide Seiten vorbereitende Gremien haben, in denen Großteile der Arbeit verrichtet werden. Im Parlament geschieht das vor allem in den Fachausschüssen, auf die sich die Abgeordneten aufteilen. Nur umstrittene Punkte werden im Plenum besprochen.

Beim Ministerrat setzt sich der Ausschuss der Ständigen Vertreter mit dem Gesetzestext auseinander. In dem sitzen Diplomaten, die die Agenda ihrer jeweiligen Regierung vertreten. Sie arbeiten wiederum auf Grundlage der Ratsarbeitsgruppen, in denen Fachbeamte aus den Ministerien das Thema schon vorbereitet haben. Auch hier gilt: Wenn die Minister den Text auf dem Tisch liegen haben, vertrauen sie meistens auf das Urteil ihrer Vorarbeitenden und entscheiden nur noch bei kritischen Themen selbst. Während die Sitzungen des Parlaments öffentlich gestreamt werden, finden die Verhandlungen der Ratsgremien aufgrund ihres diplomatischen Charakters hinter verschlossenen Türen statt.

Im sogenannten Trilog treffen Parlament und Ministerrat mit ihren jeweiligen Gesetzesentwürfen aufeinander. Trilog heißt es, weil auch Vertreter der EU-Kommission dabei sind. Dort handeln Parlament und Ministerrat einen Kompromiss aus, der allerdings vorläufig ist: Er muss von beiden Seiten noch formell bestätigt werden. Oft braucht es zahlreiche Trilogsitzungen, bis sich alle Beteiligten einigen. Lobbying, also die Einflussnahme von Interessenvertretungen wie Unternehmen und NGOs, gehört zum Prozess der EU-politischen Entscheidungsfindung dazu.

Die Verhandlungen um die Plattformrichtlinie erstreckten sich über drei Jahre. Lange sah es so aus, als könnten sich die Mitgliedstaaten im Ministerrat nicht einigen – nicht zuletzt, weil die deutsche Regierung eine entscheidende Schlüsselrolle spielte. Und das nicht zum ersten Mal.

Schlüsselrolle Deutschlands und "German Vote"

In den Verhandlungen zur Plattformrichtlinie gab es im Ministerrat lange zwei Lager: Frankreich führte einen Block an Staaten an, der gegen Teile der Richtlinie war. Eine kleinere Gruppierung, angeführt von Spanien, hatte sich dafür ausgesprochen. Die deutsche Regierung enthielt sich durchgehend. Dieses Verhalten kam faktisch einer Blockade gleich, denn die Stimmen im Ministerrat sind nach Bevölkerungsanteil gewichtet. Die Richtlinie wurde letzten Endes nur vom Ministerrat angenommen, weil Griechenland und Estland überraschenderweise ihre Enthaltung aufgaben und für den Gesetzestext stimmten.

Für eine offizielle Einigung braucht es 55 Prozent der Mitgliedstaaten und 65 Prozent der durch die Staaten repräsentierten Bevölkerung. In Deutschland leben die meisten Menschen in der EU, im Jahr 2022 war es fast ein Fünftel der gesamten EU-Bevölkerung. Wenn sich das Land also enthält, wird es schwierig, die 65 Prozent der Bevölkerungsanteilstimmen zusammen zu bekommen. Das wog im Fall der Plattformrichtlinie besonders schwer, weil das zweitgrößte Land Frankreich sie ebenfalls nicht unterstützte. Deutschlands Enthaltung lässt sich auf die FDP zurückführen, die die Richtlinie innerhalb der Koalition blockiert hatte – entgegen der Position von Hubertus Heil selbst.

In Brüsseler Kreisen ist das Phänomen seit längerem als "German Vote" bekannt – schon aus Zeiten vor der Ampelregierung. Die Gründe haben mit der Europakoordinierung in Deutschland zu tun. Innerhalb der Bundesregierung gibt es Koordinierungsgremien, die die deutschen Positionen zu den jeweiligen EU-Verhandlungen im Ministerrat festlegen sollen. Sie werden vom Außen- und Wirtschaftsministerium gesteuert, teilweise auch vom Finanzministerium. Diese Abstimmung zwischen den häufig von verschiedenen Parteien geführten Ministerien ist so komplex, dass es der Bundesregierung oft schwerfällt, zu bestimmten EU-Themen überhaupt eine politische Linie zu entwickeln.

