Neue Kirchenmitgliedschaftsstudie Kirchenaustritte: Das Jenseits wird nicht mehr gebraucht
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15. November 2023, 14:51 Uhr
Schon in rund 20 Jahren werden die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland etwa die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. Das ist das Ergebnis einer neuen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Bislang war man davon ausgegangen, dass dieser Fall erst in 40 Jahren eintritt. Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe der Universität Leipzig, analysiert, warum so viele Menschen austreten – und was das für Gesellschaft und Demokratie bedeutet.
- Die Entwicklung zeigt, dass die Menschen immer weniger Interesse an Religion und Spiritualität haben.
- Wenn es immer mehr Konfessionslose gibt, hat das auch Auswirkungen auf die Demokratie.
- Der Leipziger Kirchensoziologe Gert Pickel nennt drei Dinge, mit denen die Kirche wieder mehr Menschen anziehen könnte.
MDR KULTUR: Im Zusammenhang mit den Kirchenaustritten heißt es immer, es liegt an den Missbrauchsskandalen. Lassen sich die Zahlen der Kirchenmitgliedschaftsstudie damit erklären?
Gert Pickel: Wir haben eine langfristige Entwicklung, schon weit vor den Missbrauchsskandalen, schon in den 70er-Jahren begann der Rückgang von Mitgliedszahlen, aber auch der Rückgang von Gläubigkeit und Religiosität. Es ist eine Leistung der Studie, dass man endlich anerkennt: Es ist nicht nur die Kirchenmitgliedschaft, die verschwindet, sondern auch das Interesse an Religion und Spiritualität.
Sind die Kirchen die Spitze eines Niedergangs, die die meisten kulturellen Sinn-Institutionen wie Museen, Theater, Zeitung, öffentlich-rechtlicher Rundfunk auch zu spüren bekommen?
Gert Pickel: Einzuordnen ist es dahingehend, dass Großinstitutionen an Bedeutung verlieren. Die Gesellschaft wird immer pluraler und hat auch mehr Möglichkeiten, mit Schwierigkeiten im Leben umzugehen und wählt eben diese anderen Möglichkeiten.
Dass wir einzelne Institutionen haben, die für alle gleich wertvoll sind, davon muss man sich, glaube ich, verabschieden. Und das, was Kirche besonders macht, das Denken an etwas Transzendentes, als das, das das Diesseitige ersetzt, ist für viele nicht mehr besonders interessant. Man sucht sein Heil im Diesseits, da braucht man das Jenseits nicht mehr so stark.
Der Rückgang an Mitgliedern bedeutet auch einen Rückgang an Kirchensteuer. Unternehmensberatungen empfehlen in solchen Fällen die Konzentration auf das Kerngeschäft.
Die Frage ist: Was ist das Kerngeschäft? Bislang ist man davon ausgegangen, dass der Gottesdienstbesuch das Zentrum ist. In der Tat sind Rituale wichtig, weil diese die Menschen an Kirchen binden. Gleichzeitig zeigt sich, dass die gesellschaftliche Bedeutung und die Kontakte, die Kirchen anbieten, gerade im ländlichen Raum nicht zu unterschätzen sind. Die Kirche ist da manchmal einer der letzten Orte, wo es gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt. In dieser Hinsicht ist die Kirche sehr wertvoll und ihr Verschwinden würde auch Lücken reißen.
Es gibt auch Konsequenzen für das Ehrenamt. Die Hälfte der Kirchenmitglieder engagiert sich freiwillig, bei den Konfessionslosen ist es ein Drittel. Was heißt das für die Gesellschaft?
Es bedeutet, dass man weniger Beteiligung hat. Und weniger Beteiligung bedeutet für eine Demokratie natürlich weniger Erfahrung in Aushandlungsprozessen, in denen man auch mal Kompromisse sucht. Wir haben in anderen Studien schon ein Drittel der Deutschen, die sagen: Kompromisse sind ein Verrat an Prinzipien. Also das Denken über Kompromisse wird gerade an dieser Stelle gelernt.
Und: Man gewinnt in solchen Zusammenhängen soziales Vertrauen. Das bedeutet: Ich lerne andere kennen und stelle fest, die sind gar nicht so schlimm, wie ich erst dachte. Das ist für den interreligiösen Kontakt auch zu Muslimen, zu Juden und Jüdinnen wichtig, ist aber auch insgesamt für die Gesellschaft wichtig.
Wie könnte die Kirche wieder Menschen gewinnen? Oder ist das zu naiv gefragt?
Drei Punkte sind wichtig: Da ist zum einen die Möglichkeit, von Angeboten zu partizipieren. Erfolgreich ganz jenseits der Gläubigkeit sind Chöre und andere Formen von Engagement, die sich um Kirchen herum bilden. Die müssen halt nicht mehr religiös sein, das ist das Problem, mit dem man zurechtkommen muss.
Das Zweite: Für Rituale ist die Kirche der zentrale Anbieter, da hat man eben mehrere hundert Jahre Erfahrung, also Hochzeit, Beerdigung – das will man doch gern professionell haben, um es mal so zu sagen. So kann man Kontakt herstellen. Das Dritte ist: Viele wünschen sich Veränderung der Kirche, eine moderner bezogene Lesart und eine Sprache, die man versteht, denn religiöse Sprache, wie sie heute praktiziert wird, verstehen viele Menschen nicht.
Das Interview führte Carsten Tesch für MDR KULTUR.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. November 2023 | 08:10 Uhr