Apathetisches Teenager-Mädchen, das auf dem Bett sitzt und die Knie umarmt, mit dem Gefühl von Prokrastination, Depression und Einsamkeit
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Soziales Entschädigungsgesetz Opferschutz: Was steht Opfern nach Gewalt, Vergewaltigung oder Impfschäden zu?

22. März 2025, 05:00 Uhr

Wer in Deutschland Opfer von Gewalt oder Zeuge einer Gewalttat wurde, kann eine Entschädigung beantragen. Die kann Therapie, Krankengeld und Sterbegeld beinhalten. Aber kommen Betroffene unkompliziert an das, was ihnen zusteht? Und wie lange dauert es, bis über einen Antrag entschieden wird?

In diesem Artikel geht es unter anderem um sexualisierte Gewalt. Sind Sie oder eine Person aus Ihrem Bekanntenkreis von Gewalt betroffen? Eine Liste mit Hilfsangeboten finden Sie hier.

Entschädigung nach Gewalt: Wer ist berechtigt?

Wer in Deutschland Opfer von Gewalt wurde, zum Beispiel geschlagen oder vergewaltigt wurde – oder Zeuge einer Gewalttat wurde – kann eine Entschädigung beantragen. Auch Impfschäden können hier geltend gemacht werden. Geregelt wird dieses Recht mit dem Sozialen Entschädigungsgesetz im 14. Strafgesetzbuch. Dieses Gesetz hat das sogenannte Opferentschädigungsgesetz seit gut einem Jahr abgelöst.

"Der Staat konnte die Gewalttat, die Betroffenen angetan wurde, nicht verhindern. Das ist der Grund, warum der Staat hierfür entschädigt", fasst Kerstin Claus zusammen. Das sei sehr wichtig, denn für Betroffene bringe das die Möglichkeit, die eigene Biografie wieder ein Stück weit mehr in die Hand zu nehmen. Claus ist seit drei Jahren die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung.

Soziale Entschädigung Beantragen kann man Soziale Entschädigung formlos oder mit den jeweiligen Formularen der Bundesländer, die für die Prüfung und das Auszahlen von Leistungen zuständig sind. Auch Gewalttaten, die im Ausland stattfanden, können geltend gemacht werden.

Die wichtigste Änderung im Sozialen Entschädigungsgesetz gegenüber dem alten Opferentschädigungsgesetz ist die Erweiterung des Gewaltbegriffs um psychische Gewalttaten. Auch Stalking-Opfer können nun Entschädigung beantragen. Grundvoraussetzung, um entschädigt zu werden, ist, dass die gesundheitlichen Folgen und ein ursächlicher Zusammenhang zur Gewalttat nachgewiesen werden müssen.

Thüringen: Bearbeitungszeit bis zu 20 Monaten

MDR-Anfragen an alle drei zuständigen Stellen in Mitteldeutschland zeigen wie unterschiedlich die Erhebungen zur Sozialen Entschädigung sind. Während der Kommunalverband in Sachsen und das Ministerium für Soziales in Sachsen-Anhalt keine durchschnittliche Bearbeitungszeit angeben können, gibt das Thüringer Landesverwaltungsamt eine ungefähre Dauer von 18-20 Monaten im vergangenen Jahr an.

Alle drei Stellen betonen, dass die Bearbeitungsdauer vom Einzelfall abhängig ist. "Verschiedenste Behörden und Institutionen werden in die Ermittlung einbezogen", heißt es aus Thüringen. Dazu würden Polizei, Staatsanwaltschaften, Landkreise, Krankenhäuser, Hausärzte und Krankenkassen zählen. Der Grad der Schädigungsfolgen sei ausschlaggebend für die Höhe der monatlichen Entschädigungszahlung.

In Thüringen wurden im Jahr 2024 233 Anträge zur Sozialen Entschädigung gestellt, es gab 27 Bewilligungen. In Sachsen-Anhalt schreibt das Sozialministerium: "Die jährlichen Antragszahlen sind schwankend. Durchschnittlich werden rund 46 Prozent der Anträge positiv beschieden. Im Jahr 2024 gab es 245 Gewaltopfer-Neuanträge." In Sachsen verweist man auf die Erhebungen der Opferhilfe-Organisation "Der Weiße Ring". 2022 wurden demzufolge 479 Anträge in Sachsen gestellt, 72 wurden bewilligt.

Sachsen-Anhalt: Personal nach Anschlag in Magdeburg wird aufgestockt

"Der Weiße Ring" setzt sich seit vielen Jahren intensiv mit Opferentschädigung auseinander, fragt bundesweit Zahlen ab und informiert online zu dem Thema. In einer Reportage schreibt der Verein, der sich für die Rechte von Kriminalitätsopfern einsetzt: "Es gibt ein Problem: Die versprochene Hilfe kommt bei den Gewaltopfern nicht an." Nach Recherchen des Vereins wurden bundesweit lediglich 23,4 Prozent der gestellten Anträge bewilligt.

In einer Vielzahl der Fälle wüssten die Opfer nicht, welche Hilfen ihnen zustünden. "Für Menschen, die Opfer einer Straftat geworden sind, bedeutet die Antragstellung oftmals eine große Hürde und Herausforderung. Opfer befinden sich in einer Ausnahmesituation, sind oftmals traumatisiert und manchmal auch verunsichert", schreibt der Weiße Ring in Sachsen-Anhalt auf MDR-Anfrage.

