MDRfragt Befragte finden Demos wirkungsvoller als Parteiarbeit
Hauptinhalt
30. Januar 2024, 16:03 Uhr
Seit Wochen gibt es Proteste: Landwirte riegeln Autobahnen ab, Apotheken und Arztpraxen schließen tageweise. Vielerorts demonstrieren Menschen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Ein aktuelles MDRfragt-Stimmungsbild unter fast 34.000 Befragten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ergibt: Demonstrationen sind wirkungsvoller als Parteiarbeit.
- Vor allem die Bauernproteste werden als politisch wirkungsvoll betrachtet, bei Demos gegen Rechtsextremismus und Protesten im medizinischen Bereich sehen weniger Befragte einen Effekt.
- Demonstrationen gelten insgesamt als eher wirkungsvolles Mittel. Nur direkte Demokratie wird als noch effektiver angesehen.
- In der MDRfragt-Gemeinschaft tendieren mehr Befragte dazu, dass Demonstrationen die Gesellschaft eher spalten – und weniger einen.
Mehr als die Hälfte hält Bauernproteste für wirkungsvoll
Geschlossene Arztpraxen, geschlossene Apotheken, Kolonnenfahrten von Landwirtschaft, Speditionen und Handwerk, aber auch Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus, Frieden oder mehr Klimaschutz: Derzeit gibt es viele Proteste und viele Protestformen, mit denen verschiedene Gruppen ihrem Unmut Luft machen oder ein Zeichen setzen wollen.
Doch welche Proteste werden politisch gehört und beeinflussen Entscheidungen? Aus Sicht der MDRfragt-Gemeinschaft sind vor allem die Bauernproteste wirkungsvoll: Mehr als die Hälfte der Befragten (55 Prozent) hält die deutschlandweite Aktionswoche der Bauern zu Jahresbeginn für effektiv. Der Befragungszeitraum fiel zeitlich mit dem ersten Wochenende zusammen, an dem bundesweit große Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus organisiert wurden. Jede und jeder vierte Befragte hält diese Versammlungen für effektiv.
Ein ungefähr gleich großer Anteil (23 Prozent) meint, die Proteste mit geschlossenen Apotheken und Arztpraxen seien wirkungsvoll. Für jeweils rund ein Zehntel der Befragten haben Friedensdemonstrationen (13 Prozent) und Demos für mehr Klimaschutz (10 Prozent) einen Einfluss auf die Politik gehabt.
Die Teilnehmenden konnten mehrere Anliegen auswählen, bei denen die Proteste aus ihrer Sicht politisches Gehör gefunden haben. Gleichzeitig gilt: Fast ein Drittel der Befragten (28 Prozent) meint, dass keines der Demo-Anliegen politische Entscheidungen beeinflusst hat.
MDRfragt-Mitglieder zu Gast bei "FAKT IST!"
Das aktuelle Protestgeschehen war auch Thema in der Sendung FAKT IST! aus Erfurt. Dabei meldete sich unter anderem MDRfragt-Mitglied Petra Hofmann aus Bad Salzungen zu Wort und berichtete, wieso sie sich einst mit ihrem Job beim Sozialen Dienst entschloss, bei Demos gegen die Corona-Politik mitzulaufen und sich jetzt entschied, als Parteilose für die Kommunalwahl anzutreten. MDRfragt-Mitglied Robert aus Erfurt erzählte, dass er nach längerer Zeit mal wieder auf die Straße gegangen ist - gegen Rechtsextremismus - und erfreut war, wie viele verschiedene Gruppen sich diesen Protesten angeschlossen haben.
Die gesamte Sendung gibt es hier zum Nachschauen:
Argument: Demos rütteln auf, sich einzubringen
Doch woran machen MDRfragt-Mitglieder fest, ob Demonstrationen und Proteste wirkungsvoll sind? Manche sehen einen ganz grundsätzlichen Effekt, so wie Steffi (63) aus Leipzig: "Sie rütteln andere auf, sich auch aktiv einzumischen", meint sie. Für Steve (34) aus dem Landkreis Görlitz sind die Proteste auch ein Anlass, damit jede und jeder Einzelne seine Sicht auf die Forderungen und Anliegen überdenkt: "Demos gehören als Mittel der politischen Auseinandersetzung dazu und helfen, sich zu Problemlagen eine Meinung zu bilden, da durch Demo-Forderungen mehr Sichtweisen abgebildet werden. Viele Demos führen dazu, dass ich selbst reflektiere."
