Studie Demokratie und Wähler im Wandel: "Es geht uns gut, aber..."
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02. März 2025, 05:00 Uhr
Eine Langzeitstudie untersucht das Demokratieverständnis der Wahlberechtigten in Deutschland. Eine Erkenntnis des jüngsten Berichts: Vielen Menschen geht es nach eigenen Angaben recht gut und sie vertrauen demokratischen Prinzipien. Jedoch nehmen sie die wirtschaftliche Gesamtlage und aktuelle Politik als schlecht war. Dabei gibt es alte Ost-West-Unterschiede und neue zwischen den Generationen.
- Unterschiedliche Wahrnehmung der persönlichen und gesamtwirtschaftlichen Lage
- Langzeitstudie untersucht Veränderungen im Demokratieverständnis
- Trend zum Populismus in Ost und West, vor allem bei jungen Menschen
- Zufriedenheit mit Politik und Demokratiepraxis sinkt
- Demokratische Grundwerte intakt, aber Gruppenbildung und Blasen
- Mediennutzung ändert sich rasant – Fragmentierung in Social-Media-Kanälen
- Fazit und Anmerkungen zur Studie
Eine neue Studie der Freien Universität Berlin untersucht Veränderungen im Politikverständnis der Bevölkerung in Deutschland. Wie hat sich der Blick auf unsere Demokratie, Themen, Parteien und Wahlen entwickelt? Dazu wurden im Zeitraum der Europawahl 2024 Bevölkerungsumfragen fortgeführt und mit Befragungen zu den Bundestagswahlen 2017 und 2021 (CNEP-Umfragen) verglichen. Der neue Bericht erschien kurz vor der Bundestagswahl 2025.
Mehr zur Studie CNEP - Comparative National Elections Project
CNEP ist ein multinationales Projekt, in dem seit über 30 Jahren Wissenschaftsteams weltweit Aspekte rund um Wahlen und Demokratie untersuchen und dabei vergleichbare Forschungsdesigns und Kernfragebögen verwenden.
Deutschland war das erste Land einer CNEP-Umfrage überhaupt – 1990 bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl. Nach einer Pause gab es erst 2017 eine weitere deutsche CNEP-Teilstudie, finanziert von der privaten Fritz Thyssen Stiftung, die wissenschaftlichen Nachwuchs und Forschungsprojekte fördert. Die Studien 2021 zur Bundestagswahl und zuletzt 2024 zur Europawahl wurden dann durch die Otto Brenner Stiftung der IG Metall unterstützt.
Befragt wurden 2017 mehr als 3.200 Personen, 2021 und 2024 dann jeweils etwa 1.600. Zwei Drittel der Teilnehmer waren Westdeutsche, ein Drittel Ostdeutsche.
Unterschiedliche Wahrnehmung eigener und gesamtwirtschaftlicher Lage
Ein zentrales Ergebnis der jüngsten Befragung ist, dass im Vergleich zu 2021 und 2017 die Bewertung der wirtschaftlichen Gesamtlage in Deutschland von deutlich positiv ins negative gekippt ist, "während die eigene wirtschaftliche Lage im Mittel weitgehend auf hohem Niveau stabil und positiv gesehen wird". Dabei wurde jeweils gefragt: "Wie schätzen Sie die eigene wirtschaftliche Lage ein?" und "Wie beurteilen Sie ganz allgemein die derzeitige wirtschaftliche Lage in Deutschland?" Die fünf Antwortoptionen reichten von "sehr schlecht", "eher schlecht" und "neutral" bis "eher gut" und "sehr gut".
Zudem sehen die Forscher am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin teils dramatische Veränderungen in der Wahrnehmung von Parteien, bei gleichzeitig relativ stabilen Meinungen zu vielen politischen Themen. Sie führen diese Widersprüche vor allem auf Verschiebungen der Mediennutzung und in der politischen Bildung zurück.
Studienleiter Thorsten Faas spricht von einem Wandel in der Parteien- und Medienlandschaft binnen weniger Jahre, "den sich in diesem Tempo kaum jemand hätte vorstellen können". So sei das Kurzvideoportal Tiktok 2017 noch völlig unbekannt gewesen oder das 2024 gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) habe unglaublich schnell Einfluss erlangt: "Die Veränderungen des medialen Umfelds, aber auch die Ausdifferenzierung des Parteiensystems haben auch die Wahrnehmungen der politischen Situation insgesamt deutlich verändert und polarisiert."
