Europawahl So beeinflusst die EU-Gesetzgebung deutsches Recht
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20. Mai 2024, 05:00 Uhr
Der neue Verschluss an der Milchverpackung, die Turboüberweisung ohne Gebühr oder das Aus zu Amalgan-Zahnfüllungen: Egal, wo man hinsieht, überall ist EU-Recht. EU-Gesetze prägen den Alltag eines jeden Bürgers. Die Thüringer EU-Abgeordnete Marion Walsmann geht davon aus, dass rund zwei Drittel der Gesetze, die in Deutschland gelten, in irgendeiner Art und Weise durch Europa mitbestimmt werden.
- Europäische Entscheidungen beeinflussen EU-Bürger im alltäglichem Leben.
- Es gibt keine genauen Daten zu Gesetzes-Ursprüngen.
- So beeinflusst das europäische Recht die deutsche Gesetzgebung.
- Entscheidet Brüssel über unsere Köpfe hinweg?
EU-Bürger werden im alltäglichem Leben immer wieder mit Entscheidungen auf EU-Ebene konfrontiert. Sei es die EU-Richtlinie zum Einweg-Plastikverbot, die den Drehverschluss bei Tetra-Paks verschwinden ließ, die Turbo-Überweisung ohne Zusatzgebühr oder wie zukünftig mit Künstlicher Intelligenz umgegangen werden soll.
Auch indirekt wird auf das Leben von Menschen in Mitteldeutschland eingewirkt – durch EU-Fördermittel etwa für Vereine, Bauvorhaben oder Seminarräume für einen Jugendbauernhof zwischen Dessau und Magdeburg.
Keine genauen Daten zu Gesetzes-Ursprüngen
Die Europäische Union regelt eine ganze Reihe von Themenfeldern – von Verkehr über Umwelt bis zu Wirtschaft. Auch hat sie über die Jahre ihre Zuständigkeiten stetig ausgeweitet. Wie viele deutsche Gesetze direkt von den EU-Richtlinien und EU-Verordnungen abstammen, ist schwer abzuschätzen. Denn es gibt keine genauen Datenbanken oder Zählungen über Gesetze, die aus EU-Verfahren entstanden sind. Das bestätigte der Deutsche Bundestag auf Nachfrage von MDR AKTUELL.
Das liegt daran, dass es schwer herauszufinden ist, welche Entscheidungen auf deutsche Initiativen zurückgehen oder umgekehrt, eine EU-Richtlinie zu Deutschem Gesetz wurde. Die Beeinflussung hängt somit vom jeweiligen Thema ab. Die EU kann zum Beispiel laut dem Vertrag von Lissabon in der Außenhandelspolitik völlig eigenständig arbeiten und zu 100 Prozent Gesetze erlassen. Kein Land darf demnach allein ein Freihandelsabkommen abschließen.
Eine Studie der Fernuni Hagen aus dem Jahr 2014, die MDR AKTUELL vom europäischen Parlament zugesandt wurde, untersuchte für den Zeitraum von 2005 bis 2013, wie hoch der Anteil der Gesetze war, die (auch) europäische Vorgaben umgesetzt haben. Die Untersuchung zeigte, dass der europäische Einfluss zwischen den Politikfeldern sehr stark variiert.
Demnach wurde ein geringer Zusammenhang bei "sozialer Sicherung" (unter 10 Prozent) nachgewiesen. Etwas mehr, rund 20 Prozent, waren es bei den Themen "öffentliche Finanzen und Steuern", "innere Sicherheit", "Arbeit und Beschäftigung", "Bildung und Erziehung" sowie "Gesundheit". Etwas darüber liegen die Themen "Medien, Kommunikation und Informationstechnologien" sowie "Energie". Bei den Themen Verkehr, Wirtschaft, Umwelt und Landwirtschaft hatte die EU mit 50 Prozent und mehr relativ großen Einfluss – Tendenz steigend.
Die Thüringer EU-Abgeordnete Marion Walsmann geht davon aus, dass "rund zwei Drittel der Gesetze, die in Deutschland gelten, in irgendeiner Art und Weise durch Europa mitbestimmt werden."
Einfluss des europäischen Rechts auf Deutschland
Für die Juristin und Professorin für Europa- und Völkerrecht an der Universität Leipzig, Stephanie Schiedermair, ist der Einfluss des EU-Rechts auf die deutsche Rechtsordnung enorm.
Sie sagte MDR AKTUELL: "gerade im Bereich des Binnenmarktes, durch den gemeinsamen Markt innerhalb der EU, machen viele Regelungen nur noch auf EU-Ebene Sinn."
Das gelte fast für das gesamte Wirtschaftsrecht einschließlich des Verbraucherschutzes. Aber auch bei dem Thema Künstliche Intelligenz und besserer Schutz vor illegalen Inhalten auf digitalen Plattformen wie Facebook, X oder Google mache nur ein gemeinsames, europäisches Vorgehen Sinn.
Die Thüringerin Walsmann setzt sich für den Verbraucherschutz ein und ergänzt im Gespräch mit MDR AKTUELL, dass manchmal eine "Harmonisierung" der Vorschriften wichtig sei, damit nicht jeder Mitgliedstaat selbst über deren konkrete Ausgestaltung entscheide und eine einheitliche Regelung europaweit gelte.
