
Interview Missbrauchsbeauftragte: "Entschädigung kommt bei Opfern fast gar nicht an"
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22. März 2025, 10:32 Uhr
Der "Fonds Sexueller Missbrauch" wird Ende 2028 auslaufen. Der Fonds wurde 2013 eingeführt, um niedrigschwellige Hilfe für Betroffene sexueller Gewalt zu leisten. Und das unkompliziert, indem Sachleistungen bis zu 10.000 Euro (für Menschen mit Behinderungen bis zu 15.000 Euro) beantragt werden konnten. Eine Nachfolge gibt es nicht.
Erstanträge für den Fonds können nur noch bis zum 31. August dieses Jahres gestellt werden. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung erzählt im Interview, wie wichtig gerade dieser Fonds für Betroffene ist. Denn Hilfen aus der Opferentschädigung kämen bei Betroffenen von Missbrauch im Kindes- oder Jugendalter kaum an.
MDR AKTUELL: Das Soziale Entschädigungsgesetz, früher das Opferentschädigungsgesetz, entschädigt Menschen, denen Gewalt angetan wurde und deren gesundheitliche und wirtschaftliche Probleme damit zusammenhängen. Was bedeutet dieses Gesetz für Opfer von Missbrauch? Und: Ist Missbrauch überhaupt noch das richtige Wort, das wir als Journalistinnen und Journalisten verwenden sollten?
Kerstin Claus: Ich fange mal mit dem hinteren Teil an. Das Wort wird tatsächlich oft missverstanden. Missbrauch oder sexualisierte Gewalt findet vor allem dort statt, wo Täter und Täterinnen ein bestehendes Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis zu Kindern und Jugendlichen nutzen, um Taten anzubahnen. Es ist also genau dieses Näheverhältnis, das missbraucht wird.
Deswegen ist es für Kinder und Jugendliche oft so schwer, darüber zu sprechen, weil es ja gerade Menschen sind, die Missbrauch verüben, die für sie wichtig sind. In diesem Sinne ist das Wort "Missbrauch" richtig, auch strafrechtlich wird dieser Begriff weiter genutzt.
Mir ist aber wichtig, dass wir als Gesellschaft verstehen, dass sexueller Missbrauch immer eine Gewalttat ist, selbst dann, wenn Kinder oder Jugendliche sich nicht körperlich wehren, selbst dann, wenn der Missbrauch nicht physisch mit Gewalt durchgesetzt wird und auch dann, wenn zunächst keine Spuren sichtbar sind. In der gesetzlichen Verankerung meines Amtes ist durchgängig von sexualisierter Gewalt und sexueller Ausbeutung die Rede, damit die Gewalttat als solche in den Vordergrund rückt.
Was bedeutet das Gesetz der sozialen Entschädigung für Opfer von Gewalt und Missbrauch?
Der Staat hat die Aufgabe, Kinder und Jugendliche zu schützen. Dort, wo dieser Schutzauftrag versagt hat, werden Betroffene entschädigt. Das hat der Gesetzgeber 1976 so entschieden. Hier hat sich der Staat verpflichtet, die Schäden, die Opfer in der Folge haben, bestmöglich zu minimieren oder auszugleichen.
Dort, wo diese Entschädigung wirklich ankommt, bringt es eine deutliche Entlastung für Betroffene. Sie haben die Möglichkeit, durch finanzielle Unterstützung die eigene Biografie wieder ein Stück weit mehr in die Hand zu nehmen. Oftmals sind es ja gerade die Folgen des Missbrauchs wie Brüche in der eigenen Ausbildungs- und Berufsbiografie, die Betroffenen heute den Alltag so erschweren.
Anerkannt und entschädigt zu werden, steht für eine Anerkennung der Taten durch den Staat. Das ist ein immens wichtiges Signal, so beschreiben es Betroffene. Denn letztlich steht diese Anerkennung auch für eine Anerkennung der besonderen Lebensleistung von Betroffenen, mit den Folgen der Tat zu leben.
Das, was Sie erzählt haben, ist auch auf den Seiten der Bundesregierung zu lesen. Das klingt ja erst einmal sehr gut. Aber wie würden Sie das als Beauftragte einschätzen, wie ist der Realitätscheck: Wie oft kommt diese Entschädigung zum Einsatz?
Der Verein "Weißer Ring" beschäftigt sich intensiv mit der Anerkennung von Betroffenen durch das Entschädigungsgesetz. Er hat sehr deutlich gemacht, dass selbst beim sogenannten Hellfeld, also dort, wo Taten angezeigt wurden, nur sieben Prozent der Gewaltopfer am Ende einen Antrag auf soziale Entschädigung stellen. Und davon bekommt wieder nur die Hälfte auch Leistungen nach dem Entschädigungsrecht zugesprochen.
Das heißt, die wenigsten Gewaltopfer bekommen tatsächlich die gerade beschriebenen Leistungen der Opferentschädigung. Und für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sieht es noch mal deutlich schlechter aus. Denn wir befinden uns ja häufig in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen und in einem Deliktfeld, in dem klassische Beweise oder Tatzeugen fehlen.