Hunderte Kerzen, Blumen und Plüschtiere finden sich vor der Johanniskirche für die Opfer eines Anschlags.
Der Anschlag in Magdeburg führt dazu, dass Personal für die Soziale Entschädigung in Sachsen-Anhalt aufgestockt wird. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Peter Gercke

In Sachsen-Anhalt werden die Ressourcen für Opferhilfe derzeit verstärkt. Aus einem traurigen Grund: "Nach dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt sind die personellen Ressourcen herausfordernd", gibt das Ministerium schriftlich an. Deshalb werde das Personal zeitweise aufgestockt. Eine erste Verstärkung des Fallmanagements, also der Beratung und Betreuung, sei bereits auf dem Weg.

Sachsen: Fallmanagement und Traumaambulanzen als Sofort-Hilfe

Wer etwas Traumatisches, Gewaltvolles erlebt hat, kann sich in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen für eine Notfall-Behandlung an die Traumaambulanzen wenden. Ursula Hämmerer ist Oberärztin der Akutpsychiatrie in Chemnitz – und so etwas wie die Ein-Personen-Traumaambulanz am Klinikum Chemnitz. Das hat sich seit dem letzten Interview mit ihr vor gut einem halben Jahr nicht verändert. Sie arbeitet alleine, ein Anrufbeantworter ist während der Therapiezeiten eingeschaltet, den sie jeden Tag abhört.

Es ist erschütternd, wie viele Opfer sexualisierter Gewalt es gibt.

Über die Hälfte der Menschen, die sich in der Traumaambulanz in Chemnitz melden, seien von sexualisierter Gewalt betroffen. Ursula Hämmerer sagt: "Es ist erschütternd, wie viele Opfer es gibt." Eigentlich habe sie für Traumatherapie gar keine Zeit. Aber: "Ich mache es, weil es mich unfassbar wütend macht, dass Opfer sexualisierter Gewalt sonst das ganze restliche Leben mit den Folgen zu kämpfen haben", sagt sie.

Anklage des Täters nicht verpflichtend

Betroffene erhalten bis zu 15 Sitzungen in der Traumaambulanz, Kinder und Jugendliche bis zu 18 Sitzungen. Die Sitzungen werden ebenfalls über das Gesetz zur Sozialen Entschädigung abgerechnet. Der Kommunale Sozialverband in Sachsen schreibt dazu auf Anfrage: "Bei den schnellen Hilfen, die niedrigschwellig greifen sollen, werden in der Regel Leistungen unabhängig davon erbracht, ob eine Strafanzeige gegen den Täter gestellt wurde."

Anders kann das, muss aber nicht, bei anderen Leistungen der Sozialen Entschädigung sein. "Nach dem SGB XIV können [Leistungen] versagt werden, wenn die betroffene Person es unterlassen hat, das ihr Mögliche und Zumutbare zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Verfolgung der Täterin oder des Täters beizutragen."

Sexualisierte Gewalt Sexualisierte Gewalt ist ein massiver Eingriff in die Intimsphäre einer anderen Person gegen ihren Willen. Sie wird oft als Mittel zur Demütigung und Machtdemonstration angewandt. Bundesweit kommt es jährlich zu etwa 12.000 bis 13.000 Anzeigen wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung – hinzu kommt die Dunkelziffer nicht angezeigter Taten.

Realitätscheck: Kommen Opfer zu ihrem Recht?

Bei Kindern und Jugendlichen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind, komme von diesem staatlichen Leistungssystem nur marginal wenig – "fast gar nichts" – an, sagt Kerstin Claus. "Denn wir befinden uns häufig in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, wo es keine Beweise gibt oder sich die Gewalttaten über Monate und Jahre vollziehen, ohne dass jemand etwas mitbekommt oder sich die Kinder jemandem anvertrauen können." Dementsprechend schwierig sei es für Betroffene, die Tat später nachzuweisen.

Der Staat kommt seiner Verpflichtung zur Opferentschädigung viel zu oft nicht nach.

Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs

Dass Menschen über viele Jahre – manchmal sieben, acht, neun Jahre in Dauerschleife – in einer Auseinandersetzung, einer Prüfung oder in einem Gerichtsverfahren sind, um ihren Anspruch geltend zu machen, der am Ende häufig nicht anerkannt wird, sei für Betroffene verheerend. "Letztlich kommt der Staat seiner Verpflichtung zur Opferentschädigung viel zu oft schlicht nicht nach", sagt Claus.

Was die Beauftragte der Bundesregierung darüber hinaus schockiert, ist, dass der "Fonds Sexueller Missbrauch" vor dem Aus steht. Der Fonds leistet nach einer Plausibilitätsprüfung niedrigschwellig Hilfe in Form von Sachleistungen bis zu 10.000 Euro und für Menschen mit Behinderung bis zu 15.000 Euro. Ohne vorherige Ankündigung wurde eine neue Richtlinie veröffentlicht, dass Erstanträge nur noch bis zum 31. August 2025 gestellt werden können und Auszahlungen nur noch bis zum 31. Dezember 2028 erfolgen. Eine Nachfolge für dieses Hilfesystem gibt es bisher nicht.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 23. März 2025 | 06:35 Uhr

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