Energiewende Stilllegen oder weiterbetreiben? Der Streit ums Gasnetz

29. August 2023, 16:09 Uhr

Je mehr Wärmepumpen und Fernwärmeleitungen es gibt, desto weniger Häuser hängen direkt am Gasnetz. Technisch wäre es zwar möglich, grünen Wasserstoff durch die Leitungen zu schicken. Doch ist das "saubere Gas" in den Heizungskellern überhaupt noch gefragt, sobald ausreichend verfügbar? Einige Experten raten daher, Leitungen in großem Stil stillzulegen.

Britta Veltzke
Bildrechte: MDR / Isabel Gruhle

Die Energiewende mache einen Großteil der Leitungen, die Erdgas in die Häuser bringen, überflüssig. Das behauptet die Organisation Agora Energiewende. Ergo: Stilllegen. Das bewahre die letzten Gaskunden vor horrenden Netzentgelten und schaffe Planungssicherheit für alle: für die, die die Netze betreiben und die, die sich fragen, wie sie im Winter ihre Wohnung heizen sollen.

Stilllegung wird notwendig werden

Auch Veit Bürger vom Ökoinstitut hält das für den richtigen Ansatz. Vor allem, weil es aus seiner Sicht erstmal nicht genug grünen Wasserstoff geben wird, um damit Heizungen zu betreiben. Insbesondere im Bereich der Gasverteilnetze werde "sehr viel Stilllegung notwendig sein".

Moment mal: Was soll da jemand denken, der sich vor kurzem erst eine neue Gasheizung eingebaut hat? Jörg Barth aus Schmölln im Altenburger Land zum Beispiel. "Kein Gas mehr? Da fange ich ja nochmal bei null an." Weil er befürchtete, für die 30 Jahre alte Gasheizung keine Ersatzteile mehr zu bekommen, ließ er Anfang des Jahres eine neue einbauen.

Auch wenn Erdgas politisch keine Zukunft in Deutschland hat, bereut Jörg Barth die Investition nicht. "Das ist ein ganz tolles Teil in meinen Augen." Die Heizung verbrauche wesentlich weniger Gas als die alte. "Ich habe es selbst erst nicht geglaubt, aber es ist so."

Netzentgelte werden steigen

Eine Wärmepumpe hätte Barth mit allen nötigen Umbauten das Vierfache gekostet. Doch was, wenn die monatlichen Kosten für die Gasheizung, etwa Netzentgelte, künftig überhandnehmen? Aus Sicht von Lorenz Bücklein, Energiereferent der Verbraucherzentrale Sachsen, ist das ein wahrscheinliches Szenario. Denn wenn es immer weniger Gaskunden gebe, dann müssten die Menschen, die an das Netz angeschlossen seien, mehr dafür bezahlen.

Bücklein weist zudem auf den CO2-Preis hin, der stetig ansteigen werde. Darauf zu warten, dass eines Tages genug grüner Wasserstoff für alle durch das Erdgasnetz flösse, würde der Verbraucherschützer nicht. "Wann das für Privathaushalte eine Alternative sein könnte und ob dabei auch die bestehenden Gasnetze eine Rolle spielen, das ist derzeit überhaupt nicht absehbar. Das heißt also, man sollte bei einer Investitionsentscheidung für eine neue Heizung derzeit nicht auf Wasserstoff setzen. Das ist unser Rat."

Gasnetz wird unwichtiger

Technisch nutzbar ist laut Professor Andreas Ulbig der größte Teil des aktuellen Erdgasnetzes auch für Wasserstoff. Aber auch er meint: "Die erste Anwendung wird nicht das Heizen in den Häusern sein." Da die Menschen aber ein warmes Haus möchten, würden sie sich erst einmal anders orientieren – und zu dem Zeitpunkt, wenn genug günstiger Wasserstoff zur Verfügung stehe, hätten viele dann schon in etwas anderes investiert.