Maßnahmen gegen Scheinselbstständigkeit

Die Richtlinie regelt das Beschäftigtenverhältnis der Plattformarbeiter neu. In der EU arbeiten 93 Prozent von ihnen selbstständig. Laut EU-Parlament sind aber mindestens 5,5 Millionen Plattformarbeiter scheinselbstständig. Sie arbeiten wie abhängig Beschäftigte, werden aber arbeitsrechtlich wie Selbstständige behandelt. Das heißt, sie hätten eigentlich Anspruch auf soziale Absicherung, Urlaubsgeld, Mindestlohn und Selbstorganisation in einer Gewerkschaft – gehen aber ohne eine Festanstellung leer aus. Bislang mussten die Arbeiter vor Gericht beweisen, dass ihnen ein Recht auf Festanstellung zusteht. Das soll das Prinzip der sogenannten Beweislastumkehr nun ändern: Bei Verdacht auf Scheinselbstständigkeit gelten sie als festangestellt, bis die Unternehmen das Gegenteil nachweisen.

Für viele EU-Länder ist das eine Verbesserung. In Deutschland aber haben die neuen Beschäftigungsregelungen nur punktuell Konsequenzen: "Das Scheinselbstständigen-Modell gibt es hier nicht", erklärt Denis Neumann. In Deutschland seien die meisten Menschen, zumindest in der geografisch gebundenen Plattformarbeit wie bei Lieferdiensten oder Taxiunternehmen, fest angestellt.

Doch der zweite große Teil der Richtlinie ist auch für Deutschland von großer Bedeutung: der Umgang mit Algorithmen. Erstmalig soll ihr Einsatz am Arbeitsplatz reguliert und transparenter gemacht und die Daten von Plattformarbeitern besser geschützt werden.

Algorithmen werden zum neuen Chef

Algorithmen sind wesentlich, um Plattformarbeit zu organisieren. Durch ihren Einsatz werden viele Arbeitsschritte automatisiert, bei Lieferando zum Beispiel die Auftragsvergabe. Six Silberman forscht an der Universität Oxford zum Umgang mit Algorithmen in der Arbeitswelt. Silberman beschreibt sie als mathematische Formel, als eine Abfolge von bestimmten Schritten. Welche Kriterien in diese algorithmische Entscheidungsfindung einbezogen werden, sei nicht transparent. "Und das hat System", erklärt Denis Neumann. "Durch diese Blackbox können die Unternehmen ihr Geschäftsmodell ganz schnell an den Markt anpassen." Denn auf Basis der gesammelten Daten kann ein Algorithmus über geschäftliche Entscheidungen urteilen – zum Beispiel darüber, ob Kuriere neu angestellt oder entlassen werden.

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Fehlende Transparenz bei Lieferando

"Kein Fahrer hat diese Algorithmen bisher gesehen", sagt Magnus Heerlein, der Betriebsratsvorsitzende bei Lieferando Dresden. Öffentlich sprach sich Lieferando für die EU-Richtlinie aus. Aber einen achtsamen Umgang mit den Daten der Beschäftigten setze das Plattformunternehmen bisher nicht um, wie Magnus erzählt. Ganz im Gegenteil. Durch die App "Scoober" auf den Handys der Beschäftigten, dem Äquivalent zur Lieferando App auf den Mobilgeräten der Kunden, werden jede Menge Daten erhoben.

Mobiltelefon
Das Smartphone ist bei Magnus Heerlein von Lieferando ständiger Begleiter. Bildrechte: Annika Franz

"Da wird alles getrackt: Alle 15 Sekunden mein Standort, wie schnell ich bei einer neuen Bestellung auf mein Handy schaue, wie schnell ich fahre, wie schnell ich im Treppenhaus bin, einfach alles", sagt Magnus. Lieferando gehört zum internationalen Unternehmen Just Eat Takeaway, das in 20 Ländern tätig ist. In Deutschland beschäftigt das Unternehmen eigenen Angaben nach mehrere tausend Fahrer. Pressesprecher Oliver Klug antwortete auf die Frage, zu welchem Zweck und wie genau es seine Mitarbeiter trackt, dass die Fahrer-App den geltenden Datenschutzbestimmungen entspreche. "Die ermittelten Orte und Zeiten sind unerlässlich für einen ordnungsgemäßen Betrieb. Jedoch werden sie nicht für unzulässige Leistungs- oder Verhaltenskontrolle genutzt." Genau das legt aber eine ARD-Recherche nahe.

Laut Oliver Klug hätten die zuständigen Betriebsräte außerdem "umfassende Einsichten" in die Funktionsweisen der verwendeten Algorithmen. Aber Magnus Heerlein sagt, dass er und seine Betriebsrats-Kollegen die Algorithmen zur Vergabe der Bestellungen nicht kennen.