Hohe Teilnahmezahlen nicht automatisch wirkungsvoll
Andere begründen, warum sie gerade die Protestwoche von Landwirtschaft, Speditionen und Handwerk für effektiv halten: "Bei den Protesten der Bauern, Apotheker et cetera gibt es einen klaren Adressaten, nämlich: Regierung, mach dies oder lass das", beschreibt etwa Thomas (52) aus Erfurt, warum er diese Proteste für wirkungsvoll hält. "Aber die Demos gegen rechts sind ziemlich folgenlos. Ja, es gehen viele Menschen demonstrieren. Aber die (potenziellen) AfD-Wähler werden deshalb nicht aufhören, AfD zu wählen, die werden in ihren Vorurteilen eher bestärkt."
Und Sophie (28) aus Halle meint auch, dass die Anzahl der Demonstrierenden allein nicht bestimmt, wie viel Einfluss Proteste auf politische Entscheidungen haben: "Ich hoffe natürlich, dass auch Demos gegen Rechtsextremismus und für mehr Klimaschutz etwas bewirken können, aber bin da eher pessimistisch gestimmt. Obwohl zahlenmäßig wesentlich kleiner, glaube ich, dass die Bauernproteste sehr viel Gehör in der Politik finden."
Zu denjenigen, die nicht an den politischen Erfolg von Protestaktionen glauben, gehört Maik (56) aus dem Landkreis Harz. Er schreibt: "Ich halte von den ganzen Demonstrationen nicht viel. Sicherlich ist es ein demokratisches Mittel der Meinungsfreiheit, aber sie haben doch wenig bis gar keinen Einfluss auf politische Entscheidungen." Ähnlich sieht es Erik (35) aus Dresden und hält die mangelnde politische Resonanz für folgenschwer: "Leider hat man den Eindruck, dass sich die Politiker nicht davon beeindrucken lassen. Das ist respektlos und gefährlich. Genau das führt zu Vertrauensverlust."
Für andere, wie Bianca (39) aus dem Landkreis Nordhausen, hat die Vielzahl der Proteste negative Auswirkungen auf politische Entscheidungen: "Jeder will zu Recht gehört werden, aber man weiß nicht mehr, welches Problem man zuerst lösen soll", beschreibt sie ihre Beobachtungen und ergänzt: "Langfristige Lösungen werden nicht mehr akzeptiert. Das führt zu überhasteten Entscheidungen. Man ist so ungeduldig. Jeder hat Angst, zu kurz zu kommen."
Demos gelten insgesamt eher als wirkungsvolles Instrument
Doch auch wenn das Meinungsbild in der MDRfragt-Gemeinschaft auseinandergeht, ob und wie mächtig Demos und Proteste sind, um die politische Diskussion zu beeinflussen: Im Vergleich verschiedener Mitwirkungsmöglichkeiten halten die Befragten kaum eine Beteiligungsform für effektiver.
Zwei Fünftel gaben an, dass sie Demonstrationen für ein wirkungsvolles Mittel halten, um sich politisch einzubringen. Ein ebenso großer Anteil hält Petitionen und Unterschriftensammlungen für geeignet. Zum Vergleich: In der Mitarbeit in einer Partei sehen nur halb so viele Befragte, nämlich knapp ein Fünftel, ein wirkungsvolles Instrument, um sich politisch einzubringen. Ganz vorn liegt hingegen die direkte Demokratie, also beispielsweise Bürgerentscheide, Volksentscheide oder auch Bürgerräte.
Zur Einordnung der Ergebnisse
Bei MDRfragt können sich alle anmelden und beteiligen, die mindestens 16 Jahre alt sind und in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen wohnen. Denn wir wollen die Vielfalt der Argumente kennenlernen und abbilden. Die Kommentare der Befragten erlauben, die Argumente für die jeweiligen Positionen sichtbar zu machen.
Da sich jede und jeder beteiligen kann, der möchte, sind die Ergebnisse von MDRfragt nicht repräsentativ.
Sie werden aber nach wissenschaftlichen Kriterien anhand verschiedener soziodemographischer Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad gewichtet, um sie an die tatsächliche Verteilung in der mitteldeutschen Bevölkerung anzupassen. Damit wird die Aussagekraft der Ergebnisse erhöht und es ergibt ein durchaus belastbares Stimmungsbild aus Mitteldeutschland.
MDRfragt wird zudem wissenschaftlich beraten und begleitet.
