Cover Ines Geipel „Fabelland“ 4 min
Schriftstellerin Ines Geipel erkundet in "Fabelland" die Zeit seit dem Mauerfall. Bettina Baltschev hat mit ihr gesprochen und stellt das Buch vor. Bildrechte: S. FISCHER
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Bettina Baltschev stellt Ines Geipels neues Buch "Fabelland" vor.

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Sachbuch Eine Doppeldiktatur ausatmen: Ines Geipels neues Buch "Fabelland"

14. August 2024, 04:00 Uhr

Die Schriftstellerin Ines Geipel widmet sich immer wieder den historischen Verwerfungen im Osten Deutschlands vor dem Mauerfall und danach. Ob es um die verborgene Literaturgeschichte der DDR geht, die Dopinggeschichte, von der sie als Leistungssportlerin selbst betroffen war, oder um geheime Militärlabors, in denen die DDR vom Weltraum träumte. In "Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück" schaut sie auf die Geschichten, die wir uns seit 1989 über das wiedervereinigte Deutschland erzählen.

  • In "Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück" schaut Ines Geipel zurück auf die Zeit seit dem Mauerfall und verbindet persönliche mit kollektiver Erinnerung.
  • Im Gespräch mit MDR KULTUR erklärt sie, wie und warum die anfängliche Freude in Ostdeutschland bald ambivalenten Gefühlen wich.
  • Mit ihrem Buch möchte sie dazu beitragen, dass die Ostdeutschen auch ihre Gegenwart mit mehr Selbstvertrauen betrachten.

Die Perspektiven auf die deutsche Einheit fallen auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch recht unterschiedlich aus. Während manche darin den größten Glücksfall der Geschichte erkennen, hadern andere bis heute mit den in ihren Augen uneingelösten Versprechen von Gleichheit und Brüderlichkeit zwischen Ost und West. Und weil der Blick auf die konkreten Ereignisse über die Jahre nicht unbedingt klarer wird, hat sich Ines Geipel dafür entscheiden, noch mal ganz von vorn anzufangen.

Ines Geipel schaut im Autorenprotrait in die Kamera. Sie trägt einen schwarzen Rollkragenpulli, die blonden Haare umfließen das Gesicht, die Hände sind auf den Tisch seitlich aufgesützt, ineinanandergefaltet.
Ines Geipel fängt in ihrem Buch noch mal von vorne an: am 9. November 1989. Bildrechte: Gaby Gerster 2024

Es beginnt am Abend des 9. November 1989

Ihr neues Buch "Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück" beginnt mit dem Abend des 9. November 1989. Die Autorin, die einige Monate zuvor in den Westen geflüchtet war, kellnert gerade in einer Darmstädter Weinstube.

In mir gab es ein Gefühl von Erlösung.

Ines Geipel, Schriftstellerin MDR Kultur

"Diese Weinstube wurde sukzessive voller und voller," erzählt Ines Geipel bei MDR Kultur: "Es gab unheimlich viel Wein an dem Abend und es gab die hessische Prinzessin, die am Ende des Abends die Rechnung übernahm. Es wurde sehr feucht-fröhlich. In mir gab es das Gefühl von Erlösung, aber auch der Hektik, diesen Abend zu überstehen."

Nach dem Mauerfall kommen innere Geschichten zum Vorschein

Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, ist damals 29 Jahre alt und die Welt steht ihr offen. Sie reist nach New York, beginnt später noch einmal zu studieren, wird Schriftstellerin und Professorin für deutsche Verssprache. Das Glück ist also mit ihr, dennoch schreibt sie an einer Stelle einen interessanten Satz über die Befindlichkeit der Ostdeutschen, der bereits die Monate nach dem Mauerfall betrifft: "Die Welt war offen, aber etwas schien sich nach innen zu verschieben".

Ines Geipel, ehem. Weltklasse- Sprinterin der DDR, Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin, Vorsitzende der dopingopfer-hilfe e.V. 26 min
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Im Gespräch mit MDR Kultur erinnert sie sich daran, wie sie Freunde in Berlin besucht und die Freunde zu erzählen beginnen: über die Eltern, die Auf- und Umbrüche in Ost-Berlin, in einer unruhigen und nervösen Stimmung: "Es ist irgendwie schon klar, das war ein großer Moment der Freude, aber es wird etwas kommen und das hat natürlich viel mit den inneren Geschichten der Ostdeutschen zu tun."