Besserer Schutz durch die neue EU-Richtlinie

Durch die neue EU-Richtlinie ist der Umgang mit Algorithmen bei Lieferando und allen anderen Plattformunternehmen in Zukunft gesetzlich geregelt. Niemand kann mehr auf Basis eines Algorithmus entlassen werden. Die Unternehmen müssen automatisierte Systeme durch Menschen überwachen lassen. Auch persönliche Daten, zum Beispiel über den psychischen Zustand von Arbeitnehmern oder biometrische Daten zur Identitätsprüfung, dürfen nicht mehr durch Algorithmen verarbeitet werden. Und: Plattformunternehmen müssen ihren Beschäftigten in Zukunft offenlegen, auf Basis welcher Daten die Algorithmen geformt werden. "Handelt es sich um so neutrale Dinge wie den Standort und die Verfügbarkeit der Arbeiter, oder werden Menschen aufgrund bestimmter Merkmale bevorzugt behandelt? Bekommt eine Person zum Beispiel keine Aufträge mehr, weil sie an einem Protest teilgenommen hat, müssen die Unternehmen das in Zukunft offenlegen", erläutert Informatiker Six Silberman.

Einbezug von Arbeitervertretungen

Die Richtlinie bindet auch Betriebsräte und Gewerkschaften ein – und ist damit hilfreich für Magnus Herrlein und den Lieferando-Betriebsrat. Als Vorsitzender legt Magnus besonderen Wert darauf, Einsicht in die Algorithmen und die Daten dahinter zu bekommen. "Schließlich sind wir am Ende diejenigen, die darauf achten müssen, dass die geltenden Gesetze eingehalten werden."

Mit Hilfe der neuen Richtlinie können sie automatisierte Entscheidungen in Zukunft anfechten und bei Verdacht auf Datenmissbrauch externe Sachverständige hinzuziehen. Generell stärkt die Richtlinie ihren Anspruch auf Information und Beteiligung. "So können die Arbeiterorganisationen mit einer anderen Rechtslage operieren, das ist schon ein Durchbruch", findet der Industriesoziologe Denis Neumann.

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Die Plattformrichtlinie – ein europäischer Erfolg?

Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke hat den Entstehungsprozess der Richtlinie eng begleitet. Als Schattenberichterstatter des Parlaments führte er die Verhandlungen mit Kommission und Rat. "Ich bin erstmal sehr erleichtert, dass wir jetzt überhaupt noch zu einem Ergebnis gekommen sind", kommentiert er. "Es ist immer noch besser zu sagen: 'Ich hätte mir vielleicht mehr gewünscht' als 'Wir sind komplett gescheitert.'" Konflikte habe es vor allem rund um die Anstellungsverhältnisse gegeben. Die Regelungen zu den Algorithmen seien aber unstrittig gewesen.

Denis Neumann bezeichnet die neue Richtlinie als "Plattformdirektive Light". Obwohl sie wichtige Regelungen für Algorithmen einführe, biete sie sehr viel Spielraum für die Nationalstaaten. Nach dem Beschluss auf EU-Ebene haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, Richtlinien in nationales Recht umzusetzen. "Jetzt wird es darauf ankommen, wie die Regelungen in jedem Nationalstaat implementiert werden", meint Neumann.

Der Kampf für Arbeitsrechte geht weiter

In Dresden begrüßt Magnus Heerlein die neue Richtlinie: "Die bisherigen Arbeitnehmergesetze stammen aus Zeiten, in denen es noch keine Algorithmen gab. Aber die spielen trotzdem eine Rolle für uns". Algorithmische Transparenz und Mitbestimmung sei neben höheren Zuschlägen und einem Stundenlohn von mindestens 15 Euro Teil des geforderten Tarifvertrags, für den sich Lieferando-Betriebsräte seit mehreren Jahren bundesweit einsetzen. Doch dass die Forderungen auf EU-Ebene nun erstmals gesetzlich verankert sind, macht diese Arbeitskämpfe nicht obsolet. Ganz im Gegenteil: Der Tarifvertrag, den Magnus und seine Kollegen bei Lieferando fordern, wäre der erste Tarifvertrag im Lieferdienstbereich in Deutschland und einer der ersten in der EU - ein weiterer Meilenstein im Kampf um Arbeitsrechte in der Plattformwirtschaft. Magnus Heerlein ist sich sicher: "Dafür werden wir weiterkämpfen".

Dieser Beitrag entstand im Rahmen von "Crossborder Journalism Campus", einem Erasmus+-Projekt der Universität Leipzig, der Universität Göteborg und des Centre de Formation des Journalistes in Paris. Unter Mitarbeit von: Dharani Thangavelu, Emma Pascal, Francesca Olivi, Sebastian Christensen, Christopher Brass, Bahar Sheikh, Aylin Elci, Jeanne Toutain, Paul Battez

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