Die Poser politisieren Wenn Influencer Politik erklären
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24. September 2021, 16:37 Uhr
Beauty-Tipps, Klamottenkäufe und Einblicke in den Lifestyle bilden die Hauptthemen, mit denen Influencerinnen und Influencer seit Jahren ihre Community unterhalten. Das scheint sich seit einiger Zeit zu wandeln. Junge Menschen, die mit dem Smartphone in der Hand groß geworden sind, mischen Polit-Shows auf und haben Einfluss auf die Meinung ihres Publikums. Ist das ein kurzweiliger Trend oder die Zukunft? Sind sie zu einer Alternative journalistischer Angebote geworden?
Es sind nur noch wenige Tage bis zur Bundestagswahl. Die 32-jährige Louisa Dellert veröffentlicht auf ihrem Instagram-Profil Info-Grafiken und Diagramme. Im "Wahlprogramm-Check" vergleicht sie die Ziele von CDU, SPD und Co. zu Lebensmittelverschwendung, Tempolimit und dem Schutz von Mooren.
Mittlerweile zählt Dellert zu den populärsten Influencerinnen Deutschlands: Ihr folgen 478.000 Personen. Bekannt wurde sie durch Fitness-Posts. Eine Herz-OP öffnete ihr die Augen: Sie konzentrierte sich von nun an auf ein positives Körperbewusstsein. Aus Influencerin wird "Sinnfluencerin" – ein Begriff, der in Verbindung mit dem Wandel der Themen auf Social-Media-Plattformen auftaucht. Und spätestens mit den Videos von YouTuber Rezo wurde die Macht derer deutlich, die bisher als reine Markenbotschafterinnen und –botschafter galten.
"Junge Menschen sind schon immer sehr politisch gewesen”, sagt Martin Fuchs, der Regierungen zu digitaler Kommunikation berät und das Geschehen in den sozialen Medien beobachtet. "Politische und gesellschaftliche Debatten gehen auch an denen nicht vorbei, die sonst Schminktipps geben.” Außerdem erlaube die Arbeit als Influencerin oder Influencer auch, dass man sich weiterentwickelt.
Seine Definition des Influencertums beschränkt sich nicht auf die Rolle des Werbetragenden: "Das sind Menschen, die sich im Netz eine Reputation und eine Community aufgebaut haben, diesen Wert nutzen, um sich darzustellen und daraufhin Einfluss in gesellschaftlichen Fragen, aber auch im Kommerziellen sichtbar machen."
Die digitalen Meinungsführer kommunizieren informell und fernab von Organisationen, was sie glaubwürdiger erscheinen lässt. Ihr Potenzial baut auf Persönlichkeit und Nähe. Denn sie halten sich dort auf, wo Jugendliche ihre Zeit verbringen: im Netz. Vor allem mit Beteiligungsformaten, in denen die Community Politikern oder Politikerinnen Fragen stellen kann, ermöglichen sie eine aktive politische Partizipation der Jüngeren.
Meinungsbildung durch Sinnfluencer
"Auf Influencerinnen und Influencer sollte man nicht setzen, wenn man informieren will. Sie wollen manipulieren, zum Kauf überreden. Da sollte man auf journalistische Inhalte zurückgreifen", meint Wolfgang M. Schmitt, Autor des Buches Influencer – Ideologie der Werbekörper. Er sieht die Entwicklung der Influencerszene kritisch, sie sei nur Mittel zum Zweck, um weitere Produkte zu vermarkten: "Die Influencer erschließen sich neue Märkte und den Politikerinnen und Politikern ist es recht. Journalisten stellen kritische Fragen, Influencer eher nicht." In einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung der Freitag bezeichnete Schmitt Rezo als "der Einäugige unter jenen Blinden". Rezo sei im Falle der Zerstörungs-Videos nicht als Influencer, sondern schlicht als Journalist unterwegs.
Influencer und Influencerinnen sind in Zukunft ein sehr wichtiger Teil der Meinungsbildung in Deutschland.
Social-Media-Beobachter Fuchs sieht die Entwicklung zum Sinnfluencer als Zugewinn. Personen, die sich bereits für Politik interessieren, hätten nun die Möglichkeit, andere Perspektiven kennenzulernen. Die Kommentare der Influencerinnen und Influencer dienten zur Einordnung: "Sie sind in Zukunft ein sehr wichtiger Teil der Meinungsbildung in Deutschland."
Nachrichten via Social Media
Die nachrichtenbezogene Nutzung sozialer Medien ist längst Teil der Mediennutzungsforschung. Im Reuters Institute Digital News Report 2020 des Leibniz-Instituts wird deutlich: 56 Prozent der 18- bis 24-Jährigen nutzen soziale Medien mindestens wöchentlich, um sich zu informieren. Online-Nachrichtenmagazine liest nur knapp ein Drittel dieser Altersklasse. Ähnliche Ergebnisse zeigt eine nicht repräsentative Studie der Vodafone Stiftung aus dem Jahr 2018: Etwa 700 Personen im Alter von 14 bis 24 Jahren wurden gefragt, wo sie sich über gesellschaftliche und politische Themen informieren. Hier liegen Community-Apps vor Familie und Freunden, zumindest was das Beschaffen von Informationen angeht. Online-Medien stehen an erster Stelle. Die Zahlen sprechen für sich: Jugendliche nutzen soziale Medien als Informationskanal, öffentlichen Accounts wird so eine große Verantwortung zuteil.
