Crowdsourcing-Projekt Wheelmap Wie eine Online-Karte Probleme bei Barrierefreiheit sichtbar macht
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05. Februar 2023, 16:35 Uhr
Für Menschen mit Rollstuhl, Ältere und Eltern mit Kinderwagen sind viele Lebensbereiche nicht zugänglich. An Barrierefreiheit mangelt es vor allem in Sachsen-Anhalt und Sachsen. Das zeigt MDR Data durch die Analyse der Daten des Crowdsourcing-Projekts Wheelmap.
- Freiwillige Helfer befüllen die sogenannte Wheelmap zur Barrierefreiheit mit Orten und Bewertungen.
- Die meisten Barrieren gibt es demnach im Nachtleben und in der Gastronomie.
- Die Online-Karte schafft im Alltag mehr Aufmerksamkeit für Barrierefreiheit.
43,5 Prozent der Orte in Sachsen-Anhalt sind nicht barrierefrei. Das zeigt die Online-Karte Wheelmap. Die Orte sind somit nicht zugänglich für Menschen mit einer Gehbehinderung, ältere Menschen mit eingeschränktem Gehvermögen oder Eltern mit Kinderwagen. Im Deutschlandvergleich schneidet Sachsen-Anhalt damit am zweitschwächsten ab.
Barrierefreiheit
Ein Ort gilt als barrierefrei, wenn er von Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen nutzbar ist. Barrieren können dabei räumlich und kommunikativ bestehen. Damit Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen und gesellschaftliche Teilhabe erfahren können, müssen Barrieren gerade im öffentlichen Raum abgebaut werden.
Der Abbau von Barrieren kommt nicht nur Menschen mit Behinderung zugute. Auch Eltern mit Kinderwagen, Menschen mit Migrationshintergrund, Senioren, Menschen mit Erkrankung oder vorübergehenden physischen Verletzungen begegnen Barrieren in ihrem Alltag.
Über die Daten: Was ist die Wheelmap?
Die Wheelmap ist eine Online-Karte, die sich vorrangig an Menschen mit Gehbehinderung richtet. Darin sind Orte als barrierefrei, teilweise barrierefrei und nicht barrierefrei markiert. Nutzende können so gezielt nach Restaurants, Toiletten, Geschäften und Ärzten suchen, die mit Rollstuhl zugänglich sind. Rund 20.000 Mal pro Monat wird die Wheelmap von all ihren Nutzern geöffnet.
Die Markierungen entstehen durch Crowdsourcing. Sie beruhen also auf freiwilligen Einträgen von Betroffenen oder Interessierten. Die Karte ist dadurch nicht vollständig, dient allerdings als Anlass, die Barrierefreiheit bestimmter Bereiche genauer zu beleuchten. Die Daten aus der Wheelmap wurden unter anderem schon für den UN Disability and Development Report 2018 herangezogen.
Die Anwendung wurde von den Sozialhelden ins Leben gerufen, einem gemeinnützigen Verein mit Sitz in Berlin, der sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt.
Sachsen: Bundesland mit geringster Barrierefreheit
Sachsen ist laut der Wheelmap das Bundesland mit den meisten Barrieren. Dort sind 69,1 Prozent der Orte für Rollstuhlfahrer als nicht zugänglich eingestuft. Thüringen hingegen liegt mit einem Anteil von 41 Prozent im deutschlandweiten Mittelfeld.
Freiwillige Helfer pflegen die Wheelmap
Die Wheelmap funktioniert nur durch das Engagement von Freiwilligen, die regelmäßig Orte in die Karte eintragen und deren Barrierefreiheit bewerten. Einer dieser Freiwilligen heißt Peter Bosecke. Er ist aus Sachsen und nutzt die Wheelmap seit ungefähr zwei Jahren.
Ein Bekannter von Bosecke und dessen Sohn sitzen im Rollstuhl. Wenn die Familien früher gemeinsam unterwegs waren, ein Restaurant oder eine Eisdiele besucht haben, ist oft erst vor Ort aufgefallen, dass der Rollstuhl nicht durch die Tür passt oder der Eingang Stufen hat. Deshalb hat Bosecke nach einer Lösung gesucht und ist auf die Wheelmap gestoßen.
Anfangs hat er mal hier, mal dort einen Ort auf Rollstuhlgerechtigkeit bewertet: grün für ja, rot für nein. Dann sei die Aktivität schrittweise gewachsen, erzählt er. Seit etwa einem Monat ist Bosecke Botschafter der Wheelmap. In dem Botschafter-Programm, das die Wheelmap-Gründer ins Leben gerufen haben, lernen die Helfer, ihren Umgang mit der App noch bewusster zu gestalten. "Man bewertet weiterhin Orte, aber geht viel aufmerksamer ran", berichtet Bosecke.
In seinem Heimatort Flöha hat der Botschafter schon fast alle Orte durch. Teilweise geht er gezielt dorthin, wo es noch keine Bewertungen gibt. Er fragt in nicht-öffentlichen Gebäuden wie in Rathäusern, sozialen Einrichtungen und Polizeistationen, ob er Fotos machen darf. Auch wenn er mit seiner Familie oder in seinem Beruf als Wanderleiter unterwegs ist, nimmt er sich oft Zeit, die Wheelmap zu pflegen.
