Wahlrechtsreform Wahlforscher Faas verteidigt Fünf-Prozent-Klausel
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07. Februar 2025, 17:09 Uhr
Das Bundesverfassungsgericht hat die Wahlreform zum Bundestag im Kern bestätigt, fordert jedoch Korrekturen bei der Fünf-Prozent-Sperrklausel. Wie fair ist die Hürde, wenn dadurch Millionen Wählerstimmen verfallen. Der Wahlforscher Thorsten Faas erklärt die Abwägungen. Eine neue Studie belegt auch psychologische Effekte: Parteien, die in Umfragen kurz vor der Wahl unter fünf Prozent liegen, haben schlechte Karten.
- Grundlegende Reform des Wahlrechts soll Sitzzahl im Bundestag beschränken.
- Der Sonderfall CSU führt zur Verlängerung der Grundmandatsklausel.
- Forscher Faas: Wahlsysteme sind Frage der Abwägung
- Die Prozentklausel hat wichtige Funktionen.
- Faas: Direktmandate mit 20 Prozent sind fragwürdig.
- Studie: Fünf-Prozent-Hürde beeinflusst das Wählerverhalten.
- Forscher Lembcke: 5 Prozent sind angemessen.
Laut Wahlumfragen könnte es bei der Bundestagswahl am 23. Februar für drei Parteien knapp werden: FDP, Linke und BSW drohen an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Und genau genommen könnte es auch die bayerische CSU treffen, die bei der letzten Bundestagswahl 2021 auf 5,2 Prozent Stimmenanteil kam.
Doch die CSU ist ein Sonderfall, weil sie eine spezielle Fraktionsgemeinschaft mit der CDU bildet. Dazu kommen weitere Ausnahmen im aktuellen Bundestag: Die Linke verpasste vor vier Jahren ebenfalls die Fünf-Prozent-Marke, schaffte es aber über die Grundmandatsklausel dank dreier Direktmandate in den Bundestag. Der SSW, die Partei der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, ist von der Prozentklausel befreit und stellt derzeit einen fraktionslosen Abgeordneten.
Grundlegende Reform nötig, um aufgeblähten Bundestag zu schrumpfen
Der Deutsche Bundestag ist durch seine komplizierte Regelung mit Überhang- und Ausgleichsmandaten sowie die Grundmandatsklausel auf aktuell 736 Sitze angewachsen. Zielgröße waren einst 598 Sitze, die sich aus dem Zweitstimmenergebnis der Parteien sowie den stärksten Direktkandidaten in den 299 Wahlkreisen ergeben.
Hauptziel der Wahlrechtsreform durch die Ampel-Koalition ist eine Verkleinerung des Bundestags auf 630 Sitze. Im Kern soll gemäß Verhältniswahlrecht das Zweitstimmenergebnis gestärkt werden. Direktmandate zählen nur, wenn sie durch Zweitstimmen gedeckt werden. Holt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr laut Zweitstimmen zustehen, gehen die Sieger mit den schlechtesten Wahlergebnissen leer aus. Überhang- und Ausgleichsmandate fallen weg.
Außerdem sollte die Grundmandatsklausel abgeschafft werden, laut der drei Direktmandate für eine Partei die Fünf-Prozent-Hürde aushebeln. Linke, Unionsfraktion und ein Bürgerverein zogen dagegen vor das Bundesverfassungsgericht und bekamen zumindest teilweise Recht.
Faas: Sonderfall CSU führte zur Übergangsregelung für Direktmandatsklausel
Thorsten Faas, Professor für Politische Soziologie an der FU Berlin, bewertet das Karlsruher Urteil dennoch eher als Bestätigung der Wahlrechtsreform: "Die Fünf-Prozent-Klausel und die Zweitstimmendeckung sind verfassungskonform." Auch die Abschaffung der Grundmandatsklausel ist demnach "vorstellbar, nur muss eine Lösung für Parteien wie die CSU gefunden werden, damit deren Repräsentation im Bundestag gesichert ist". Faas sagte MDR AKTUELL, solange das nicht der Fall sei, bleibe es bei der Grundmandatsklausel, als "Lebensversicherung für die CSU".
Urteil des BVerfG zur Sperrklausel und dem Sonderfall CSU 2 BvF 1/23
- "Die Sperrklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist in ihrer geltenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Durch sie werden Parteien, die nach ihrem Zweitstimmenergebnis rechnerisch Bundestagssitze erhalten könnten, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt, wenn sie im Bundesgebiet weniger als 5 % der gültigen Zweitstimmen erreicht haben. Dies ist eine Ungleichbehandlung gegenüber Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren Zweitstimmenergebnis.
- Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht kann die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments einen legitimen Rechtfertigungsgrund darstellen. (...) Die Sperrklausel ist geeignet, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Mit einer Sperrklausel verhindert das Wahlrecht eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen und sichert damit die Funktions- und Arbeitsbedingungen des Bundestages. (...) Die Höhe der Sperrklausel von 5 % der bundesweiten gültigen Zweitstimmen ist für diesen Zweck sachgerecht.
- Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist die Ausgestaltung der Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG jedoch nicht in vollem Umfang erforderlich. Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages ist es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden.
- Tatsächlich besteht die Möglichkeit, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl mangels Überschreitens der bundesweiten 5 %-Sperrklausel bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird. Im Fall ihrer Berücksichtigung würden ihre Abgeordneten jedoch hinreichend sicher eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten der CDU bilden. Grundlage hierfür ist eine auf Dauer angelegte Kooperation der beiden Parteien.