Ambivalenz von "Glück" und "Zorn"

Es geht Ines Geipel also einerseits um emotionale Ambivalenzen, deshalb auch das "Glück" und der "Zorn" im Titel ihres Buches. Andererseits geht es ihr aber auch darum, Geschichte in größeren Zusammenhängen zu lesen. Die Kapitel "Diktatur der Nationalsozialisten" und "Diktatur der Arbeiterklasse" müssten gemeinsam betrachtet, historische fortlaufende Tiefenschichten ergründet werden. Ines Geipel will "Erinnerungsbeton", wie sie es nennt, aufbrechen.

"Warum können wir nicht sagen: Ja, das ist unsere Geschichte? Wir haben eine Doppeldiktatur auszuatmen. Wir haben mit viel Durchsetzung von Staat zu tun bekommen und zwar die Großeltern, die Eltern und wir selber auch, und das war ja auch mit 89 nicht weg", resümiert Geipel.

Die Schriftstellerin Ines Geipel 1960 in Dresden geboren, betrieb sie ab 1977 Leistungssport beim SC Motor Jena und gehörte Anfang der 1980er Jahre zur Leichtathletik-Nationalmannschaft der DDR. In Jena studierte sie auch Germanistik.

Im Sommer 1989 floh Ines Geipel über Ungarn aus der DDR. In Darmstadt studierte sie Philosophie und Soziologie. Seit 2001 ist sie Professorin für Deutsche Verskunst an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin.

Sie ist Mitbegründerin des "Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR". Zu ihren Publikationen gehören: "Für heute reichts. Amok in Erfurt" (2004), "Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass" (2019) und "Schöner Neuer Himmel. Aus dem Militärlabor des Ostens" (2022). Ines Geipel wurde unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande und dem Lessingpreis für Kritik ausgezeichnet.

Neuerzählung auf Augenhöhe

"Eine Doppeldiktatur ausatmen" ist tatsächlich kein schlechtes Bild für einen aktiven Befreiungsakt, der womöglich auch dazu führt, dass die Ostdeutschen ihre Gegenwart mit mehr Selbstvertrauen betrachten. Ines Geipel wünscht sich, bestehende Vorurteile und Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden. Es geht ihr dabei um eine "wirkliche und echte Neuerzählung" auf Augenhöhe.

Warum können wir nicht sagen: Ja, das ist unsere Geschichte?

Ines Geipel, Schriftstellerin MDR Kultur

"Ja, wir sind nicht die Opfer, wir sind es tatsächlich nicht", ist sie überzeugt: "Ja, wir haben agiert, wir sind auch nicht die Abgehängten, nicht die Übernommenen. Wir sind auch nicht die Kolonisierten. Wir stehen im Grunde ziemlich erstaunlich da."

Eine Menschenmenge drängt sich im November 1989 vor und auf der Berliner Mauer nahe dem Brandenburger Tor in Berlin
November 1989: Was wurde aus der Feierlaune von damals? Geipel forscht in ihrem Buch nach, auch in ihren persönlichen Erinnerungen. Bildrechte: IMAGO / imagebroker

Mit "Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück" liefert Ines Geipel eine nachdenkliche Betrachtung darüber, was in den letzten 35 Jahren seit dem Mauerfall mit uns Ostdeutschen passiert ist. Immer wieder ausgehend von ihren eigenen, persönlichen Gefühlslagen sortiert sie kollektive Erfahrungen, weist auf Missverständnisse hin und analysiert, warum bei manchen Ostdeutschen das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, immer noch nicht überwunden ist.

Das ist keine leichte Lektüre und auch formal ist Ines Geipel eher nicht für schlichte Sätze zu haben. Dennoch ist das Buch ein wichtiger Beitrag im derzeit eifrig betriebenen Diskurs um das Selbstverständnis der Ostdeutschen. 

Informationen zum Buch (zum Ausklappen):

Ines Geipel:
"Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück"

S.Fischer Verlag 2024
Umfang: 320 Seiten
Preis: 26 Euro

Redaktionelle Bearbeitung: lm, tmk

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 14. August 2024 | 08:40 Uhr

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