Barrieren im Gesundheitswesen wiegen schwer
Durch Barrieren würden Menschen mit Behinderung in vielen Lebensbereichen Diskriminierung erfahren. Das sagte Jürgen Hildebrand, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Sachsen-Anhalt, Anfang Dezember auf Anfrage von MDR Data. Dazu gehören beispielsweise Frauenarztpraxen und andere Gesundheitseinrichtungen, für die es keine gesetzlichen Regelungen zur Barrierefreiheit gebe. Dadurch hätten Betroffene wenig Auswahlmöglichkeiten bei der Arztsuche und müssen oft weite Strecken zurücklegen.
Das weiß auch Annett Melzer, die von MDR SACHSEN-ANHALT auf der Suche nach Gesundheitseinrichtungen begleitet wurde. "Ich finde die Situation sehr prekär. Es gibt immer noch viel zu viele Praxen und ambulante Gesundheitseinrichtungen, die nicht rollstuhlfreundlich und nicht barrierearm sind. Dort können viele Menschen mit den verschiedensten Behinderungen nicht hingehen und sich diagnostizieren lassen."
Sie nutzt Tools wie die Wheelmap eher weniger, da sie sich in ihrer Heimat Halle auskennt. Anderen Betroffenen erleichtert die Online-Karte die Suche nach barrierefreien Arztpraxen und anderen Orten, an denen Menschen mit Barrieren konfrontiert werden. Zu den Kategorien der App gehören unter anderem Bahnhöfe, Bekleidungsgeschäfte, Bibliotheken, Kulturorte und Toiletten. Diese lassen sich grob in Bereiche einteilen.
Barrieren oft im Nachtleben und in der Gastronomie
In Thüringen schneiden die Bereiche Mobilität und öffentliche Verkehrsmittel am besten ab. Hier sind jeweils 73 Prozent aller Orte als barrierefrei markiert. Hinten liegen die Bereiche Nachtleben mit 12 Prozent und Gastronomie mit 31 Prozent.
In Sachsen-Anhalt ist der Bereich mit den meisten barrierefreien Orten die Lebensmittelversorgung (73 Prozent) und der Bereich Geld, zu dem Banken und Geldautomaten zählen (71 Prozent). Am wenigsten barrierefrei sind in Sachsen-Anhalt laut der Wheelmap das Nachtleben (9 Prozent) sowie die Kategorien Religion (28 Prozent) und Gastronomie (38 Prozent).
In Sachsen liegen auch die Bereiche Geld und Lebensmittel mit jeweils 67 Prozent vorne. Am schlechtesten schneiden erneut das Nachtleben (11 Prozent), außerdem Kosmetik (28 Prozent) und Gastronomie (30 Prozent) ab.
Nicht alle Kategorien und Bereiche haben gleich viele Einträge. Während Mobilität, öffentliche Verkehrsmittel, Gastronomie und Lebensmittelversorgung häufig bewertet werden, mangelt es zum Beispiel an Einträgen in den Bereichen Wirtschaft, Post, Nachtleben und Kosmetik.
Trotzdem lässt sich durch das Crowdsourcing-Projekt feststellen, wie barrierefrei die Bundesländer sind. Und zwar auch die Bereiche, die nicht gesetzlich geregelt und offiziell erfasst werden, wie beispielsweise Bahnhöfe und Webseiten von Behörden.
Hilfe im Alltag
Vor allem in kleineren Orten und ländlichen Gegenden sind viele Orte noch nicht von der Karte gedeckt. Das bestätigt auch Peter Bosecke für Flöha in Sachsen: "Gerade hier im Ort ist die Wheelmap noch unbekannt." Dagegen möchte er in seiner Heimat ankämpfen, weil er immer wieder von seinen Bekannten hört, wie sehr die App im Alltag hilft: zum Beispiel auch Menschen, die mit Kinderwagen unterwegs sind.
Die Karte ist wichtig für die Allgemeinheit.
Bei seinem Engagement für Wheelmap ist Bosecke bisher nur selten auf Ablehnung gestoßen. Manche Einrichtungen und Behörden seien ein bisschen verschlossen, wenn es um den Zutritt zu Gebäuden gehe, weil sie wüssten, dass er bestehende Barrieren fotografieren wolle. "Aber es ist allen bewusst, dass sie da was machen müssen."
Aufmerksamer für Barrieren
Seit er bei Wheelmap mitmacht, nimmt Bosecke seine Umwelt anders wahr. Früher sei er einfach in Gaststätten gegangen, habe sich hingesetzt und gegessen. "Jetzt gucke ich, wenn ich reinkomme, erstmal, ob es Stufen gibt, bevor ich überhaupt die Karte aufmache."
An Bahnhöfen fragt er sich: Wie würde man mit dem Rollstuhl hierher kommen? Das Mitmachen schaffe Bewusstsein, sagt Bosecke: "Die Karte ist wichtig, nicht nur für Menschen mit Behinderung, sondern auch für die Allgemeinheit."
MDR (Katharina Forstmair, Julia Bartsch)