- CDU und CSU machen seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Wahlkampf deutlich, dass sie gleichgerichtete Ziele verfolgen und eine gemeinsame Fraktion bilden wollen. (...) Seit 1976 stellen beide Parteien ausdrücklich ein gemeinsames Wahlprogramm für Bundestagswahlen auf. (...) Während die CSU nur in Bayern zur Wahl antritt, verzichtet die CDU dort auf eine Vertretung.
- Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die in dieser Form kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden. (...) Damit geht sie über ein reines Wahlbündnis hinaus, das lediglich erreichen will, dass beide Parteien im Parlament vertreten sind. Auch bezieht sie sich im Unterschied zu einer Koalitionsaussage nicht lediglich auf eine Zusammenarbeit im Fall der Regierungsübernahme, sondern gilt auch für den Fall der Opposition.
- Die Verfassungsbeschwerden sind – soweit sie zulässig sind – begründet. (...)
- Der Organklageantrag der CSU ist begründet. Der Beschluss des Bundestages am 17. März 2023 (...) verletzt sie in ihrem Recht auf Chancengleichheit. Die Bedingungen, unter denen die Sperrklausel über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments Erforderliche hinausgeht, treffen auf sie zu.
- Der Organklageantrag der Partei DIE LINKE ist unbegründet. Sie wird durch den festgestellten Verfassungsverstoß nicht in ihren eigenen Rechten verletzt. Ihre Abgeordneten bilden keine gemeinsame Fraktion mit denen einer anderen Partei."
Wahlsysteme sind eine Frage der Abwägung
Faas zufolge bilden Wahlsysteme immer Zielkonflikte ab, die manchen Parteien mehr nutzen als anderen. Im konkreten Fall sei es die Abwägung zwischen "möglichst punktgenauer Repräsentation der Zweitstimmen und Erststimmen in Wahlkreisen, aber auch das Verhindern eines extrem großen Bundestages".
Die Fünf-Prozent-Sperrklausel hat laut Faas dabei eine wichtige Funktion: "Sie soll Zersplitterungen verhindern und damit Regierungsbildungen ermöglichen und vereinfachen." Das habe Karlsruhe mit seinem Urteil grundsätzlich bestätigt.
Faas: Prozent-Hürde ist wichtiger denn je
Faas räumt ein, dass das Scheitern kleiner Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde zur Abschwächung eines perfekten Repräsentationsprinzips führe. Zudem habe die Sperrklausel nicht nur eine mathematische Wirkung, sondern beeinflusse auch psychologisch das Wahlverhalten. Seine Stimme Parteien zu geben, die an der Hürde zu scheitern drohten, bedeute, sie potenziell zu verschwenden. Darunter litten durchaus die kleinen Parteien.
Dennoch erscheine ihm die Sperrklausel nötiger denn je, erläutert Faas, weil Regierungsbildungen ohne Prozenthürde noch schwieriger würden. Manch einer schaue ja schon neidvoll auf die Situation etwa in Großbritannien, wo das Mehrheitswahlsystem viel deutlicher in diese Richtung wirke.
Direktmandate teils mit nur 20 Prozent der Stimmen sind fragwürdig
Die Grundmandatsklausel bei der Bundestagswahl sieht Faas dagegen eher skeptisch. Die Idee dahinter sei: Wenn eine Partei in mindestens drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen hole, so deute das auf einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung hin.
Dem hält Faas entgegen, dass Direktkandidaten heutzutage teils nur noch mit 20 Prozent Stimmenanteil ihren Wahlkreis gewinnen können. Davon habe zuletzt etwa die Linke mit drei Direktmandaten profitiert. Aus Sicht von Faas "stellt das die Logik der Grundmandatsklausel schon ein Stück weit in Frage". Das Gericht habe dennoch entschieden, dass sie bleibe, bis eine bessere Lösung insbesondere für die CSU gefunden sei.
Studie: Fünf-Prozent-Hürde beeinflusst Wahlverhalten
Den von Faas angesprochenen psychologischen Effekt der Fünf-Prozent-Hürde belegt eine Studie der Universitäten in Potsdam und Wien. Demnach haben Parteien, wenn sie in Umfragen kurz vor der Wahl oberhalb der Marke liegen, im Schnitt eine Chance von 75 Prozent, ins Parlament einzuziehen. Liegen sie hingegen knapp darunter, sinke die Wahrscheinlichkeit auf nur noch 25 Prozent.
Studienautor Werner Krause sagte MDR AKTUELL, das liege vor allem an der Sorge der Wählerinnen und Wähler, möglicherweise ihre Stimme zu verschwenden. Für die Studie wurden Hunderte Umfrage- und Wahlergebnisse aus 19 Ländern ausgewertet.
Forscher Lembcke: Fünf-Prozent-Hürde ist angemessen
Der Politikwissenschaftler Oliver Lembcke hält die Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl für zeitgemäß. Der Dozent an der Ruhr-Universität Bochum sagte MDR AKTUELL, die Klausel ermögliche es neuen Parteien trotzdem, ins Parlament einzuziehen und ein eigenes Gewicht zu entwickeln – wie das jüngste Beispiel BSW zeige. Lemke zufolge stärkt diese Durchlässigkeit die Debattenkultur und kann etwa auch zu lagerübergreifenden Mehrheiten führen.
Auch wenn bei Wahlen die Stimmen für sonstige Parteien unterhalb fünf Prozent quasi unter den Tisch fallen, hält Lembcke die Hürde für angemessen. Sie gewährleiste stabile Mehrheiten und die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Allerdings seien die fünf Prozent auch nicht in Stein gemeißelt, wie die Europawahl zeige. Dort gibt es keine feste Sperrklausel, doch es ist eine geplant.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 07. Februar 2025 | 12:20 Uhr