Unter der Lupe – die politische Kolumne Rolle rückwärts für die demokratische Mitte
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15. Juni 2024, 05:00 Uhr
Die Ergebnisse der Europawahl und der Kommunalwahlen im Osten klingen noch nach. Das starke Abschneiden der politischen Ränder setzt die Parteien der demokratischen Mitte unter Druck. Zuletzt hatte CDU-Chef Friedrich Merz für Unruhe gesorgt – mit dem Satz, dass es mit rechtsextremistischen und linksextremistischen Parteien keine Zusammenarbeit geben dürfe. Gemeint waren AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Doch genau das könnte für seine Partei noch wichtig werden. Der Aufschrei kam prompt.
- CDU-Chef Friedrich Merz erschwert mit seinen Abgrenzungen zum BSW die Mehrheitsbildungen in Thüringen.
- Eine Abgrenzung auf Bundesebene ist aufgrund der programmatischen Unterschiede beider Parteien jedoch durchaus sinnvoll.
- Der Spagat in der CDU zeigt, wie groß die Unterschiede zwischen Ost und West oftmals noch sind.
Keine Zusammenarbeit mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht – die Ankündigung saß. Da hatte Friedrich Merz mit einem Schlag alles vom Tisch gefegt, was die CDU-Wahlkämpfer in Thüringen und Sachsen mühsam aufgebaut hatten, nämlich so wenig wie möglich vor der Wahl im September auszuschließen. Weiter weg von der politischen Realität im Osten geht es wohl kaum.
Kein Wunder, dass der CDU-Spitzenkandidat in Thüringen, Mario Voigt, rasch darum bemüht war, öffentlich klarzustellen, dass Erfurt nicht Berlin ist. Der Landesverband wolle das selbst entscheiden und vor allen Dingen nichts ausschließen. Die Befürchtung in Thüringen: Das könnte die CDU-Wähler gleich in die Arme von AfD und BSW treiben.
Schwierige Mehrheitsverhältnisse in der Mitte
Ganz zu schweigen davon, dass CDU-Chef Merz mit seinem Satz aus dem Bauch heraus ganz nebenbei damit auch noch die ohnehin schon schwierigen Mehrheitsverhältnisse in Thüringen noch schwieriger macht. Das war praktisch eine Ansage an die Unregierbarkeit. Denn genau das könnte in Thüringen drohen.
Die Parteien der demokratischen Mitte sind entweder wie FDP, SPD und Grüne, gerade noch im einstelligen Bereich oder wie die CDU gefangen zwischen AfD, BSW und Linkspartei. Mit AfD und Linkspartei gibt es schon Unvereinbarkeitsbeschlüsse der CDU. Käme noch ein Verbot mit dem BSW dazu, wären Voigt und Kretschmer auf der Suche nach Mehrheiten schon jetzt die Hände gebunden.
Merz rudert zurück
Da kommt die Rolle rückwärts von Merz nun wohl gerade noch rechtzeitig. Merz räumt im MDR-Interview den Landesverbänden bei der Frage mehr Beinfreiheit ein. In der Sache aber bleibt er bei der Absage auf Bundesebene. Aus Sicht der Bundes-CDU sicher nachvollziehbar. Die Wagenknecht-Partei fordert wirtschaftspolitisch Enteignungen. Im Wahlprogramm hat es das Bündnis auf die mächtigen Konzerne abgesehen. Da heißt es: "Wo Monopole unvermeidlich sind, müssen die Aufgaben gemeinnützigen Anbietern übertragen werden." Gemeint sind damit auch Konzerne wie Black-Rock, für die Friedrich Merz in seiner politischen Abstinenz lange Zeit gearbeitet hat. Das trifft Merz doppelt, persönlich und politisch. Mit der sozialen Marktwirtschaft der CDU hat das gar nichts zu tun.
Auch bei der Frage nach Krieg und Frieden klaffen Welten. Merz will so viel Unterstützung für die Ukraine wie möglich. Wagenknecht will den Krieg am liebsten sofort beenden. Die Konsequenzen – unabsehbar. Und dennoch ist Merz' Abkehr von einem klaren Nein zum Bündnis Sahra Wagenknecht richtig und wichtig, nicht nur für die CDU, sondern auch für die Regierbarkeit im Osten. Da gibt es beim Thema Migration auch größere Übereinstimmungen mit der CDU. Denn auch das BSW will eine stärkere Begrenzung bei der Zuwanderung.
Belastungsprobe für Ost und West
Der Spagat in der CDU zeigt vor allem eins: wie groß die Unterschiede zwischen Ost und West oftmals noch sind. Nach der Europawahl und den blauen Flächen auf den Karten der Demoskopen bei den Kommunalwahlen im Osten wird wieder viel über das diskutiert, was uns trennt. Manches davon ging schon weit unter die Gürtellinie. Wer in den sozialen Netzwerken aus westdeutscher Sicht von den Ostdeutschen mehr Dankbarkeit verlangt, schafft genau das, was Populisten den Nährboden bereitet: Frust und Unzufriedenheit. Manch einer empfiehlt sogar, die Mauer wieder aufzubauen.
Selbst, wenn das vielleicht nicht ganz ernst gemeint ist: Lachen können die Menschen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern über solche vermeintlichen Witze schon lange nicht mehr. Wählerbeschimpfungen oder das Absprechen von demokratischen Überzeugungen bringt übrigens auch nichts. Wie Demokratie funktioniert, wissen die Ostdeutschen offenbar ganz gut. Denn über mangelnde Wahlbeteiligung können sich die Demoskopen in diesen Tagen nicht beklagen. Und nicht zu vergessen, es waren viele hunderttausende Ostdeutsche, die für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind.
Mehr Verständnis für die Unterschiede
Vielmehr braucht es 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution eine gemeinsame Kraftanstrengung in Ost und West. Der Westen muss endlich verstehen, was die Menschen im Osten erlebt, erduldet und ausgehalten haben. Und dass sie auch nach so langer Zeit, bei den Löhnen und den Renten etwa, noch nicht auf Augenhöhe sind. Und wir Ostdeutschen müssen mutig nach vorn schauen, nicht im Zweifel verharren und bei allen Schwierigkeiten immer offen für Neues bleiben.
Und die Parteien? Die werden, wie Friedrich Merz, noch öfter über ihren Schatten springen müssen, um zu verstehen, dass manche Themen im Osten anders betrachtet werden. Schnelle Taurus-Lieferungen, also Marschflugkörper für die Ukraine zum Beispiel. Eine politische Forderung, für die der CDU-Chef in Baden-Württemberg wohl Applaus bekommt. In Sachsen oder Thüringen versuchen die Wahlkämpfer das Thema, wenn es geht, zu vermeiden. Ähnlich dürfte es da SPD, Grünen und FDP gehen. Der Krieg in der Ukraine spaltet die Gemüter.
Angst oder einfach nur Ablehnung? Man kann das verstehen oder nicht. Das heißt nicht, die eigenen politischen Überzeugungen über Bord zu werfen. Aber es erfordert zumindest die Bereitschaft, die Argumente auf der anderen Seite zu hören und die eigene Position noch besser zu erklären. Wer sich nicht die Mühe macht, diese Unterschiede wahrzunehmen und zu verstehen, überlässt das Feld den Populisten.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 14. Juni 2024 | 12:00 Uhr