Beschäftigte verschiedener Einzelhandelsunternehmen demonstrieren auf dem Erfurter Anger
Beschäftigte verschiedener Einzelhandelsunternehmen haben auf dem Erfurter Anger demonstriert. Bildrechte: picture alliance/dpa | Martin Schutt

Arbeitskampf Entwickeln die Deutschen gerade eine neue Streikkultur?

30. November 2023, 05:00 Uhr

Streiks von Lehrerinnen, Hortnern, Apothekerinnen oder Lokführern – es scheint so, als würde gerade ziemlich viel gestreikt. Dabei sind die Deutschen nicht besonders bekannt für ihre Streik-Lust. Ist das nur eine Wahrnehmung oder entwickeln die Deutschen eine neue Streikkultur?

Auch wenn es keine Zahl dazu gibt, beobachten viele Experten tatsächlich eine Zunahme von Streiks in den vergangenen Monaten.

Wie kommt es zu der Zunahme von Streiks?

Dafür gibt es zwei Gründe, sagt Marcel Fratzscher von Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, DIW: "Über die letzten 18 Monate haben viele Menschen massive Einbußen ihrer Kaufkraft der Löhne erfahren müssen. Das heißt, dass viele Beschäftigte und deren Gewerkschaften diesen Verlust wieder ausgleichen wollen. Zweitens, sehen wir einen grundlegenden Wandel am Arbeitsmarkt: Wir verändern uns von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt." Das liege unter anderem am aktuellen Fachkräftemangel. "Die Verhandlungsmacht der Beschäftigten steigt und das führt eben auch zu verhäuften Arbeitskämpfen, wie wir sie im Augenblick sehen."

Thorsten Schulten, Experte für Tarif und Lohnpolitik bei der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung, sieht hier eine Chance für jeden Einzelnen: "Ich glaube in der Tat, dass es so was wie eine neue Streikkultur gibt. Dass die Gewerkschaft vielleicht ein stückweit weggehen von der alten Stellvertreterpolitik, dass sie für die Beschäftigten verhandeln, sondern dass die Beschäftigten aktiv in Tarifauseinandersetzungen einbezogen werden. Und das sehen wir auf den Straßen, dass Menschen immer mehr bereit sind, für ihre Interessen einzutreten."

Immer mehr Menschen treten Gewerkschaften bei

Schulten sieht hierin auch den Grund, warum immer mehr Menschen Gewerkschaften beitreten. Verdi etwa hat in diesem Jahr mehr Mitglieder aufgenommen, als jemals zuvor. Das deute auf ein neues Selbstbewusstsein von Arbeitnehmern, sagt Schulte.

Hagen Lesch, Ökonom und Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft, sieht keine neue Streikkultur, aber das Klima sei rauer als früher: "Was ich beobachte, ist, dass die Tarifverhandlungen insgesamt konfliktreicher ablaufen. Das heißt, es kommt nicht nur zu Arbeitskämpfen, sondern es werden häufiger Drohungen ausgesprochen, die Gewerkschaften drohen mit Streiks oder Urabstimmungen – das ist ja quasi die Vorstufe des Streiks."

Noch mehr Streiks in den nächsten Jahren zu erwarten

Marcel Fratzscher vom DIW geht davon aus, dass die Anzahl und Frequenz von Streiks in den kommenden Jahren noch zunehmen wird. "Wir sehen jetzt die Spitze des Eisberges. Es kommt, glaube ich, noch viel dazu. Wir werden in den nächsten jahren nochmal fünf Millionen beschäftigte Babyboomer netto auf dem Arbeitsmarkt verlieren, weil weniger junge Menschen nachkommen. Die Unternehmen stehen unter zunehmendem Druck, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Das heißt, sie werden von ihren Beschäftigten mehr verlangen: mehr Fortbildung, Flexibilität – und auch das hat Potenzial für einen Arbeitskampf."

Dennoch werde sich Deutschland wohl weiter im europäischen Mittelfeld bewegen, was die Streikbereitschaft angeht. Immerhin werde nur knapp die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland überhaupt nach Tarifvertrag bezahlt. Vor allem der Niedriglohnsektor – wie es ihn häufig in Mitteldeutschland gibt– ist oft nicht abgesichert.

Fratzscher betont, dass die Streiks natürlich der Wirtschaft schaden, aber: "Langfristig ist die Hoffnung, dass die Streiks dazu führen, dass wieder die Tarifpartnerschaften gestärkt werden. Das ist ja das Erfolgsmodell seit jeher, dass die Beschäftigten und Gewerkschaften Verantwortung in den Unternehmen übernehmen und dann eben auch faire Löhne aushandeln. So gesehen habe ich auch die Hoffnung, dass mit der Veränderung, die wir jetzt sehen, dort auch eine stärkere Partnerschaft in Zukunft entsteht, denn das brauchen wir dringender denn je."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 30. November 2023 | 06:37 Uhr

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