Dementsprechend schwierig ist es für Betroffene, die Tat selbst – aber eben auch den Zusammenhang der gesundheitlichen Folgen als Folge der Taten – nachzuweisen. Das heißt, in der Praxis ist es nach wie vor ein Leistungssystem des Staates, das bei Opfern sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend nur marginal, fast gar nicht ankommt.
Für Betroffene ist es wichtig zu wissen, wie lange so etwas dauern kann, wenn man es versucht. Sachsen und Sachsen-Anhalt konnten keine genaue Auskunft darüber geben. In Thüringen lag die Bearbeitungszeit im vergangenen Jahr bei 18 bis 20 Monaten. Wie finden Sie das? Wie hört sich das für Sie an?
Die Verfahrensdauer steht seit vielen Jahren unter massiver Kritik, von Betroffenen und auch von meinem Amt. Und mich erreichen viele Hinweise, dass auch die Reform des Opferentschädigungsrechts, die im Jahr 2019 verabschiedet wurde, daran nichts geändert hat.
Ich weiß aktuell von Fällen in Bremen und in Bayern, bei denen Anträge, die im Herbst 2021 gestellt wurden, bis heute nicht final beschieden sind. Und in beiden Fällen gab es keine Zweifel an den Taten selbst, weil beispielsweise ein strafrechtliches Urteil vorliegt. In dem einen Fall wurde sogar über die Unfallversicherung selbst der Gesundheitsschaden bereits festgestellt.
Trotz dieser für den Bereich der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen eher seltenen Konstellation, dass die Fakten klar auf dem Tisch liegen, ist über den Antrag bis heute nicht final entschieden. Das ist für Betroffene verheerend, das ist ein Leben in der Warteschleife. Wo wir doch wissen, dass es schnelle Hilfen braucht, damit eine Besserung in der persönlichen Lebenssituation eintritt.
Fonds Sexueller Missbrauch Der Fonds Sexueller Missbrauch im familiären Bereich (FSM) richtet sich an Betroffene, die im Kindes- und Jugendalter sexuellen Missbrauch in der Familie oder im familiären Umfeld erlebt haben und die bis heute unter Folgeschäden leiden.
Es gibt noch den Fonds für Hilfe bei sexuellem Missbrauch. Der steht aber vor dem Aus, wie Sie schreiben. Erstanträge können nur noch bis Ende August dieses Jahres gestellt werden. Ist dieser Fonds nicht die unkomplizierte Soforthilfe, die das soziale Entschädigungsrecht auch im Hinblick auf die lange Bearbeitungszeit eben nicht bietet?
Der Fonds setzt genau da an, wo die Lücken im Hilfesystem sind, richtig. Der Fonds leistet nach einer Plausibilitätsprüfung niedrigschwellig Sachleistungen bis zu einer Höhe von 10.000 Euro und für Menschen mit Behinderung bis zu 15.000 Euro. Die Frage der Beweislast ist also deutlich gesenkt.
Das Geld aus dem Fonds kann zum Beispiel für einen Umzug genutzt werden, weil man nicht mehr am Ort der Tat leben möchte. Oder für das Nachholen von schulischen oder beruflichen Qualifikationen genutzt werden, wenn der Wunsch besteht, endlich das tun zu können, was man irgendwann mal vorgehabt hat, aber aufgrund der Gewalttaten früher nicht tun konnte.
Es ist verheerend, dass es jetzt heißt, es könnten nur noch bis zum 31. August 2025 neue Anträge gestellt werden. Der Fonds ist bisher auch immer in Vorleistung gegangen, auch das wurde jetzt zum 1. Januar eingestellt. Viele Betroffene sexueller Gewalt sind aber einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand das Geld für eine Leistung erst einmal vorstrecken kann, ist extrem gering. Laut Beratungsstellen betrifft das über 90 Prozent der Betroffenen.
Warum lässt der Bund diese Hilfe auslaufen? Was ist die Begründung?
Es heißt, der Fonds sei nicht rechtskonform aufgestellt. Das hat der Bundesrechnungshof bereits im Jahr 2024 festgestellt. Das liegt daran, dass man den Fonds zunächst als eine Art Brückenlösung dachte, bis das reformierte Opferentschädigungsrecht greift.
Jetzt sind zwölf Jahre vergangen und ich habe ja gerade schon geschildert, dass diese Reform für diese spezifische Opfergruppe gerade keine Erleichterungen im Sinne einer weniger voraussetzungsvollen Anerkennung gebracht hat. Das unterstreicht die besondere, für viele Betroffenen existenzielle Bedeutung des Fonds Sexueller Missbrauch.
Aus meiner Sicht ist es skandalös, dass man den Fonds jetzt einfach auslaufen lässt. Man hätte ein System erarbeiten müssen, das rechts- und haushaltskonform ist und das bisherige System so lange weiterlaufen lassen müssen, bis ein Nachfolgemodell aufgestellt ist. Der Fonds ist eine wirklich herausragende Erfolgsgeschichte. Politik steht in der Verantwortung, hier eine lückenlose Nachfolgelösung zu finden.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 22. März 2025 | 06:35 Uhr