#NetzFragtMerkel, #DeineWahl und #ZerstörungDerCDU
Bereits in der Vergangenheit begleitete die Influencerszene politische Großereignisse. Sie wirken als eine Art Sprachrohr. Die Community einbeziehen, Abgeordnete oder Regierungsmitglieder treffen und Fragen stellen – den vermeintlichen Start machte 2015 YouTube-Größe Florian Diedrich alias LeFloid. In einem 30-minütigen Interview fragte er die Bundeskanzlerin das, was er zuvor unter dem Hashtag #NetzFragtMerkel von seiner "Kundschaft", wie Angela Merkel es nannte, gesammelt hatte. Die Antworten blieben dennoch im Netz und liefen für die breite Öffentlichkeit weitestgehend unter dem Radar. Das änderte sich mit dem einstündigen, zerstörerischen Video von YouTuber Rezo, der die CDU kurz vor der Europawahl 2019 hart kritisierte. Im August und September dieses Jahres und damit wieder kurz vor einer richtungsweisenden Wahl schlägt er erneut zu, wie die Süddeutsche Zeitung titelt.
Polit-Entertainment [...] sorgt dann für eine Entpolitisierung junger Leute.
Influencerinnen und Influencer kommentieren selbst das gesellschaftliche Geschehen und führen ihr Publikum an andere Informationskanäle heran. Das erkennen auch die klassischen Medien. Immer wieder sind die digitalen Meinungsmacher im linearen Fernsehen zu Gast. Laut Martin Fuchs hätten sie bereits einen Platz in der deutschen Medienlandschaft eingenommen: "Influencerinnen und Influencer haben einen Expertenstatus mit hoher Relevanz. Die Redaktionen wissen, dass da jemand kommt, der eine andere Zielgruppe mitbringt, die es spannend findet, mal Markus Lanz einzuschalten.”
Auch Wolfgang M. Schmitt sieht eine Chance, dass sich so die Milennials mehr für Politik interessieren. Aber: "Das große Problem ist, sie bekommen nicht politische Themen serviert, sondern Polit-Entertainment. Und das sorgt dann für eine Entpolitisierung junger Leute.” Da Influencerinnen und Influencer für Kooperationen mit Firmen Geld bekommen, wechseln sich nicht selten Produktplatzierung und Polit-Talk ab, auf Bildung folgt dann unter Umständen die Bewerbung eines Beauty-Produkts. Unüblich sei das nicht, meint Martin Fuchs: "Ich nenne das ‘die Bude vollbekommen’, dass man mit unverfänglichen Themen die Community an sich bindet.”
Journalismus für junge Leute?
Bezogen auf die Bundestagswahl hält Martin Fuchs eine Mobilisierung der Jugendlichen für möglich. Studien in den Vereinigten Staaten hätten gezeigt, dass Kampagnen mit reichweitenstarken Profilen einen positiven Einfluss auf die Wahlbeteiligung gehabt hätten. "Objektiv sind die Aussagen der Influencerinnen und Influencer natürlich nicht, aber dafür weitestgehend neutral. Die bekannten Namen geben meist keine Wahlempfehlung.” YouTuber Rezo hingegen stellt sich in seinen Videos klar gegen CDU, CSU, SPD und AfD.
In Interviews werden die politischen Sinnfluencer und Sinnfluencerinnen als Journalisten behandelt. Die Kritik: Die Aufbereitung der politischen Inhalte werde nicht geprüft. Ein offizielles Kontrollgremium oder ein dem Pressekodex ähnliches Leitbild gibt es aktuell nicht. Im Gespräch mit dem Onlinemagazin Fachjournalist gibt Louisa Dellert zu verstehen, dass sie zwar Inhalte vermittle, aber keine entsprechende Ausbildung besitze: "Ich bin keine Journalistin, das habe ich auch nie von mir behauptet.” Das sei eine Rolle, die die Branche selbst ihr zugeteilt hätte. Sie versuche eine Brücke zu bauen zwischen ihrer Community und Themen, die sonst nicht dort ankommen würden.
Immerhin hat sie mit Blick auf ihre Inhalte zur anstehenden Bundestagswahl die eigene Verantwortung für ihre Community wahrgenommen. In einem ihrer Posts fragt sie die Medienanstalt Berlin-Brandenburg, worauf sie bei der Verbreitung ihres Wissens achten müsse. Hier wird sie auf die journalistische Sorgfaltspflicht verwiesen, die dann gelte, wenn Personen mit großer Reichweite Inhalte journalistisch-redaktionell gestalten.