In Wärmepumpen etwa. Oder die Kommune hat ein Fernwärmenetz gebaut. Ulbig ist Experte für Energieverteilnetze an der Universität Aachen. Auch aus seiner Sicht wird das lokale Gasverteilnetz immer unwichtiger – bis ein Kipppunkt erreicht sei. Dann nämlich, "wenn so wenig Gas in einem Gebiet nachgefragt wird, dass es für den Netzbetreiber nicht mehr wirtschaftlich ist, diese Infrastruktur weiter zu betreiben. Vor allem wenn dann Erneuerungsinvestitionen anstehen." 

In der Schweiz habe man Gasnetze bereits kontrolliert abgeschaltet, erzählt Ulbig – mit langfristigen Vorwarnungen und Kompensationszahlungen für die letzten Kunden am Netz. Welche Pläne haben die deutschen Netzbetreiber – die vielen Stadtwerke, die in der Regel das Gas in die Heizungskeller befördern? Organisiert sind die im Verband kommunaler Unternehmen.

Gaswirtschaft will an Netz festhalten

In einem Positionspapier appelliert der Verband: "Ressource Gasnetz nicht wegwerfen". In dem Papier heißt es: "Selbst, wenn Teile davon nicht mehr für die Versorgung mit Methan oder Wasserstoff benötigt werden, sollte man diese Ressource nicht vorschnell durch Rückbau aus der Hand geben. Eine Art Reservebetrieb ließe Möglichkeiten für die Zukunft offen und vermeidet erst Rückbau- und dann Wiedererrichtungskosten."

Weite Teile der Netze stillzulegen, kommt für Professor Gerald Linke gar nicht in Frage. Er leitet das Ressort Energie beim DVGW, ein Branchenverband der deutschen Gaswirtschaft. Dass dieser die Leitungen weiterbetreiben will, scheint wenig überraschend.

Aus Sicht von Linke ist die Energiewende ohne das Gasnetz aber gar nicht zu schaffen. "80 Prozent unserer Energie sind Moleküle und 20 Prozent sind Strom, und das wird sich nicht wesentlich bis zum Jahr 2050 ändern. Wir haben also die Aufgabe, irgendwie klimaneutrale Moleküle zu erzeugen und nach Deutschland zu holen. Wer diese Aufgabe nicht sieht, beraubt sich jeder Chance, die Klimaziele zu erreichen."

Gretchenfrage: Reicht der Strom für die Energiewende?

Die Debatte entzweit sich an der Frage, ob es genug erneuerbaren Strom gibt, um die Energiewende damit zu meistern: Linke sagt nein. Agora Energiewende – die Organisation, die für die Stilllegung der Netze plädiert – sagt ja und spricht Erdgas jegliche Zukunft ab. Da antwortet Gerald Linke von der Gegenseite prompt: "Das heißt, in diesen ganzen Studien wird von Anfang an das Gas gleich auf null gesetzt." Da sei es kein Wunder, dass man hinterher zu dem Ergebnis komme, dass man die Infrastruktur nicht mehr benötige.  

Mareike Herrndorff von Agora Energiewende, Autorin der Studie über die Zukunft der Gasnetze, macht daraus keinen Hehl: "Klimaneutralität bedeutet natürlich, dass wir aus der Nutzung von Erdgas aussteigen müssen, und das wirkt sich logischerweise auch auf die Infrastruktur aus." Wenn man sich die großen Energiesystemstudien anschaue, komme man zu dem Schluss, dass der Erdgasverbrauch in den kommenden Jahren auf nahezu null in 2045 zurückgehen werde. Nur ein Bruchteil des heutigen Erdgasbedarfs werde dann durch Wasserstoff ersetzt.

Der Zank um die Zukunft der Leitungen geht weiter. In nur einem Punkt dürften sich alle einig sein: Das von der Bundesregierung ausgegebene Ziel – Klimaneutralität bis 2045 – wird das Gasnetz in Deutschland verändern. Die Richtung hängt letztlich von vielen Faktoren ab: von neuen Gesetzen, technischen Entwicklungen, der Verfügbarkeit von Fachkräften und Rohstoffen sowie den Beziehungen zu Gasexportländern.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 29. August 2023 | 06:51 Uhr

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