Als Beispiel nannte die Thüringer CDU-Politikerin die Spielzeugsicherheits-Verordnung. "Es würde schlicht keinen Sinn ergeben, wenn etwa in Polen andere Sicherheitsbestimmungen gelten würden als in Deutschland oder Frankreich. Wenn Produkte in einem einheitlichen Binnenmarkt gehandelt werden, ist es für die Wettbewerbsfähigkeit notwendig, dass in den Mitgliedstaaten gleiche Anforderungen an die Produktsicherheit, das Inverkehrbringen und den Plattformhandel bestehen."
Walsmann zufolge bevorzugen vor allem deutsche Unternehmen zunehmend Verordnungen gegenüber Richtlinien, gerade weil sie damit mehr Rechtssicherheit haben und nicht mehr Vorgaben auferlegt bekommen.
Unterschied zwischen Richtlinien und Verordnungen
Bei dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren entstehen EU-Verordnungen. Sie sind geltendes Recht, treten unmittelbar zu einem angegebenen Datum in Kraft und gelten überall in der EU gleich. Sie müssen nicht weiter ins deutsche Gesetz umgesetzt werden.
Richtlinien sind hingegen nicht direkt geltendes Recht. Sie legen gemeinsame Ziele der Mitgliedstaaten für ein bestimmtes Anliegen fest. Richtlinien müssen bis zu einem bestimmten Datum in nationales Recht umgesetzt werden.
Entscheidet Brüssel über unsere Köpfe hinweg?
Viele Bürger haben jedoch das Gefühl, ihr Leben wird von einem merkwürdigen Konstrukt reguliert, die Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg trifft. Schiedermair hält dagegen und sieht das als Fehleinschätzung. "Die EU ist von unten nach oben aufgebaut, sie ist also nur so mächtig, wie die nationalen Regierungen sie werden lassen möchten."
Richtig sei aber, dass Bürokratie und Rechtsprechung kompliziert und teilweise langwierig sind. Da helfe nur mehr Erklärungen und Transparenz, sagt Schiedermair. Sie sieht die nationalen Regierungen in der Mitverantwortung und kritisiert, dass diese "nicht so zu tun (sollten), als hätte die EU nichts mit ihnen zu tun."
So säßen die Staats- und Regierungschefs ja im Europäischen Rat und Vertreter der Mitgliedsländer im Ministerrat, welche Gesetze aktiv mitgestalten. "Die enorm enge Verzahnung zwischen den mitgliedstaatlichen Regierungen und der EU führt auch zu einer doppelten Legitimation der EU", betont Schiedermair. "Leider erweisen die nationalen Regierungen hier der EU mitunter einen Bärendienst, wenn sie für möglicherweise unpopuläre Entscheidungen "der EU", an denen sie selbst mitgewirkt haben, die Verantwortung von sich schieben."
Leider erweisen die nationalen Regierungen hier der EU mitunter einen Bärendienst, wenn sie für möglicherweise unpopuläre Entscheidungen "der EU", an denen sie selbst mitgewirkt haben, die Verantwortung von sich schieben.
Walsmann stimmt dem zu. Sie beobachtet nach eigenen Angaben, dass Positives auf nationaler Ebene für sich selbst reklamiert und Negatives auf "Europa" geschoben wird. Außerdem sei das europäische Gesetzgebungsverfahren sehr komplex und selbst für manch versierten Europapolitiker nicht immer ganz zu durchschauen. Daher räumt sie ein, dass "die europäische Gesetzgebung einem teilweise sehr weit weg vorkommen kann." Walsmann ist jedoch davon überzeugt, dass sehr viel dafür getan wird, die auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen den Bürgern zu vermitteln.
Stetige Vermittlungsarbeit
Sie selbst stehe im ständigem Austausch mit Bürgern aus ihrem Wahlkreis, Mitgliedern des Landtags oder Vertretern des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, um für die Region wichtige Themen zu besprechen, sagt Walsmann. "Ich versuche diese dann auf der europäischen Ebene einzubringen. Entweder direkt im Rahmen der Gesetzgebung oder indirekt, indem ich sie im persönlichen Gespräch gegenüber europäischen Entscheidungsträgern adressiere."
Die Übermittlung der regionalen oder kommunalen Perspektive sei deshalb wichtig, weil die gewählten EU-Abgeordneten direkter Ansprechpartner der Bürger seien, betont Walsmann. "Wir kennen uns sowohl mit den Umständen vor Ort als auch mit den Begebenheiten auf europäischer Ebene aus und sind daher am besten geeignet, zwischen diesen beiden Ebenen zu vermitteln."
Als Beispiel für gelungene europäische Regionalpolitik nennt sie den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. "Auf Mittel dieses Fonds kann zugegriffen werden, um Projekte auf kommunaler oder regionaler Ebene zu realisieren." Das kann die Unterstützung eines innovativen Unternehmens oder eben der Seminarraum für den Jugendverein sein.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 09. Mai 2024 | 10:25 Uhr