Langzeitstudie zum Demokratieverständnis
Die Studie führt die Veränderungen weniger auf thematische Neuorientierungen zurück, die erstaunlich konstant seien. "Vielmehr deuten die Verschiebungen auf veränderte Wahrnehmungen hin." Das ergibt sich aus dem Vergleich der Befragungsergebnisse zu den Bundestagswahlen 2017 und 2021 mit neuen Ergebnissen zur Europawahl 2024. Dabei wurden großteils identische Messinstrumente und Fragen verwendet. Gezielt gesucht wurde auch, in welchen Teilgruppen sich Haltungen verändern. Dabei wurde nach Alter, Parteienreferenz und Ost- oder Westsozialisierung unterschieden.
Abgefragt wurde die Einstellung zu Grundpfeilern freiheitlicher, parlamentarischer und sozialstaatlicher Demokratien wie zu freien Wahlen, Gewaltenteilung, freier Meinungsäußerung und "sozialer Demokratie": Gefragt wurde: "Wie wichtig ist Ihnen, (...)?
In den ersten vier Fragen zu Grundwerten westlicher Demokratien zeigt sich über die Jahre 2017, 2021 und 2024 eine große Konstanz mit leicht abnehmendem Trend in den Fragen 1 bis 3 und mit leicht steigendem bei Frage 4 zum Recht auf Kritik an der Regierung. Im West-Ost-Vergleich liegt der Westen jeweils leicht vorn.
Differenzierter ist es bei der "sozialen Demokratie": Beim Schutz von Minderheiten zeigt sich ein West-Ost-Gefälle, das aber zuletzt geringer geworden ist. Bei den Fragen nach Arbeitsplatzsicherung und Begrenzung von Einkommensunterschieden gibt es deutlich mehr Befürworter im Osten, insgesamt aber eine leicht sinkende Tendenz.
Die Aussage – "Bürger akzeptieren und befolgen Entscheidungen der Regierung" – zielt auf die Logik parlamentarischer Demokratie und Politik, und ob deren Entscheidungen auch akzeptiert werden. Dem wird im Vergleich zu den anderen Fragen weniger Bedeutung beigemessen.
Trend zum Populismus in Ost und West vor allem bei jungen Menschen
Die Autoren der Studie sehen über die gut acht Jahre einerseits eine erstaunliche Stabilität bei der Bewertung unserer parlamentarischen Demokratie, aber im Detail durchaus Unterschiede.
Das gilt etwa für die AfD-Anhänger in Ost und West, die den Schutz von Minderheitenrechten als weniger wichtig erachten. Außerdem ist es für Anhänger von AfD und teils auch BSW weniger wichtig, ob Regierungsentscheidungen akzeptiert und befolgt werden. Die Studienautoren sehen beides als typisch für populistische Kreise: Minderheiten stören demnach potenziell die Durchsetzung des "reinen Volkswillens" und "politische Eliten" werden eher kritisch gesehen.
Laut der Studie gibt es aber keine eindeutige Verschärfung dieser Prozesse oder "eine Erosion des Demokratiebildes insgesamt". Diese Unterschiede habe es auch schon 2017 gegeben. Dennoch wird gerade bei jungen Menschen mit formal niedriger Bildung ein Trend zum Populismus gesehen.
Weitere Fragen zielen auf die persönliche Einordnung unserer Demokratie im Vergleich zu anderen Regierungsformen:
- Für Leute wie mich ist es letztlich egal, ob die Regierungsform demokratisch ist oder nicht.
- Unter Umständen ist eine autoritäre Regierungsform einer demokratischen vorzuziehen.
- Die Demokratie ist jeder anderen Regierungsform vorzuziehen.
Dabei zeigten sich erhebliche Ost-West-Differenzen sowie je nach Alter und Parteienpräferenz: Die uneingeschränkte Unterstützung für die Demokratie schwankt zwischen 67 Prozent (Ost/2021, 2024) und 79 Prozent (West 2017). Ein West-Ost-Gefälle zeigt sich auch bei der Frage: "Wie zufrieden sind Sie alles in allem mit der Demokratie in Deutschland?" Diese Fragen wurden noch unterteilt nach Umsetzung/Verwirklichung.
Die Studienautoren kommen zu dem Schluss: "Die wahrgenommene Praxis der Demokratie in Deutschland ist bestenfalls mäßig ausgeprägt." Der Mittelwert liegt zwischen "eher unzufrieden" und "eher zufrieden". Im Osten Deutschlands sind die Werte noch etwas niedriger als im Westen. Auch im Zeitverlauf sind die Zufriedenheitswerte rückläufig. Das liegt vor allem daran, dass der Anteil "sehr Unzufriedener" 2024 auf 17 Prozent im Osten gestiegen ist und auf 13 Prozent im Westen.