Warum sich Menschen mehr direkte Demokratie wünschen
Für mehr direkte demokratische Einflussmöglichkeiten ist zum Beispiel Enrico (50) aus dem Landkreis Bautzen: "Alle vier bis sechs Jahre ein Kreuz zu machen, ist mir zu wenig Mitbestimmung", sagt er mit Blick darauf, dass vor allem Wahlen einen direkten Einfluss auf politische Mehrheiten und Entscheidungen in Parlamenten und Regierungen haben. Ähnlich sieht es Isolde (69) aus dem Salzlandkreis: "Als Bürgerin habe ich eigentlich nur mit der Wahl die Möglichkeit, mich einzubringen. Ansonsten wird von den Parteien und gewählten Vertretern kaum Kontakt gesucht." Die beiden stehen exemplarisch für viele MDRfragt-Mitglieder, die sich mehr politische Teilhabe abseits von Wahlen wünschen.
Für Anne (40) aus Leipzig sind vor allem Bürgerräte, die zu bestimmten Themen gemeinsam Lösungsvorschläge erarbeiten, das Mittel der Wahl: "Zufällig und repräsentativ zusammengesetzte, moderierte Bürgerräte halte ich für sehr sinnvoll. Die Teilnahme sollte wie das Schöffenamt bei Gericht gehandhabt werden, mit dem Unterschied, dass man sich nicht bewerben muss."
Karina (43) aus Nordsachsen schreibt, sie engagiere sich seit zwei Jahrzehnten als Wahlhelferin und stelle fest, dass die Wahlbeteiligung abnehme. "Wenn es mehr Bürgerentscheide und ähnliches gäbe, würden mehr Menschen zur Wahlurne kommen", verweist sie auf einen Vorteil direkt-demokratischer Verfahren. Gleichzeitig warnt sie vor dem damit verbundenen Aufwand: "Es sind enorme Kosten und das Personal für die Durchführung ist auch nicht da."
Was an direkter Demokratie skeptisch gesehen wird
Ein Drittel der Befragten hat "direkte Demokratie" nicht als effektives Instrument ausgewählt, um die Entscheidungsfindung in Kreis-, Land- und Bundestag zu ergänzen. So hält beispielsweise Fabian (46) aus dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld direkte Demokratie nicht prinzipiell für eine gute Idee: "Ich befürworte direkte Demokratie an den Stellen, wo Menschen nicht fehlinformiert, sondern mit den korrekten (wissenschaftlich fundierten) Informationen in die Lage versetzt werden, verantwortlich zu entscheiden."
Leonhard (26) aus dem Landkreis Leipzig ist für mehr Bürgerräte und gegen Volksabstimmungen: "Volksentscheide im Sinne einer einfachen 'Ja'/'Nein'-Stimme mag ich nicht so sehr. Hier kann der Populismus wieder einziehen, die Fragen zugespitzt formuliert und hetzerisch, einseitig informiert werden. Diese Entscheidungsmöglichkeiten finde ich zu fehleranfällig." Das Argument, dass direkte Abstimmungen wegen Fehlinformation, Kampagnen oder emotionaler Aufladung nicht zu den besten Ergebnissen führen, haben viele Skeptikerinnen und Skeptiker genannt.
Etwas mehr Befragte halten Demos eher für spaltend
Apropos emotional: Wir wollten wissen, ob die MDRfragt-Mitglieder das Gefühl haben, Demonstrationen wirkten eher einend auf die Gesellschaft - oder doch eher spaltend.
Dabei ist der Anteil derjenigen, die eher einen spaltenden Charakter von Demos und Protesten sehen, etwas höher. Gut zwei Fünftel sehen das so. Gleichzeitig meint ein Drittel: Die Proteste wirken einend oder eher einend.
Was als einend und als spaltend gesehen wird
Das geteilte Stimmungsbild zur Frage, wie die Proteste auf die Gesellschft wirken, zeigt sich auch in den Kommentaren, in denen viele MDRfragt-Mitglieder differenzieren: "Die Bauernproteste und die aktuellen Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus finde ich angemessen, weil es um handfeste Probleme geht", schreibt etwa Karsten (54) aus dem Landkreis Bautzen, und ergänzt: "Demonstrationen der 'Freien Sachsen' oder Pegida sind radikal, weil sie einen spaltenden und ausgrenzenden Charakter besitzen."
