Anne Brorhilker, Oberstaatsanwältin hört im Landgericht in ihr Smartphone.
Anne Brorhilker nahm bei der Verfolgung von Cum-Ex-Steuerbetrügern eine zentrale Rolle ein. Bildrechte: picture alliance/dpa | Oliver Berg

Überraschende Kündigung Cum-Ex-Chefermittlerin Brorhilker wechselt zur NGO Finanzwende

22. April 2024, 17:34 Uhr

Die Cum-Ex Chefermittlerin Anne Brorhilker wirft überraschend hin und kritisiert die Politik für die schleppende Aufarbeitung des Steuerskandals. Bei den Geschäften haben Banken den deutschen Staat wohl um einen zweistelligen Milliardenbetrag geprellt. Künftig wird Brorhilker bei der NGO "Bürgerbewegung Finanzwende" arbeiten.

Die Cum-Ex Chefermittlerin Anne Brorhilker hat überraschend ihren Job gekündigt. Brorhilker habe um ihre Entlassung aus dem Beamtenverhältnis gebeten, sagte ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft. Zuvor hatte der WDR berichtet. Zu Brorhilkers Gründen äußerte sich die Behörde nicht. Die Oberstaatsanwältin nahm eine zentrale Rolle bei der Verfolgung von Cum-Ex-Steuerbetrügern ein.

Brorhilker übte Kritik an der Aufarbeitung des Steuerskandals. Dem WDR sagte sie: "Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird." Die Politik habe elf Jahre nach Bekanntwerden der ersten Cum-Ex-Fälle noch immer nicht hinreichend reagiert. Steuerdiebstähle seien längst nicht gestoppt, es gebe Cum-Ex-Nachfolgemodelle. Grund seien fehlende Kontrollen, was bei Banken und auf den Aktienmärkten geschehe. Brorhilker sprach sich für mehr Personal in der Strafverfolgung und für eine zentrale bundesweite Behörde zur Bekämpfung von Finanzkriminalität aus.

Brorhilker habe sich um die strafrechtliche Aufarbeitung der Cum-Ex-Machenschaften außerordentlich große Verdienste erworben, teilte NRW-Justizminister Benjamin Limbach mit. "Es ist deshalb bedauerlich, dass sie für uns überraschend heute mitgeteilt hat, die Justiz Nordrhein-Westfalen verlassen zu wollen", sagte der Grünen-Politiker.

Brorhilker will weiter gegen Finanzkriminalität vorgehen

Brorhilker kündigte im WDR an, sich künftig als Geschäftsführerin der Nichtregierungsorganisation "Bürgerbewegung Finanzwende" für den Kampf gegen Finanzkriminalität einsetzen zu wollen. Die Organisation setzt sich nach eigenen Worten für "faire, stabile und nachhaltige Finanzmärkte ein".

Brorhilker gehe es bei ihrem neuen Job darum, das Übel an den Wurzeln zu fassen zu bekommen. "Der Wechsel von Anne Brorhilker zu Finanzwende ist eine Kampfansage an Finanzkriminelle und ihre Unterstützer", sagte Finanzwende-Vorstand Gerhard Schick. Brorhilkers Entscheidung müsse "ein Weckruf sein, die Verfolgung von Finanzkriminalität endlich zur politischen Priorität in Deutschland zu machen".

Staat um zweistelligen Milliardenbetrag gebracht

Mit den sogenannten Cum-Ex-Geschäften ist der deutsche Staat um Milliarden an Steuern gebracht worden. Durch den Betrug, der seine Hochphase von 2006 bis 2011 hatte, wurde der deutsche Staat wohl um einen zweistelligen Milliardenbetrag geprellt – der größte Steuerskandal der Bundesrepublik. In rund 120 Cum-Ex-Ermittlungsverfahren wurde unter Brorhilkers Führung gegen 1.700 Beschuldigte ermittelt.

So funktionierte der Cum-Ex-Betrug (zum Aufklappen)

Die Täter machten sich bei dem Cum-Ex-Betrug das komplizierte Steuerrecht zunutze und auch, dass selbst die Finanzämter nicht mehr richtig durchblickten. Bei dieser Art Geschäfte wurden Aktien rund um den Dividenden-Stichtag zwischen meist mehreren Beteiligten hin und her verschoben. Ziel war es, dass zwei oder mehrere Beteiligte eine Steuerbescheinigung erhalten, um sich die nur einmal gezahlte Steuer mehrmals erstatten zu lassen.

Die Wörter "cum" (lateinisch "mit") und "ex" (lateinisch "ohne") stehen dabei für mit und ohne Dividende. Zahlt eine Aktiengesellschaft eine Dividende, wird diese meist am Tag nach der Hauptversammlung, dem sogenannten Ex-Tag, an die Aktionäre ausgezahlt. Die Aktie gilt dann als "ex Dividende", was sich meist in einem niedrigeren Kurs an der Börse niederschlägt.

Anspruch auf Dividende und Steuerbescheinigung hat, wer eine Aktie am letzten Tag vor dem Ex-Tag im Depot hatte. Dieser Tag wird auch Cum-Tag genannt. Bei Cum-Ex-Geschäften wurden Aktien aber kurz vor dem Dividendentermin verkauft und kurz danach wieder zurückgekauft, nicht selten auch mehrfach. Banken stellten bei jedem Besitzerwechsel dann neue Steuerbescheinigungen aus.

Für die Berechtigung zur Steueranrechnung ist das sogenannte wirtschaftliche Eigentum an dem Papier entscheidend. Wegen der Vielzahl getätigter Geschäfte, der Trägheit der Abwicklungssysteme und auch wegen der Tatsache, dass ein Kaufvertrag erst Tage nach Geschäftsschluss als erfüllt gilt, war und ist für die Finanzämter dabei kaum zu durchschauen, wem eine Aktie zu welcher Zeit wirklich gehört.

Erst 2012 wurden diese Steuerdeals unterbunden. Einige Täter wurden inzwischen verurteilt, darunter der Steueranwalt und Cum-Ex-Architekt Hanno Berger zu acht Jahren Haft sowie Ex-Beschäftigte der Maple Bank. Ein früherer Staranwalt der Großkanzlei Freshfields musste ferner wegen Beihilfe zur schweren Steuerhinterziehung ins Gefängnis. Vor Gericht steht zudem der Warburg-Bankier Christian Olearius. Insgesamt ist der Skandal aber auch mehr als ein Jahrzehnt nach der Hochphase noch immer nicht umfassend strafrechtlich aufgearbeitet. Lücken gibt es etwa bei der Rolle namhafter Großbanken und früherer Landesbanken wie der WestLB.

AFP/dpa/Reuters/MDR (jst)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 22. April 2024 | 13:05 Uhr

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