Die Unterschiede nach Parteipräferenz fallen noch klarer aus. Bei AfD-Anhängern liegen die Mittelwerte über die Jahre konstant im negativen Bereich. Das gilt für die Zufriedenheit mit der Demokratie noch etwas stärker als für die Frage, inwieweit Deutschland überhaupt eine Demokratie ist. Die Werte für Anhänger von Union, SPD und Grünen liegen im Vergleich dazu deutlich höher. Die 2024 erstmals befragten BSW-Anhänger liegen im Westen dazwischen, im Osten auf Unions- und SPD-Niveau.
Auch bei der Frage nach der Fairness demokratischer Wahlen und korrekter Stimmenauszählung gibt es Ost-West-Unterschiede. Bei der Fairness liegt die Zustimmung im Osten leicht hinter der im Westen zurück, bei der korrekten Stimmenauszählung etwas deutlicher. Bei AfD-Anhängern ist die Skepsis klar deutlicher ausgeprägt.
Demokratieverständnis intakt, aber Gruppen- und Lagerbildung
Die Studie sieht sowohl im Zeitverlauf wie auch im Ost-West-Vergleich keine gravierenden Erosionen, wenn nach der Wichtigkeit verschiedener Demokratiedimensionen gefragt wird, jedoch deutliche Unterschiede zwischen gesellschaftliche Teilgruppen.
Das gilt sowohl für soziodemografisch definierte Gruppen als auch für Parteilager. Vor allem junge Menschen mit formal niedriger Bildung unterscheiden sich an vielen Stellen systematisch von den anderen Gruppen. Ihr Bild der Demokratie ist an wichtigen Stellen anders, ebenso die persönliche Bedeutung, die sie der Demokratie beimessen. Auch ihre Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie und ihr Vertrauen in den Wahlprozess sind geringer.
Ebenso unterscheiden sich AfD-Anhänger "deutlich von den anderen Gruppen und die Unterschiede sind an vielen Stellen seit 2017 nochmals deutlich größer geworden". Sie rutschten häufig in negative Bereiche, in Ost- wie in Westdeutschland.
Mediennutzung ändert sich rasant
Zugleich sehen die Studienautoren "epochale Veränderungen" in der Mediennutzung. Klassische Medien gerieten durch neue Medien unter Druck. Das führe zu "weitreichenden Verschiebungen".
Da kommerzielle soziale Plattformen algorithmisch gesteuerte Inhalte nach den Präferenzen ihrer Nutzer und Aufregungspotenzial lieferten, erwarten die Forscher "Alters- und Bildungseffekte". Vorwürfe von "Lügenpresse" und "Fake News" stünden inzwischen ganz selbstverständlich im politischen Diskursraum. Vor allem populistische Akteure attackierten systematisch die Glaubwürdigkeit klassischer Medien.
In der Studie wurde nach der Mediennutzung zu politischen Themen und Informationen gefragt, zur Art der Medien und Häufigkeit. Unterteilt wurde nach Zeitung (inklusive E-Paper), Radio, TV (inklusive Mediatheken) sowie Online-Nachrichten/Blogs/Apps. Dabei bestätigte sich im Kern der Trend weg von Zeitungen, TV und Radio hin zu Online-Medien. Untersucht wurden auch hier Bildungs- und Generationen-Muster, Ost-West-Unterschiede sowie die Parteienpräferenz.
Soziale Medien sorgen für Fragmentierung
Der Zugang zu politischen Informationen wird demnach stark vom Alter und der Mediennutzung sowie von der politischen Bildung bestimmt. Bei Menschen über 30 Jahre gebe es weiterhin eine starke Fernsehnutzung – recht unabhängig vom Bildungsgrad. Eine gezielte starke politische Internetnutzung zeige sich eher bei Menschen mit formal hoher Bildung und das altersübergreifend.
Jedoch funktioniert den Autoren zufolge "die politische Mediennutzung in neuen digitalen Medien viel selektiver", so dass gerade politikferne Gruppen dort in weitaus geringerem Maße ausgewogen erreicht werden, als das bei den 'alten' Medien der Fall war. In den parteipolitischen Lagern beschreibt die Studie von 2017 bis 2024 "stark veränderte und aufgefächerte" Nutzungsmuster. AfD-Anhänger haben sich demnach insbesondere von Print- und TV-Inhalten abgewandt, im Osten etwas stärker als im Westen. Bei Radio- und Online-Inhalten seien die Unterschiede nicht so groß.
Die Studie sieht bei der Nutzung verschiedener Social-Media-Kanäle im Zeitraum 2017 bis 2024 eine hohe Dynamik. Dabei zeigen die CNEP-Daten eine Stagnation bei Facebook und Twitter/X seit 2017. Die Facebook-Nutzung liege stabil bei 50 bis 60 Prozent, bei Twitter/X konstant unter 10 Prozent. Dagegen verzeichneten andere Netzwerke starkes Wachstum: WhatsApp springt zwischen 2017 und 2024 von 50 auf 80 Prozent, Instagram von 10 auf 40 Prozent und YouTube von 40 auf 50 Prozent. TikTok wurde erst 2021 in die Befragung aufgenommen. Seitdem verdoppelten sich die Nutzungsanteile auf 20 Prozent.