Für Michaela (48) aus dem Landkreis Börde treffen beide Tendenzen gleichzeitig zu: "Es spaltet, wenn Menschen sich positionieren zu anderen, mit der entgegengesetzten Einstellung. Es eint im Rahmen der besuchten Demonstrationen und gibt das Gefühl, nicht allein zu sein." Ähnlich sieht das auch Thomas (45) aus dem Saale-Holzland-Kreis: "Es kommt auf die Proteste an. Bauernproteste, Gesundheitswesen und Demos gegen Rechtsextremismus finde ich angemessen. Die 'Letzte Generation' ist mir zu radikal, obwohl beim Klimaschutz einiges passieren muss und zwar jetzt."
Andere sehen prinzipiell spaltende Tendenzen: "Eher spaltend, weil zu wenig Überzeugungsarbeit mit Verstand und Weitsicht gemacht wird", meint Reinhard (75) aus dem Landkreis Nordhausen. Und immer wieder kommt das Argument, dass es darauf ankommt, wie protestiert und den eigenen Forderungen und Anliegen Luft gemacht wird: "Proteste müssen friedlich bleiben. Und man muss auch der Gegenseite zuhören können und ihre Argumente, solange sie friedlich und für die große Mehrheit sinnvoll sind, überdenken", meint Alfred (72) aus dem Saalekreis und fügt hinzu: "Beschimpfungen und sich nicht ausreden lassen, steigern nur die Wut und Gewaltbereitschaft." Für Andrea (59) aus Magdeburg gilt: "Aufmerksamkeit erzeugen, Zusammenhalt zeigen, keine Duldung von Rassismus und Antisemitismus. Die Gesellschaft rückt dadurch wieder näher zusammen."
Gesellschaftlicher Zusammenhalt könnte besser sein
Anja (50) aus Dessau-Roßlau gehört hingegen zu jenen, die Demonstrationen nicht für die Ursache hält, wenn es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt geht: "Die Gesellschaft spaltet sich auch ohne Demos."
Tatsächlich zeigt das aktuelle Stimmungsbild aus der MDRfragt-Gemeinschaft auch, dass viele den gesellschaftlichen Zusammenhalt bröckeln sehen. Ein Großteil (78 Prozent) meint, es sei schlecht oder eher schlecht um das gesellschaftliche Miteinander bestellt. Knapp ein Fünftel (19 Prozent) sieht es hingegen eher positiv. Eine von vielen besorgten MDRfragt-Mitgliedern ist Anja (37) aus dem Landkreis Sömmerda: "Ich habe das Gefühl, die Gesellschaft klafft immer mehr auseinander und spaltet sich in Extreme, die sich gegenseitig nicht mehr zuhören."
Dabei zeigt sich: Je jünger die Befragten sind, desto eher sehen sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt als tendenziell gut an.
Wie immer gibt es alle Ergebnisse des MDRfragt-Meinungsbarometers zum Herunterladen und Nachlesen:
Über diese Befragung
Die Befragung vom 19. bis 23. Januar 2024 stand unter der Überschrift:
Demos und Proteste - Was machen sie mit unserer Gesellschaft?
Insgesamt sind bei MDRfragt 67.471 Menschen aus Mitteldeutschland angemeldet
(Stand 23.01.2024, 13 Uhr).
33.677 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben online an dieser Befragung teilgenommen.
Verteilung nach Altersgruppen:
16 bis 29 Jahre: 435 Teilnehmende
30 bis 49 Jahre: 5.044 Teilnehmende
50 bis 64 Jahre: 14.018 Teilnehmende
65+: 14.181 Teilnehmende
Verteilung nach Bundesländern:
Sachsen: 17.500 (52 Prozent)
Sachsen-Anhalt: 8.026 (23,8 Prozent)
Thüringen: 8.152 (24,2 Prozent)
Verteilung nach Geschlecht:
Weiblich: 14.595 (43,3 Prozent)
Männlich: 18.987 (56,4 Prozent)
Divers: 96 (0,3 Prozent)
Die Ergebnisse der Befragung sind nicht repräsentativ. Wir haben sie allerdings in Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Beirat nach den statistischen Merkmalen Bildung, Geschlecht und Alter gewichtet. Das heißt, dass wir die Daten der an der Befragung beteiligten MDRfragt-Mitglieder mit den Daten der mitteldeutschen Bevölkerung abgeglichen haben.
Aufgrund von Rundungen kann es vorkommen, dass die Prozentwerte bei einzelnen Fragen zusammengerechnet nicht exakt 100 ergeben.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | FAKT IST! aus Erfurt | 29. Januar 2024 | 22:10 Uhr