Dabei verbergen sich hinter Mittelwerten für die Gesamtbevölkerung erhebliche Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Teilgruppen. So war 2017 von TikTok noch keine Rede, heute ist das Kurzvideo-Portal vor allem bei jungen Leuten das Hauptmedium auch für politische Informationen. Bei Facebook tummeln sich inzwischen vor allem ältere Nutzergruppen, während die jüngeren zu Instagram oder eben TikTok weitergezogen sind. Die Algorithmen der Plattformen verstärken diese Gruppenbildung und auch inhaltliche Polarisierung.
Daneben nutzen generationsübergreifend weite Teile der Bevölkerung den Messengerdienst WhatsApp. Dort und bei anderen Diensten wie Telegram bilden ebenfalls teils geschlossene Gruppen ohne echten politischen Meinungsaustausch.
Fazit der Studie: Mehr gefühlte Wahrheiten und Polarisierung
Neben dem sich schnell ändernden Mediennutzungsverhalten sehen die Studienautoren auch im ökonomische Kontext Veränderungen: Die mittlere Wahrnehmung zur wirtschaftlichen Lage ist seit 2017 von deutlich positiv in den deutlich negativen Bereich gefallen. Diese Bewertung hat sich entkoppelt von der Einschätzung der persönlichen Situation, die positiver ausfiel.
Das Ansehen der Parteien hat sich insgesamt verschlechtert, mit Ausnahme der AfD, während sich die thematischen Positionierungen der deutschen Wählerschaft nur punktuell verschoben, etwa im Bereich Migration oder Sozialstaat. Dem CNEP-Bericht zufolge deutet das auf veränderte Wahrnehmungen hin – in Folge veränderter Mediensysteme, aber auch durch den Wandel im Parteiensystem. Demnach "akzentuieren Parteien und politische Eliten die Unterschiede heute anders" und verstärken Polarisierungsmuster.
Dennoch finden grundlegende Aspekte der liberalen Demokratie weiter großen Zuspruch. Verschiebungen zeigen sich eher im Vergleich einzelner Gruppen. Vor allem junge Menschen mit formal niedriger Bildung entfremden sich demnach derzeit von unserer Demokratie.
Meinung: Einschätzungen vom Verfasser dieser Zusammenfassung
Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2025 scheinen einige Erkenntnisse der CNEP-Studie zu bestätigen. So wählten viele junge Wähler die in Teilen rechtsextreme AfD, das BSW oder aber die Linke. Diese Parteien profitierten offensichtlich vom Dauerstreit in der Ampel-Regierung, schlechter politischer Kommunikation und Fehlern in Migrations- und Integrationsfragen. Das führte zu Vertrauensverlust ins Parteiensystem und die oft komplizierten Entscheidungsprozesse.
Außerdem schaffte es vor allem die AfD, Sorgen um die wirtschaftliche Lage, Energiekosten, Bildung und Sozialsysteme sowie Fragen der inneren und äußeren Sicherheit auf die Themen Migration und die aus ihrer Sicht falsche Russland-Politik zu verengen. In Mitteldeutschland liegen die Zustimmungswerte für die AfD aktuell bei knapp 40 Prozent. Zusammen mit Linken und BSW ergibt das in vielen Regionen eine Mehrheit – im Bundestag eine Sperrminorität.
Bei der Abrechnung mit den anderen Parteien spielen viele Faktoren eine Rolle, wie diffuser Protest gegen das "Establishment" oder Abstiegsängste. Gerade im Osten sehen möglicherweise viele Menschen ihren seit der Wende erworbenen Wohlstand in Gefahr, der im Gegensatz zum Westen meist nicht mit Immobilien und Aktienpaketen abgesichert ist.
Das Geschäft mit der Angst und scheinbar einfachen Antworten funktioniert. Die Schwachen werden gegen die noch Schwächeren ausgespielt. Wenn dann noch äußere Krisen wie die Pandemie, Russlands Krieg gegen die Ukraine oder Inflation dazu kommen, Autokraten weltweit an Einfluss gewinnen, die EU und Bundesregierung zerstritten oder hilflos wirken und kein echter Diskurs um Lösungen zwischen politischen Lagern stattfindet, führt das zur Spaltung der Gesellschaft und gefährdet die Demokratie.
MDR AKTUELL (Andreas Sandig)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 02. März 2025 | 09:06 Uhr